Naive Randbemerkungen zu großteils vergangenem Geschehen
Bernd Volkert
Am 5. Dezember 2018 fand im Laidak eine Veranstaltung zum 150. Jubiläum der Veröffentlichung des Marx’schen „Kapitals“ statt. Wir dokumentieren den dort gehaltenen Vortrag von Bernd Volkert nebst einem kleinen Kommentar von Josef Swoboda.
Die Epoche der sogenannten Aufklärung ist eine ganz besondere in der Geschichte der Menschen. Nennen wir sie die Epoche der Selbstermächtigung des Menschen. Einer ihrer Aspekte ist, daß sie sich – über die Zeit zunehmend – als gänzlich verschieden von allen vorhergehenden Formationen menschlichen Zusammenlebens begriffen hat, verschieden immer in dem Sinne, daß sie besser sei, als was der Mensch bisher gekannt habe, vor allem, weil nun erstmalig der Mensch sich und die ihn umgebende und ausmachende Natur vernünftig kennen beziehungsweise kennenlernen würde. Dies war dabei immer verbunden mit der Überzeugung, daß nun auch die Herrschaft des Menschen über den Menschen ende. Stattdessen würde fürderhin Vernunft herrschen. Daß dies in der Wirklichkeit offenbar auf einige Widerstände sowie Widersprüche stieß, läßt sich exemplarisch an Robespierres Ära zeigen – mit ihrer Gleichzeitigkeit der zum Behufe der praktischen Beförderung der Vernunft ausgeführten Exekutionen sowie der Inszenierung von pseudoreligiösen Umzügen in den Straßen von Paris zur Huldigung des Kults der Vernunft.
Nun gab es zwar immer schon Stimmen, die sich hinsichtlich dieser neuen Epoche skeptisch zeigten, vor allem, was ihren Fortschritt zum bisherigen Weltenlauf betraf, doch konnten sich diese nicht wesentlich Gehör verschaffen und wurden meist mit gänzlich neu ins Deutungsspiel gebrachten Begriffen wie reaktionär oder konservativ abgetan. Selbst so zurückhaltende Kritiker der Französischen Revolution wie Edmund Burke, der als bekennender Anhänger der Englischen Revolution einige sehr praktische Hinweise zum besserem Gelingen der von 1789 folgende machen wollte, galt von da an als Begründer des modernen Konservatismus und als einer der Köpfe der Gegenaufklärung. Eine gewisse, recht maßvolle Selbstkritik der Vernunft sollte es erst sehr viel später geben, als allerlei Großmassaker praktisch Zweifel aufgaben, ob man den welthistorischen Sprung in die schöne, neue Welt wirklich schon geschafft habe oder nicht in erweitertem Maßstab die ganze alte Malaise einfach fortsetzte. Bis es soweit kommen sollte, versetzte sich die nun auch sich so nennende Menschheit in diverse rauschhafte Zustände, zum einen in allerlei Köpfen, zum anderen in rein praktischer Hinsicht, indem man durch eskalierende Anwendung einer in der Realität instrumentellen Vernunft die innere wie die äußere Natur auf dem Planeten gewaltig und gewaltsam umgestaltete – dies nun tatsächlich in einem Maßstab, den die Geschichte noch nie gesehen hatte.
In dieselbe Linie gehört nun natürlich auch der Marxismus und ebenso der sogenannte Sozialismus, allerdings auf erweiterter Stufenleiter: Auch in diesen Bewegungen war von Selbstreflexion über die ‚neue Zeit‘ nicht zu reden, ganz im Gegenteil: Statt das ganze Megaprojekt Aufklärung noch einmal grundsätzlich zu begutachten, behauptete man, daß es noch lange nicht weit genug ausgeführt worden sei. Und kam nach und nach in die Position, dies auch in die Tat umzusetzen. Die schrecklichen und eindrucksvollen, weiterhin sehr widersprüchlichen Ergebnisse konnte man im Realsozialismus betrachten und kann sie auch heute noch in einer Variante zum Beispiel in China studieren. Der Verein freier Menschen jedenfalls war und ist nicht das Resultat. Seitenphänomene wie die einstmals kritisch genannte Theorie kümmern sich bis heute noch um die Lösung dieses sie verwirrenden Rätsels.
Was soll das nun bedeuten hinsichtlich der Person von Karl Marx und auch hinsichtlich seiner Schriften wie ‚Das Kapital‘? Nun, zunächst der Hinweis, daß Marx in aller Regel, vor allem von seinen Anhängern selbstverständlich als Mann der Aufklärung begriffen worden ist, der „Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus“, wie schon Engels ihm huldigte. Sogar als der Aufklärer schlechthin, der als oft sogenannter letzter Systemdenker das Systemdenken abschaffen sollte, indem – na ja, indem er den Weg zur Systempraxis eröffnete – auch hier gänzlich Teil der Aufklärung, die immer schon so getan hatte, als ob das Systemdenken hinsichtlich den Menschen betreffender Belange die natürliche Herangehensweise sei. Dabei ist ein derartiges Denken in Systemen gänzlich eine Erfindung der Zeit der Aufklärung selbst, historisch also eher ein Augenzwinkern, spätestens seit Nietzsche auch abgelöst von dem bis heute bei sich kritisch nennenden Geistern beliebten Denken mittels Aphorismen. Der alte Schwung ist hin.
