11. Pariser Kommune
Dann kam der große Revolutionsversuch der Pariser Kommune 1871. Der älter gewordene Marx gerät außer sich und verklärt die schüchternen Koalitionsversuche dieser Kommune zur „Regierung der Arbeiterklasse“ und wenn es realiter doch etwas heterogener war, so sei sie immerhin im Wesentlichen eine solche Regierung gewesen. Es handle sich um nichts weniger, als um „die endlich entdeckte politische Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen konnte.“ Hier haben wir die Idee, dass die Arbeiterklasse bzw. einige ihrer Vertreter und Vorkämpfer die politische Macht übernehmen und dann per Dekret die Wirtschaft umorganisieren. „Die Kommune soll daher als Hebel dienen, um die ökonomischen Grundlagen umzustürzen, auf denen der Bestand der Klassen und damit der Klassenherrschaft ruht.“ Das neue nunmehr proletarische Staatswesen solle näher „die Produktionsmittel, den Erdboden und das Kapital in bloße Werkzeuge der freien und assoziierten Arbeit verwandeln.“ Hier findet sich eine zeittypische Ungenauigkeit der Bestimmung. Die Produkte und die allgemeine Bewegung der Produktion oder Aneignung der Natur sollten gerade nicht mehr als Kapital erscheinen, das Kapital kann kein Werkzeug einer vernünftigen Entwicklung sein, man braucht die Banken nicht enteignen, muss vielmehr unmittelbar zu neuen Methoden der Planung übergehen. Ein knappes Jahrhundert realsozialistischer Staatswirtschaft konnte sich auf solche Ungenauigkeit stützen und so gab es in der Deutschen Demokratischen Republik sogar Zins und Zinseszins. Diese Ungenauigkeiten kommen auch daher, dass Marx dem von Hegel stammenden Dogma anhing, die neue Gesellschaft müsse irgendwie schon in der alten Gesellschaft enthalten sein. Die Arbeiterklasse, wer das auch immer sein soll, habe „keine Ideale zu verwirklichen; sie hat nur die Elemente der neuen Gesellschaft in Freiheit zu setzen, die sich bereits im Schoß der zusammenbrechenden Bourgeoisiegesellschaft entwickelt haben“. Dies stimmte für die Bourgeoisie so einigermaßen, als diese Klasse ihre wirtschaftliche Herrschaft schon im Feudalismus herausbildete und am Ende nur noch die politischen und rechtlichen Verhältnisse derselben anzupassen hatte, etwas, was sogar eine Monarchie bewerkstelligen konnte. Das gilt aber nicht für die Abschaffung der Bourgeoisieherrschaft, da man hierbei zu vollständig neuen Formen der Arbeit, der Planung, der Verteilung und überhaupt des gesellschaftlichen Zusammenlebens kommen muss. Man soll dabei nicht so tun, als ob „jene höhere Lebensform“ in irgendeiner Form „der gegenwärtigen Gesellschaft“ innewohne und dieselbe der Befreiung unserer Gattung irgendwie „durch ihre eigene ökonomische Entwicklung unwiderstehlich entgegenstrebt.“
Dies alles gesagt, muss man aber auch beachten, dass Marx hier Schwierigkeiten der Sache anspricht. Angenommen die Produzenten würden die Leitung ihrer Fabriken übernehmen, sie genossenschaftlich betreiben, müssten sie ihre Produktion sofort mit allerlei anderen Produzenten absprechen. Sie machen das natürlich schon jetzt, aber vermitteln sich eben allseitig mit diesem Geld, ziehen daraus die Berechtigung der Zulieferung und Zuarbeit. Diese müssen nun freiwillig und geplant geschehen. Die politische Machtübernahme dient Marx dabei als Hebel solcher neuen, durchaus föderal denkbaren Assoziationsbemühungen. Wenn aber die genossenschaftlichen Betriebe nicht ihrerseits ihre Produkte auf einem Markt mehr oder weniger zufällig tauschen sollen, wenn „die genossenschaftliche Produktion nicht eitel Schein und Schwindel bleiben, wenn sie das kapitalistische System verdrängen, wenn die Gesamtheit der Genossenschaften die Produktion nach einem gemeinsamen Plan regeln, sie damit unter ihre eigene Leitung nehmen soll“, braucht es auch zentrale Momente der Planung und diverse Mechanismen überhaupt zu entscheiden, was getan werden soll. Viele der gegenwärtigen Unternehmen sind schlicht überflüssig, andere Unternehmungen werden plausibel. Die neuen Formen der Gesellschaft sind dabei nach Marx eben „keine fix und fertigen Utopien“, die nach der politischen Machtergreifung „durch Volksbeschluß einzuführen“ wären. Wir hätten vielmehr „lange Kämpfe, eine ganze Reihe geschichtlicher Prozesse durchzumachen, durch welche die Menschen wie die Umstände gänzlich umgewandelt werden.