5. Kapital
Im Marx’schen Kapital wird die in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten angedeutete immanente Kritik der Nationalökonomie dann brillant durchgeführt. Vielen, die dieses Werk gelesen haben, ist gar nicht aufgefallen, dass es all den Formen und Kategorien, die dort einigermaßen stringent entfaltet werden, „auf der Stirn geschrieben steht, daß sie einer Gesellschaftsformation angehören, worin der Produktionsprozeß die Menschen, der Mensch noch nicht den Produktionsprozeß bemeistert“ und nehmen die Angelegenheit affirmativ auf. Man muss wenigstens die ersten Kapitel dieses Werkes selbst lesen. Die Arbeitswertlehre wird hier so weit getrieben, dass einem zurecht schwindelig werden sollte. Kritik durch Darstellung. Nicht genug, dass die Mehrarbeit zur Voraussetzung der notwendigen Arbeit gemacht wird, alles wird durch die Konkurrenz so gesteuert, dass die notwendige Arbeit streng nach gesellschaftlichem Durchschnitt geleistet werden muss; die einzelnen Arbeiter wie die einzelnen Unternehmungen, in denen sie von der Bourgeoisie eingespannt werden, wetteifern permanent darum, wer den Durchschnitt noch unterbietet. Eine Fabrik mag dabei nützliche Lebensmittel herstellen – wenn sie dem Stand der Produktivität nicht genügt, rentiert sich die Sache nicht und die Arbeit unterbleibt spätestens, wenn sich zeigt, dass sich das Kapital auf diese Weise nicht mehren kann. Länder höherer Produktivität hindern so Länder minderer Produktivität systematisch am Produzieren, bloß fehlt es letzteren dann auch an Geld, die billiger gefertigten Dinge einzuführen, so dass sie am Ende mit leeren Händen dastehen. Überhaupt wird nicht primär produziert, weil das Ergebnis irgendein Bedürfnis befriedigen soll, sondern wegen des Profits. Das Bedürfnis wiederum bleibt dabei immerhin – sofern es zahlungskräftig ist – notwendige Bedingung der Produktion: Um den Profit zu realisieren, muss das jeweilige Produkt menschlicher Arbeit verkauft werden.
Und was ist überhaupt dieses Kapital? Eine „sich selbst bewegende Substanz“, ein „übergreifendes Subjekt“. Die Arbeit bekommt im Kapitalismus nämlich ein eigenwilliges metaphysisches Dasein. Zunächst ist Kapital Geld, nämlich aufgespeicherte Arbeit. Einerseits die im letzten Zyklus der Kapitalakkumulation geleistete, vom Kapitalisten sich angeeignete ehemalige Arbeit, von Marx auch „tote Arbeit“ genannt, und andererseits dann wieder potentielle Verfügungsgewalt über zukünftige Arbeit. Das Kapital wechselt nämlich seine Gestalt, aus potentieller Energie wird Energie in actu. Wo Geld war, wird Ware, wird Maschine, Rohstoff und Arbeiter, wird Kommando über den Stoffwechselprozess von Mensch und Natur. Die vergangene Arbeit darf sich erneut betätigen und auf wundersame Weise dazu gleich noch etwas mehr davon oder wenigstens produktivere Arbeit: Sie vergegenständlicht sich wieder in einem neuen Produkt. Froh, diese kritische Phase durchlaufen zu haben, wird das Resultat dieser mannigfaltigen Bemühung verkauft, also wieder zu Geld gemacht. Die Arbeit ist nun wieder potentielle Arbeit, aber sofern die Sache gelaufen ist, wie sie allein laufen darf, gibt es nun mehr potentielle Arbeit als zuvor. Es wird eben bei Strafe des eigenen Untergangs akkumuliert. G – W – G’ ist die abstrakte Formel dieses geistlosen Spiels der Arbeit mit sich selbst. Die Arbeiter werden von diesem Prozess angewendet und auch die Kapitalisten nennt Marx Charaktermasken eben des Kapitals, dieser sich selbst bewegenden und seine Form wechselnden Substanz. Sie sind „Personifizierungen ökonomischer Kategorien“. Man hat sich darüber gewundert, dass Marx erklärtermaßen in den „Nebelbereich der Religion“ fliehen muss, um den Erdenmenschen wenigstens metaphorisch klar zu machen, was das für ulkige Zwänge sind, unter denen sie stehen. Und wenn es stimmt, dass die Arbeit den Affen zum Menschen macht, so degradiert diese Form der Arbeit den Menschen auf einen weit unter dem Affen anzusiedelnden Zustand, wenn man einmal von der Vivisektion absieht.
