4. Entfremdung
Schön und gut. Und doch, was ist mir diese Quintessenz von Staub? Ich habe keine Lust am Manne und am Weibe. Lassen wir die Marxische Anthropologie und gehen über zur entfremdeten Wirklichkeit. Zu den Eigenwilligkeiten der Epoche von Marx gehörte, dass es eine Wissenschaft gab, die sich auf der Metaebene mit der Wirtschaft beschäftigte, die Nationalökonomie. Deren insbesondere durch Smith und Ricardo erzeugten Ergebnisse konnte Marx bei seiner Darstellung der kapitalistischen Verhältnisse voraussetzen, an ihr arbeitete sich seine Kritik ab. So dreht sich bei Marx alles um die Arbeit, welche die Berechnungsgrundlage des ganzen Systems darstellt. Arbeit ist das den verschiedenen Produkten menschlicher Tätigkeit Gemeinsame, die Substanz, die dieselben überhaupt austauschbar macht. Aber Marx hat diese Arbeitswertlehre nicht erfunden, er findet sie bei Ricardo vor. Marxens Kapital erscheint so größtenteils einfach als eine vernünftigere Darlegung der Nationalökonomie, er versucht den Gegenstand besser zu begreifen als Ricardo oder Smith. Die Ökonomisch-philosophischen Manuskripte enthalten den ersten Marx’schen Versuch einer solchen immanenten Kritik der bürgerlichen Wirtschaft. Er bleibt hier bewusst auf dem Boden der Nationalökonomie und referiert in eigenen Worten die Nationalökonomen, und es ist nicht immer klar, was Marxens eigene Gedanken sind und was einfach Wiedergabe. Außerdem geht dieses Fragment gebliebene Werk in eine undurchgearbeitete und nur gelegentlich kommentierte Ansammlung von Zitaten und Exzerpten über. So zieht Marx aus der Lektüre Ricardos folgende Gedanken: „Die Nationen sind nur Ateliers der Produktion, der Mensch ist eine Maschine zum Konsumieren und Produzieren; das menschliche Leben ein Kapital; die ökonomischen Gesetze regieren blind die Welt. Für Ricardo sind die Menschen nichts, das Produkt alles.“ Das Ganze wird dann kommentiert mit: „Großer Fortschritt von Ricardo, Mill etc. gegen Smith und Say, das Dasein des Menschen als gleichgültig und sogar schädlich zu erklären.“ Es versteht sich, dass dieser Fortschritt nur einer innerhalb der theoretischen Nationalökonomie ist, indem sie die zynische Wirklichkeit auf ihren zynischen Begriff zu bringen beginnt. Darin besteht die Methode der Marxischen Kritik der politischen Ökonomie: Sie lässt die offiziellen Kategorien gelten und zeigt gerade dadurch die Unmenschlichkeit der Wirtschaftsform, der sie entspringen. „Wir sind ausgegangen von den Voraussetzungen der Nationalökonomie. Wir haben ihre Sprache und ihre Gesetze akzeptiert. Wir unterstellten das Privateigentum, die Trennung von Arbeit, Kapital und Erde, ebenso von Arbeitslohn, Profit des Kapitals und Grundrente wie die Teilung der Arbeit, die Konkurrenz, den Begriff des Tauschwertes etc. Aus der Nationalökonomie selbst, mit ihren eignen Worten, haben wir gezeigt, daß der Arbeiter zur Ware und zur elendesten Ware herabsinkt.“ Der lohnarbeitenden Klasse gehören die von ihnen erzeugten Güter nicht selbst, sie muss ihr eigenes Produkt zurückkaufen. „Der Gegenstand, den die Arbeit produziert, ihr Produkt, tritt ihr als ein fremdes Wesen, als eine von dem Produzenten unabhängige Macht gegenüber.“ Und um die Erzeugnisse seiner eigenen Arbeit zu kaufen, muss er seine Arbeitskraft verkaufen, „seine Arbeit ist nicht freiwillig, sondern gezwungen, Zwangsarbeit.“ Man leistet sie gegen Geld und sie geht einen ansonsten nichts an, des Menschen eigene Tätigkeit ist „nicht sein eigen, sondern eines andern“. Denn natürlich ist die Fremdheit des eigenen Produkts nur dadurch möglich, dass dasselbe einem anderen gehört. Und so sehr die Kapitalisten auch von den ihnen als Sachzwänge erscheinenden Marktgesetzen getrieben: „Nicht die Götter, nicht die Natur, nur der Mensch selbst kann diese fremde Macht über den Menschen sein.“
Insbesondere wird von Marx hier ausgesprochen, dass es nicht um ein Mehr oder Weniger geht. Das Problem der kapitalistischen Wirtschaft ist nicht, dass die Arbeiter zu wenig Lohn, zu wenig vom Gesamtprodukt bekommen, wenn sie auch unmittelbar von sogar existentieller Armut betroffen sein mögen. Das Problem ist, dass ihnen ihre eigene Produktion nicht gehört und sie daher nicht einmal die materielle Armut, die für viele beständig aufrechterhalten wird, abschaffen können. Die Entfremdung der Produzenten von ihrer eigenen Produktion ist wiederum, da Marx die produktiven Fähigkeiten des Menschen als seine Wesenskräfte ausspricht, Ursache für eine universelle und allseitige Entfremdung der Produzenten von sich selbst als Individuen beziehungsweise von ihrem „eigenen Leib“, von sich selbst als Gattung, von allen anderen Menschen und von der „äußeren Natur“. Man sieht, die Bourgeoisie – wie man die Klasse der herrschenden Bürokraten und Arschlöcher zu Marxens Zeiten noch vornehm genannt hat – trägt, indem sie die Verantwortung für die Produktion übernimmt, eine große Schuld und ängstigt sich zurecht vor der Rache der Unterdrückten, die sich allerdings im Fall der Fälle oft eher als zu zögerlich erweisen und glücklicherweise im Ganzen friedlicher gesonnen sind als eben die Bourgeoisie.