Gegen ein Vorurteil unserer Zeit
Die Fabel von der Scheide und dem Messer. Eines Tages gerieten Scheide und Messer in Streit; das Messer sagte zur Scheide: „Scheide, mein Lieb, du bist eine Schelmin, denn Tag um Tag nimmst du neue Messer auf…“ Die Scheide antwortete dem Messer: „Messer, mein Freund, du bist ein Schelm, denn Tag um Tag wechselst du die Scheide…“ – „Scheide, du hast mir was anderes gelobt…“ – „Messer, du hast mich als erster betrogen…“ Dieser Streit war bei Tisch entbrannt; Scheidenfutter, das zwischen Scheide und Messer saß, nahm das Wort und sagte: „Du, Scheide, und du, Messer, ihr hattet beide recht zu wechseln, denn das Wechseln hat euch gefrommt; unrecht hattet ihr nur, als ihr euch geschworen habt, nie zu wechseln. Messer, sahst du nicht, daß Gott dich geschaffen hat, in viele Scheiden zu passen, und Dich, Scheide, mehr als ein Messer aufzunehmen? Ihr habt gewisse Messer töricht gescholten, die gelobten, ganz ohne Scheiden auszukommen, und gewisse Scheiden närrisch genannt, die gelobten, sich jedem Messer zu verschließen: aber eins wie das andere habt ihr nicht bedacht, daß ihr beinahe genauso töricht und närrisch wart, als ihr geschworen habt, du, Scheide, bei einem Messer, und du, Messer, bei einer Scheide zu bleiben.“
DENIS DIDEROT