1. Dialektik
Der junge Marx polemisiert viel gegen den Philosophen Hegel, aber diese Polemik richtet sich in ihrer Schärfe eigentlich gegen die Anhänger Hegels. Es ist immer besser, mit der Ursache zu streiten als mit der Wirkung. Im Grunde findet sich nämlich gerade in Marxens Frühschriften vieles von Hegel, von ihm hat Marx das Denken gelernt. Es dreht sich letztlich um die berühmte Dialektik, eine Form des Denkens in Widersprüchen. Der Widerspruch, so Hegels grundsätzliche Einsicht, gehört zur Sache selbst und die Widerlegung eines Gegenstandes oder auch nur einer Meinung über denselben besteht nicht darin, ihn oder sie einfach für falsch zu erklären und danach zu verwerfen wie man die Schlacke wegwirft, um nur das reine Metall zu behalten. Es handelt sich um Negationen des Gegenstands, die immer auch einen affirmativen Bezug zum Gegenstand haben, an dem sie sich betätigen. Es geht darum, die aus der wirklichen Widersprüchlichkeit der Sache folgenden negativen Aspekte derselben zu betonen und wirken zu lassen: Erst eine Position, etwa der den Reichtum genießende freie Bürger, der sich für den Menschen schlechthin hält und tatsächlich wenigstens den „Schein einer menschlichen Existenz“ besitzt. Dann die einfache oder abstrakte Negation, der Proletarier, der diesen Reichtum schafft, ohne ihn genießen zu dürfen, und der sich daher eben als das Gegenteil des Menschen erkennen muss, durch bloße Vergleichung seines Daseins mit dem des Bürgers. Der Bürger ist dadurch noch lange nicht verschwunden, er hört nicht einmal auf, den Menschen schlechthin vorzustellen. Im Gegenteil erkennen die Arbeiter nur in ihrem bürgerlichem Spiegelbild ihre eigene Nichtigkeit. Aber es kommt Widerspruch in die dem Bürger noch harmonisch scheinende Sache und damit Bewegung. Die Auflösung des Widerspruchs erheischt dann die Negation der Negation und so soll das Proletariat schließlich sowohl seine eigene Existenz als auch die seines bürgerlichen Zwillings beendigen, also „sich selbst und sein Gegenteil aufheben“ und zwar durch die Übernahme auch der Leitung der Produktion und Verteilung. In diesem Prozess löst sich dann die Existenz der Kapitalisten wie ihrer Diener auf und eine klassenlose und damit auch staatenlose Gesellschaft beginnt.
Diese Form der doppelten Negation findet sogar ein Beispiel in der Art, in der Marx Hegel adaptiert. Hegel war Idealist und sah das Geistige. Wenn etwa in den auf die bürgerliche Revolution Frankreichs folgenden Kriegen die neuen Grundsätze in Europa verbreitet wurden, sah Hegel zunächst den Heerführer Napoleon und auch ihn nur als Inkarnation der neuen Vernunft. Auf letztere kam es ihm an, sie ist Subjekt seiner Geschichte. Der Materialismus sieht dagegen die Armee, vielleicht das von ihr angerichtete Leid oder auch nur den Koch, der Napoleon die Suppe bereitet. Hegel hat für so etwas nichts übrig. Eine gute Suppe macht noch kein bürgerliches Gesetz. Aber irgendwer wird die Suppe auch kochen müssen und irgendwer hat sie immer auszulöffeln. Überall, wo der Idealismus den Vorrang des Geistes erkennt, erkennt der Materialismus den Vorrang der Natur. Beide Pole bleiben erhalten und werden auch von beiden Richtungen anerkannt, aber die Gewichtung wird durch den Materialismus anders gesetzt, Hegel vom Kopf auf die Füße gestellt. Man kann auf diese Weise viele Abende vertändeln, indem die eine Fraktion für den Geist, die andere für die Natur streitet. Position und abstrakte Negation. An der Sache ändert dies eigentlich wenig. Das war der Stand, nachdem der berühmte Materialist Feuerbach den Hegelschen Idealismus negiert hatte.
Dann kam Marx ins Spiel und negierte seinerseits diesen Gegensatz bei prinzipieller Sympathie für die Natur, die bekanntlich ihre Kreise schon lange zog, bevor es überhaupt Menschen gab. Es kam ihm letztlich auf das Verhältnis von Geist zu Natur an, denn letztere tritt uns schon lange in einer Form gegenüber, in der der Mensch als denkendes Wesen sie bereits bearbeitet, sich gemäß gemacht und aneignet hat. Die Praxis, die die Natur formt, ist dabei immer denkende, also zweckbestimmte Praxis, vom Pflug, der die Erde fruchtbarer macht, oder der Dreifelderwirtschaft, die den Boden daran hindert auszulaugen, bis zu den modernen Hochöfen der Eisenverarbeitung oder den komplizierten elektrischen Schaltkreisen der heutigen Computer. Und wie die Natur uns längst geistig vermittelt ist, so auch das Naturwesen Mensch. Das einfache Volk erscheint dem Materialismus als Natur und es wurde im Beispiel oben als solche genommen. Nur Napoleon schien uns einen Augenblick der bürgerliche Geist selbst zu sein. Das ist insofern auch richtig, als das Volk der Natur näher bleibt als die sublimen Herrscher mit ihrem immer irgendwie blauen Blut. Aber der moderne Arbeiter ist natürlich selbst bereits der Natur entronnen und durch und durch Produkt der kapitalistischen Verhältnisse.
Gerade durch die Betonung der denkenden Praxis und der mit ihr einhergehenden materiellen Umwälzungen kommt Marx dazu, wirklich die Geschichte zu studieren, also mit der Negation der Philosophie ernst zu machen und sich nicht nur abstrakt gegen sie zu stellen wie noch Feuerbach. Wenn Feuerbach in den Vorläufigen Thesen zur Reform der Philosophie schrieb, „die Hegel’sche Philosophie hat den Menschen sich selbst entfremdet“, so zeigt er sich selbst als Idealist, der die Welt nur verschieden interpretiert. Es kömmt aber seit Marx darauf an, diese Entfremdung aus der „Selbstzerrissenheit und dem Sich-selbst-widersprechen dieser weltlichen Grundlage“ zu erklären. „Diese selbst muß also erstens in ihrem Widerspruch verstanden und sodann durch Beseitigung des Widerspruchs praktisch revolutioniert werden.“ Dialektik ist bei Marx daher nicht weiterhin einfach ein Prozess des Denkens, sondern einer der gesellschaftlichen Praxis. Die Form der Gedanken ändert sich mit dieser Praxis; Fragen und Formulierungen, die eben noch den besten Sinn zu machen schienen und auch machten, werden unverständlich – sie sterben ab. Sie werden sinnlos, sobald die Gattung den Zusammenhang aufgelöst hat, innerhalb dessen sie einzig Sinn ergeben haben. Die Hegels Denken vorantreibende Negativität wird so zur praktischen Negativität.