9. Staat
Das Kapital kann ohne Staat nicht existieren. Zum einen garantiert derselbe die allgemeine Geschäftsgrundlage des Kapitals. Schon in jedem individuellen Tauschakt müssen, wie Marx eher beiläufig im zweiten Kapitel seines Kapitals erwähnt, die Tauschenden sich „wechselseitig als Privateigentümer anerkennen“ und dies nimmt „die Form des Vertrages“ an. Damit wird auch bereits der Staat vorausgesetzt, nämlich als Instanz, die über diese Verträge wacht. Die ökonomische Form ist unmittelbar auch ein politische Form. Zum anderen würde das Kapital auf sich selbst gestellt unsere Gattung vertilgen, würde unweigerlich zur „Verfaulung der Menschheit“ und zu einer „unaufhaltsamen Entvölkerung“ führen: „Après moi le déluge! (Nach mir die Sintflut!) ist der Wahlruf jedes Kapitalisten.“ Es sei denn, jemand zwingt das Kapital dazu, die Menschheit wenigstens nicht ganz zu vernichten. Insbesondere die Arbeiterbewegung hatte oft die Aufgabe, ebendiesen Zwang einzufordern und ihr Adressat ist naturgemäß der Staat. Der Witz ist nun, dass dieser Zwang nicht nur die Kapitalisten betrifft, sondern auch die Arbeiter. Etwa die Beschränkung des Arbeitstags oder der staatlich festgelegte Mindestlohn muss auch gegen diejenigen Arbeiter durchgesetzt werden, die als Individuen sich eventuell auch eine schlechtere Behandlung gefallen ließen, etwa wenn ihnen sonst noch größere Armut drohen würde. „Zum ‚Schutz‘ gegen die Schlange ihrer Qualen müssen die Arbeiter die Köpfe zusammenrotten und als Klasse ein Staatsgesetz erzwingen, ein übermächtiges gesellschaftliches Hindernis, das sie selbst verhindert, durch freiwilligen Kontrakt mit dem Kapital sich und ihr Geschlecht in Tod und Sklaverei zu verkaufen.“ Viele gesellschaftlich notwendige Tätigkeiten kommen ohne Staat nicht aus, gerade weil das Kapital an solchen Sachen kein besonderes Interesse hat. Feuerwehr, allgemeine Gesundheitsversorgung oder die Verwahrung von Alten und Verrückten: Ohne Staat ginge das alles nicht, die Einzelnen müssen auch hier die Schlange ihrer Qualen dadurch lindern, dass sie sich zu einer Steuer zwingen lassen oder zwangsweise in Versicherungen einzahlen, so dass Fonds für gewisse allgemeine Bedürfnisse entstehen. Der Staat erscheint so als über der Gesellschaft schwebendes Allgemeines, der seinerseits eine Menge Arbeit kommandiert, sich um Ausbildung des Menschenmaterials kümmert, Handels-, Wirtschafts- und Finanzpolitik betreibt, Infrastruktur bereitstellt, die Grenzen und die innere Ordnung genauso schützt wie die Handelsrouten und die Rohstoffversorgung etc. Er macht dies alles allerdings nicht per se durch eine Staatswirtschaft, sondern überlässt das Einzelne nach Möglichkeit wieder freien Unternehmen, die allerdings stark mit dem Staat verzahnt sind oder mindestens von ihm vollständig finanziell abhängen. Diese von der Gesellschaft getrennte Allgemeinheit hat letztlich den Grund, dass der bornierte individuelle Konsum, der das Prinzip der Lohnarbeit bleibt, von sich aus eben keine Kollektivität erzeugt, vielmehr der Staat gehörig nachhelfen muss.