“ Es scheint, dass man einem solchen Prozess am besten dadurch die richtige Richtung gibt, dass man konsequent die falschen ökonomischen Formen (Warentausch, Geld, Lohn, Profit etc.) benennt, in denen der zukünftige Prozess nicht verlaufen soll. Es sind diese falschen Formen, die uns auf die schiefe Bahn gebracht haben und nicht etwa die mehr oder weniger individuelle Entscheidungsunfähigkeit oder das mehr oder weniger individuelle Machtstreben Einzelner. Viele Kommunisten beziehen sich auf eine ominöse Räteherrschaft in der die Entscheidungen möglichst kollektiv und egalitär von allerlei politischen Körperschaften getätigt werden sollen, die ihrerseits aus Delegierten bestehen können oder Delegierte in andere Versammlungen entsenden. So trivial es ist, dass man sich gelegentlich versammeln und überhaupt viel kommunizieren muss, um irgendetwas zu planen und dann umzusetzen, so tut diese Sichtweise so, als ob mangelnde demokratische Partizipation und nicht die durch die ökonomischen Formen bedingten falschen Entscheidungsgrundlagen Ursache für den schlechten Zustand unserer Welt wären. Es spricht ein tiefes Misstrauen in die Individuen unserer Gattung aus dieser Vorstellung und daher wurde auch besonders viel Aufhebens darum gemacht, dass diese Delegierten jederzeit rückrufbar wären. Eine große Angst vor der Korrumpierbarkeit des Menschen, obwohl eben die Korrumpierbarkeit falsche Formen voraussetzt, von denen man korrumpierbar wäre. Marx schert sich um solche rätedemokratischen Illusionen noch nicht und vertraut eher darauf, dass man unter vernünftigen Bedingungen auch vernünftige Entscheidungen trifft: „Es ist bekannt genug, daß Gesellschaften ebensogut wie einzelne, in wirklichen Geschäftssachen gewöhnlich den rechten Mann zu finden, und falls sie sich einmal täuschen, dies bald wieder gutzumachen wissen.“ Das gewaltige Unbehagen, das heutige Entscheidungsstrukturen hervorrufen liegt ja weniger daran, dass diese nicht demokratisch sind, dass man von ihnen ausgeschlossen wäre, als dass dieselben grundsätzlich innerhalb falscher Prinzipien stattfinden, etwa diesem, dem Profit dienen zu müssen. Es kann dagegen durchaus befriedigend sein, sich in einen beliebigen Arbeitsprozess schlicht einzugliedern, wenn nur irgendwer denselben vernünftig gestaltet hat und der gesellschaftliche Sinn der möglicherweise sogar harten Arbeit unmittelbar einsehbar ist. Im Gegenteil führt die zu Ende gedachte Räteideologie einfach zu einem neuen bürokratischen Apparat neben der eigentlichen Produktion. Am Ende wissen die Produzenten unmittelbar selbst am besten, wem sie ihre Produkte zu Verfügung stellen wollen und müssen dafür keine Direktiven irgendeiner zentralen Planungskommission entgegennehmen. Und ebenso werden dieselben Produzenten auch wissen, wann sie sich eben doch zentral absprechen und organisieren und welche Körperschaften sie dafür ins Leben rufen oder kontaktieren müssen. Ein Stahlwerk wird sicher Kontakt zu sämtlichen Stahlwerken unterhalten, dazu mit den Werken, die ihnen das Werkzeug und die Maschinerie erstellen, dem Transportwesen etc. Ferner werden sie Büros unterhalten, an die man sich wenden kann, sollte man Stahl benötigen. Und all diese Kontakte vorausgesetzt werden sie auch gut entscheiden können, welchen Weltregionen, welchen Städten man am besten den fertigen Stahl liefert, welche Vorhaben zum gegebenen Augenblick nützlich sind, wie eine immer mögliche Knappheit zu verwalten ist, wie die Kapazitäten aufzustocken oder herunterzufahren sind. Natürlich ist es dann immer noch „die Gesellschaft“, die plant, verteilt und arbeitet, aber eben nicht eine neuerliche Abstraktion von den einzelnen Menschen und Menschengruppen, sondern die konkrete Gesellschaft in all ihren Arterien. Sie wird ihren jeweiligen Stoffwechselprozess schlicht gemäß den je unterschiedlichen Nöten der unterschiedlichen Bereiche der Produktion organisieren und gemäß der gesellschaftlichen wie individuellen Bedürfnisse. Sind die gesellschaftlichen Formen einmal vernünftig, man braucht gegen die Vernunft der einzelnen kein allzu großes Mißtrauen hegen.