Also was ist nun das Kapital? Ein kleiner Exkurs für Philosophen, um die Sache näher zu erhellen. Der junge Marx hat Hegel vorgeworfen, ihm würden die konkreten Gegenstände und Verhältnisse der Welt zu blossen Momenten einer geistigen Substanz, des sich entfaltenden Begriffs. In seiner Denunziation des Hegelschen Begriffsfetischismus nimmt Marx einen trivialen Allgemeinbegriff und führt an diesem durch, wie Hegel sich die Selbstbewegung dieses Begriffs vorstelle: „Wenn ich mir aus den wirklichen Äpfeln, Birnen, Erdbeeren, Mandeln die allgemeine Vorstellung ‚Frucht‘ bilde, wenn ich weitergehe und mir einbilde, daß meine aus den wirklichen Früchten gewonnene abstrakte Vorstellung ‚die Frucht‘ ein außer mir existierendes Wesen, ja das wahre Wesen der Birne, des Apfel etc. sei, so erkläre ich – spekulativ ausgedrückt – ‚die Frucht‘ für die ‚Substanz‘ der Birne, des Apfels, der Mandel etc.“. Die schon von Feuerbach kritisierte Verkehrung zwischen Sein und Denken ist an einem Beispiel erläutert, an dem sie besonders unsinnig erscheint. Das Wesentliche der Dinge ist nach dieser ersten Operation nicht mehr ihr „wirkliches, sinnlich anschaubares Dasein“, nicht mehr, genau diese oder jene Frucht mit genau diesen oder jenen Eigenschaften zu sein. Sondern das wirkliche Wesen ist in ein ideelles Wesen verwandelt und dieses gilt als Substanz. Die „wirklichen Früchte gelten nur mehr als Scheinfrüchte“, sie sind Inkarnationen der Frucht. Der spekulative Philosoph stellt sich nun die Frage, wie der „Schein der Mannigfaltigkeit, der seiner spekulativen Anschauung von der Einheit so sinnfällig widerspricht“ in die Abstraktion wieder hineinkommt. „Das kommt daher, antwortet der spekulative Philosoph, weil ‚die Frucht‘ kein totes, unterschiedsloses, ruhendes, sondern ein lebendiges, sich in sich unterscheidendes, bewegtes Wesen ist.“ In der von Hegel kopierten Phraseologie kommt Marx sofort, nachdem er die Frucht in ein Subjekt verwandelt hat, zu Formulierungen, die er später in abgewandelter Form selbst benutzen wird, um den Kapitalbegriff zu formulieren: „Die verschiedenen profanen Früchte sind verschiedene Lebensäußerungen der ‚einen Frucht‘, sie sind Kristallisationen, welche ‚die Frucht‘ selbst bildet. Also z. B. in dem Apfel gibt sich ‚die Frucht‘ ein apfelhaftes, in der Birne ein birnenhaftes Dasein“. Die konkreten Früchte werden in Scheinfrüchte verwandelt, deren Wert „nicht mehr in ihren natürlichen Eigenschaften, sondern in ihrer spekulativen Eigenschaft liegt, wodurch sie eine bestimmte Stelle im Lebensprozesse ‚der absoluten Frucht‘“, dem „absoluten Subjekt“ einnehmen. „Diese Operationen“, so schließt Marx seine Darlegung der Hegel’schen Verfahrensweise, „nennt man in spekulativer Redeweise: die Substanz als Subjekt, als inneren Prozeß, als absolute Person begreifen, und dies Begreifen bildet den wesentlichen Charakter der Hegelschen Methode“.
Man kann von dieser Karikatur des Hegel’schen Denkens halten, was man will, beziehungsweise man muss natürlich sagen, dass Hegel bei all seiner eigenwilligen Ausdrucksweise nicht der Depp war, als den ihn der junge Marx darzustellen pflegte, – bemerkenswert bleibt jedenfalls, dass die wissenschaftliche Entfaltung der zentralen ökonomischen Kategorien unserer Gesellschaft Marx dazu zwingen, genau diese Formulierungen, so albern sie bei der Frucht klingen, auf die Arbeit anzuwenden, welche als Wert verdinglicht nun eben diese gespenstische Bewegung vollzieht und einmal als Geld, dann als Ware, dann auch mal als wirkliche Arbeit und dann als weiterverarbeitete, neue Ware und schließlich hoffentlich als mehr Geld erscheint. Es gilt der Energieerhaltungssatz der bürgerlichen Physik, mit dem perfiden Zusatz, dass der Mensch in ihn eingespannt wird und dabei beständig die Gesamtmenge der Energie vergrößert, indem er dem System nicht nur die Energie erhält, sondern noch mehr Arbeit hinzufügt. (Energie ist der selbst metaphysischen Physik der Name für die Bewegungs- oder auch Arbeitsmenge.) Die verschiedenen profanen Tätigkeiten, die unterschiedlichsten Dinge und Unternehmungen sind nur verschiedene Lebensäußerungen des ‚einen Kapitals‘, sie sind Kristallisationen, welche ‚das Kapital‘ selbst bildet. Also z. B. in der Schuhfabrik gibt sich ‚das Kapital‘ ein schuhhaftes, in der Fahrradfabrik ein fahrradhaftes Dasein. Die wirklichen Menschen sind auf diese Weise bloße Momente dieser Bewegung der als Subjekt fungierenden spekulativen Substanz Arbeit und ihr Wert liegt nicht mehr in ihren natürlichen Eigenschaften, sondern in ihrer spekulativen Eigenschaft, wodurch sie eine bestimmte Stelle im Lebensprozesse ‚des absoluten Kapitals‘ einnehmen. Sie werden zu Scheinmenschen.