Im Kapital von Marx fehlt eine ausführliche Behandlung des Staates, aber immerhin hat er sich über diese Seltsamkeit einer über der Gesellschaft schwebenden Institution, der Verdopplung von Gesellschaft in Gesellschaft und Staat, in seiner frühen Streitschrift Zur „Judenfrage“ ausführlicher geäußert. Die bürgerliche Gesellschaft und die durch sie bedingte Trennung der Individuen entfremdet dieselben von ihrem eigenen Gattungsleben. Wir sahen dies bereits im gesellschaftlichen Arbeitsprozess, den die Arbeiter nicht leiten, dessen Zwecke sie schon gar nicht bestimmen und der sich tatsächlich durch die Not des Kapitals bestimmt, Profit abzuwerfen. Weiter ergibt sich aber auch, dass das Gattungsleben getrennt von der bürgerlichen Privatwirtschaft noch einmal als Staat erscheint. „Über den besonderen Elementen konstituiert sich der Staat als Allgemeinheit“, das Besondere, also die einzelnen Unternehmungen können aus sich heraus das Gattungsleben nicht erhalten, indem sie die Gesellschaft fortwährend untergraben, die sie gleichzeitig erst stiften. Das Besondere bestimmt sich in dieser Gesellschaft gerade unter Abstraktion des allgemeinen Interesses, hinter dem Rücken der Akteure. Der Bürger führt daher ein „doppeltes Leben“: In der Sphäre der Produktion, „worin er als Privatmensch tätig ist“ betrachtet der Bourgeois „die anderen Menschen als Mittel“, während der Arbeiter „sich selbst zum Mittel herabwürdigt“. Beide werden dabei „zum Spielball fremder Mächte“. Erst als Staatsbürger, also im Staat, gilt der Mensch als Gattungswesen. Der Staat ist aber „seinem Wesen nach das Gattungsleben des Menschen im Gegensatz zu seinem materiellen Leben.“
Indem nun die Gesellschaft unmittelbar die Kontrolle ihrer Produktion in die Hand nimmt, wird auch der Staat überflüssig, da das Besondere, die Individuen, nun nicht mehr im Gegensatz zur allgemeinen Entwicklung stehen, sich vielmehr selbstbewusst als Teil derselben wissen, sie selbst hervorbringen und sich in ihr erkennen. Insbesondere brauchen die vereinzelten Produzenten im Staat keine Gewalt mehr zu konzentrieren, die die durch das kapitalistische Prinzip Vereinzelten, die „abstrakten Individuen“, im Zweifel zu ihrem Glück zwingt oder schnöde die Ordnung des Kapitals gegen sie aufrechterhält. „Erst wenn der wirkliche Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich zurücknimmt und als individueller Mensch in seinem empirischen Leben, in seiner individuellen Arbeit, in seinen individuellen Verhältnissen Gattungswesen geworden ist, erst wenn der Mensch seine ‚force propres‘ als gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisiert hat und daher die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in der Gestalt der politischen Kraft von sich trennt, erst dann ist die menschliche Emanzipation vollbracht.“ Es macht dafür keinen Unterschied, wenn man annimmt, dass die Revolution als erste Maßnahmen der Umorganisation staatsähnliche Institutionen hervorrufen wird, sei es, um eine gewisse Ordnung aufrechtzuerhalten, die Reaktion zu unterdrücken oder erste grobe Schritte der vernünftigen Produktion anzuleiten, etwa die Verteilung von Medizin und Nahrung. Ziel dieser Bewegung ist schlussendlich das Absterben auch dieses Pseudostaates, die Integration seiner Aufgaben in den allgemeinen gesellschaftlichen Prozess, sofern sie überhaupt noch einen Sinn haben. Seine Organisation wird diese Tendenz zum Absterben von Anfang an in sich tragen müssen, oder die Sache scheitert von neuem, da die Einzelnen sich statt dem Kapital und dem bürgerlichen Staat nunmehr einem autoritären Staat ausliefern.
Wie die bürgerliche Gesellschaft unfähig ist, aus sich selbst heraus ein vernünftiges Allgemeines hervorzubringen und statt dessen ein gewaltiges Ungeheuer gebiert, den Staat, kann sie durch die sie begründende Isolation ihrer Mitglieder auch kein wirkliches Band zwischen auch nur zwei Individuen stiften. Gerade weil das Kapital alles Heilige verdampft und nichts als die nackte Zahlung zwischen den Individuen übriglässt, braucht es weiter die heilige Familie als Form, dieses Band dennoch zu erzeugen, da die Vereinzelten sonst kaum überleben würde. Inmitten des Krieges aller gegen aller ein scheinbar von der Welt getrennter Raum individueller wie familiärer Zuneigung, ergänzt durch einige Freund- und Bekanntschaften, während einen der Rest ansonsten wenig schert. Indem nun diese Einzelnen nicht nur gemeinsam ihre Produktion vernünftig regeln lernen, sondern auch ihren Konsum, fällt die Grundlage dieses bornierten Liebesindividualismus weg. Marx spricht von der „Errichtung der gemeinsamen Hauswirtschaft“. Das ist die andere Seite der Aufhebung des Staates: die Aufhebung der Familie und als Resultat die freie Assoziation ohne Zentrum und Anker. Wie sich diese Gesellschaft genau gliedert und welche kollektiven wie individuellen Leidenschaften sie sich gönnt, stellt sich dann heraus. „Punktum.“ (Engels)