Die Praxisbemühungen jedoch der Karl Marx und Verwandtem Zugeneigten bleiben unverändert der Tendenz nach solche des Systems, des Großen und Ganzen, der Menschheit. Think big, drunter geht bis heute kaum was, wenn auch gerne mittlerweile ins Negative, in die Negation gewendet, bestimmte oder nicht. Dies geht durchaus auch auf Marx zurück, der allerdings zunächst unter ganz anderen Voraussetzungen agierte. Zwar war er einer derjenigen, die mit Emphase feststellten, daß es in der modernen Gesellschaft allein schon durch ökonomische Kräfte einen quasi unwiderstehlichen Zug ins Große, ins Universelle gab. Bei ihm jedoch auch – so hier die Behauptung – schon mit einiger Skepsis betrachtet. Mir scheint es nicht übertrieben, Marx – meinetwegen gegen seine eigenen Vorstellungen – zu unterstellen, daß er im Grunde, zu einer dafür passenderen Zeit, schon ein Repräsentant der, sagen wir mal, Benjaminschen Notbremsentheorie war, also, daß es den welthistorischen Umschwung zu dem Verein freier Menschen geben müsse, bevor sich die in der Industrie im 19. Jahrhundert ansammelnden Kräfte voll, das heißt auch in ihrer vollen Destruktivität entfalten können. Daher seine gerne zitierten und ein wenig weltfremd gescholtenen Äußerungen, daß es dem Menschen in der kommunistischen Gesellschaft möglich sein soll, „heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden.“ Daher auch die Skurrilität, daß er 1848 mit dem kommunistischen Manifest in Deutschland eine Schrift herausgibt, die nicht auffordert, sondern eher feststellt, daß es ja eine klare Sache sei, daß die bürgerliche Revolution in diesem Land unmittelbar von einer proletarischen, kommunistischen gefolgt werden würde. In der Realität natürlich Pustekuchen, nicht mal die bürgerliche hat es dann überhaupt aus den Startlöchern geschafft. Und Marx selbst zog sich dann ja auch, wie Engels schreibt, von der politischen Agitation zurück und widmete sich erstmal zehn Jahre der Durchforschung der Bibliothek des Britischen Museums.
Mir ist das Manifest ein wohl eher unbewußter Appell, gerichtet nicht an Proletarier, sondern als eine Art Warnschuß an Marxens Mitbürger, dem Fortschritt – technischem wie anderem – sicherheitshalber erstmal ein paar Hemmschuhe anzuziehen, bevor Fakten geschaffen worden sind, die möglicherweise nicht mehr rückgängig gemacht werden können und die Menschen auf eine fatale Bahn bringen werden. Ganz im Geiste, der später gar bei Walter Ulbricht nochmal aufscheint, als er viel belächelt die Parole ausgab: „Überholen ohne einzuholen“: „Wir wollen dem gegenwärtigen Welthöchststand nicht auf bereits mehr oder weniger bekannten Wegen nacheilen, um ihn zu erreichen. Vielmehr wollen wir, gewissermaßen an ihm vorbei, völlig neue Wirk- und Arbeitsprinzipien, neue Technologien erkunden und praktisch beherrschen und auf diese Weise einen neuen Höchststand bestimmen.“ Natürlich muß Ulbricht auch ein wenig Aufklärungshybris ins Zitat rutschen, wenn er vom ‚Welthöchststand‘ spricht, dennoch scheint bei ihm stark durch, daß er ahnt, irgendwas ist wohl grundsätzlich falsch gelaufen und tut es immer noch.
Jedenfalls: Das Manifest nicht als revolutionäre Schrift – wie denn auch das, in einem Land, in dem es zwar Fron- und andere Bauern gab, Vasallen, im östlichen Preußen noch Relikte von Sklavengesellschaft, ein paar Bürger, überschaubare Städtchen, Manufakturen, ja, Fabriken kaum, ebenso rar: Proletarier. Und zudem, gerne übersehen: Nicht einmal eine Nation, sondern nur eine antagonistische Kleinstaatenansammlung. Der Idee nach hätte also eine Revolution – nach dem verwendeten Geschichtsmodell – in Windeseile und quasi auf einmal Schritte vollziehen sollen, die anderswo, wenn überhaupt, Jahrhunderte gebraucht haben. Das erzählt mir niemand. Entweder der Typ war kompletter Fantast, was ich nicht glaube, oder es ist eben eine eher taktisch gemeinte Schrift.
Dazu paßt ja auch, daß Gleiches aus der Hand von Marx auch nicht mehr verfaßt worden ist. Auffälligerweise auch nicht in Zeiten, in denen es formell nicht nur besser, sondern überhaupt erst gepaßt hätte, beispielsweise als mit der Reichsgründung auf einmal doch die Industrialisierung in Deutschland rasant in Gang kam – und in der Folge allerlei, jedoch nicht die von Marx angekündigte Selbstaufhebung des Proletariats mit sich gebracht hat. Ein Bismarck reichte dafür. Nachdem also der Versuch der Revolution in Deutschland 1848 sowohl im Ganzen als auch für Marx faktisch in vielerlei Hinsicht ein Desaster war, zog sich Marx, wie angedeutet, in der Hauptsache zurück, um ein ganz neuartiges Großprojekt anzugehen: ‚Das Kapital‘ in, er wußte selbst nicht, wieviel Bänden, von denen mit Müh’ und Not einer fertig geworden beziehungsweise an einem Punkt als fertig erklärt worden ist. ‚Das Kapital‘ mag alles mögliche sein, eine revolutionäre Schrift ist es jedenfalls nicht. Eine ökonomische im strengen Sinn übrigens auch nicht. Das wußten auch die realsozialistischen Staaten, die viel rumprobiert und gewurschtelt haben, aber keinesfalls den Versuch unternehmen wollten, ihre Volkswirtschaften mithilfe des Kapitals zu organisieren. Das ist vielleicht auch der Hauptvorzug des ‚Kapitals‘, daß Marx eben nicht der bessere Ökonom im Vergleich zu Smith und Co. ist, sondern dank der Perspektive, die er einnimmt, und zwar die der ‚Kritik der politischen Ökonomie‘, wie ja der Untertitel unmißverständlich ausdrückt, zeigt, daß auch die Herrschaft des Kapitals keine natürliche, sondern durch allerlei Hokuspokus und Zwangsgewalt von den Menschen selbst herbeigezauberte ist.
Was ist ‚Das Kapital‘ sonst noch? Empirisch kann man wohl festhalten: eines der meistgedruckten Bücher der Weltgeschichte und gleichzeitig im Verhältnis wohl eines der am wenigsten gelesenen. Selbst Adorno und Co. haben sich, genau betrachtet, außer daß sie die Frühschriften von Marx mit Staunen für sich entdeckt haben, beim ‚Kapital‘ hauptsächlich mit dem sogenannten Fetischkapitel begnügt und dies für ihre Zwecke angewandt, ausgeschlachtet und erweitert. Desweiteren diente – und dies scheint mir ohnehin ein Hauptaspekt all dieser Revolutionen seit der bürgerlichen Moderne zu sein – ‚Das Kapital‘ in West wie Ost zur quasi grenzenlosen Arbeitsbeschaffung für die für andere Anwendungen schwer nur in Gebrauch zu setzende Schicht der Intellektuellen, die in aller Regel auch die Hauptträger all dieser sich emanzipatorisch nennenden Machtumstürze und Putsche waren. Bei Marx, im Manifest, war es immerhin noch so bescheiden dargestellt, daß die Befreiung (und Abschaffung) der Arbeiterklasse selbstverständlich die Sache der Arbeiter selbst zu sein habe – die Intellektuellen, in diesem Fall genannt: die kommunistische Partei, sollten allerhöchstens im Zweifelsfall den Proletariern beratend zur Seite stehen. Auch hier ein erhebliches Potential an Arroganz, aber immerhin verbal eine klare Rangfolge, die im weiteren Verlauf der Geschichte sich allerdings genau umgekehrt hat.
Wenn aus dem Ganzen etwas zu lernen sein sollte, dann vielleicht vor allen Dingen, daß es im Großen und Ganzen, daß das Große und Ganze vorbei ist. Und wenn dies heißen sollte, daß die Anmaßung, die ganze Menschheit und zwar am besten auf einmal befreien zu wollen, ad acta gelegt worden ist, dann scheint mir das eine gute Sache. Wer sich dennoch um solche Angelegenheiten künftig kümmern will, der ist wohl – zu seinem und zu seines Nächsten Vorteil – angeraten, mit dem Backen von kleinen Brötchen zu beginnen oder auch realiter sich solch materiezugewandten Tätigkeiten zu widmen. Ob dazu das Lesen des ‚Kapitals‘ zwingend gehören soll, wäre ich mir nicht ganz sicher. Schaden kann’s vielleicht nicht, ein wenig darüber zu lernen, was die Welt auch im Moment im Innersten zusammenhält oder treibt. Der große Emanzipations-Kladderadatsch, wenn er denn irgendwann einmal kömmen sollte, wird aber wohl eher von in dieser Hinsicht Illiteraten herbeigeführt werden, wäre mein Tip. So lang geht die Vorgeschichte weiter, in der Mensch über Mensch herrscht, in immer neuen Varianten. Daß es diese – die Vorgeschichte – gibt und zwar seit Menschengedenken, kann man immerhin im Prinzip bei Marx ganz gut lernen. Wie man sie beendet, aus ihr heraustritt, offenbar nicht so gut. Daß auch andere Versuche in dieser Hinsicht den Karren mitsamt seinen freiwilligen und unfreiwilligen Insassen an die Wand gefahren haben, sollte revolutionären Überschwang mäßigen. Aber damit wären wir wieder beim anfänglichen Thema der Größenvorstellung der Aufklärung bei ihren Projekten.
Bernd Volkert