Not bored:
Die Gesellschaft des virtuellen Spektakels (Teil vier)
„Es stimmt, ich hätte Euch angenehmere Dinge als diese melden können, aber sicherlich keine von mehr Nutzen, sofern Ihr danach strebt, die wirkliche Lage der Dinge zu kennen, bevor Ihr Maßnahmen ergreift. Zudem weiß ich, daß es Eure Art ist, immer die beste Seite der Dinge hören zu wollen, um schließlich dem Berichterstatter die Schuld zu geben, wenn die Wirklichkeit den Erwartungen, die dieser in Eurem Kopf geweckt hat, nicht entspricht. Aus diesen Gründen hielt ich es für angeraten, Euch die Wahrheit zu sagen.“ – Thukydides
Konzentrieren wir uns nun auf praktische oder besser: organisatorische Dinge. Revolutionäre müssen sich zusammenschließen – das Spektakel beruht auf Isolierung und Trennung. Jeder Revolutionär braucht die Unterstützung, Ermutigung, Inspiration und Freundschaft, die nur andere Revolutionäre geben können. Aber diese Zusammenschlüsse müssen selbst revolutionär sein, und das bedeutet, sie müssen sich aus Gleichen zusammensetzen und sie dürfen in ihrem Inneren die Bedingungen, die im Spektakel herrschen, nicht reproduzieren, vor allem nicht Hierarchie, Täuschung (seiner selbst und von anderen), Zersplitterung und Unstimmigkeiten. Im Ergebnis heißt dies: Revolutionäre Organisationen dürfen keine Kollektive oder, dies noch weniger, Bündnisse von Kollektiven sein; sie müssen stattdessen Gruppen von Individuen sein, das heißt Gruppen, welche die Individualität ihrer Mitglieder nicht unterdrücken oder zersetzen, sondern diese erhalten und bereichern, wodurch sie wiederum selbst bereichert werden.
Deshalb lehnen wir das Konzept der ‚Multitude‘, wie es von Antonio Negri ausgearbeitet worden ist, ab. Wir sind keine Philosophen. Wir sind auch nicht interessiert daran, ontologische Systeme aufzustellen oder zu entwickeln. Dies eignet sich für akademische ‚Diskussionen‘ besser als zur revolutionären Tätigkeit. Bei Negri tut man gut daran, zu beachten, daß er, auch wenn er postmodern das Wort ‚Individuen‘ durch ‚Singularitäten‘ ersetzt, in seiner Politik nie weiter als bis zu Wahlen und ‚radikalen‘ politischen Parteien kommt. Ebenso lehnen wir den Text ‚Minimaldefinition der revolutionären Organisationen‘ der Situationistischen Internationale ab, der recht dogmatisch darauf beharrt, daß eine solche Organisation „konsequent die internationale Verwirklichung der absoluten Macht der Arbeiterräte verfolgt, so wie sie durch die Erfahrung der proletarischen Revolutionen in diesem Jahrhundert vorgezeichnet worden ist.“ Als unterdrückte Arbeiter, jedoch nicht als Mitglieder einer einzelnen ‚Klasse‘ werden wir uns unserer Situation zunehmend bewußt – aber ohne das Bedürfnis nach einem ‚Klassenbewußtsein‘ zu haben – und suchen wir unsere Emanzipation außerhalb der Ökonomie, sei es eine kapitalistische, sozialistische oder kommunistische.
Uns scheint, daß die Organisationstaktiken, die von den Situationisten verwendet wurden, auch für die heutigen Kämpfe relevant und nützlich bleiben. Da das Spektakel ein globales System ist, müssen revolutionäre Organisationen in ihrer Zusammensetzung und in ihrem Handeln international sein. In ihnen müssen sich Mitglieder aus so vielen Ländern wie möglich finden. Aber diese Mitglieder dürfen keine Nationalisten oder ‚Vertreter‘ ihrer jeweiligen Herkunftsländer sein. Sie müssen Internationalisten sein. (Fremdsprachenkenntnisse sind deshalb unabdinglich.) Da revolutionäre Organisationen klein sein müssen, dürfen sie auf keinen Fall zu viele Mitglieder aufnehmen. Ebensowenig dürfen sie die Anwesenheit von Leuten in ihren Reihen dulden, die sich als wesentlich anders er weisen, als sie vor ihrem Beitritt erschienen sind. Folglich sind Ausschlüsse zwar bedauerlich, aber unbedingt notwendig, genauso wie der Bruch mit ‚Außenstehenden‘, die unserer Existenz, unserem Programm oder unseren Taten feindlich gegenübertreten oder die weiterhin mit dritten Parteien zusammenarbeiten, mit denen wir gebrochen haben.
Weiter müssen revolutionäre Organisationen wirkliche Vereinigungen sein, deren Mitglieder sich von Gesicht zu Gesicht begegnen; sie können nicht ‚online‘ existieren, also nicht über Mailverteiler, Homepages oder Chatrooms. Solche Vereinigungen müssen danach streben, ihr Essen, ihre Kleidung und ihre Wohnverhältnisse selbst herzustellen, andernfalls sind sie ein Teil des Warensystems. Solche Vereinigungen müssen unablässig danach streben, ihre Fähigkeiten zum persönlichen und gegenseitigen Austausch zu verbessern; dies bedeutet, daß die Einzelnen mit ihren wahren Gefühlen und Wünschen ‚in Verbindung‘ stehen und wissen müssen, wie sie diese auszudrücken und wie sie ihnen gemäß zu handeln haben. Andernfalls sind Täuschung, Hierarchien und Machtstrukturen unvermeidlich.
Um stimmig zu sein, muß sich unser politisches ‚Programm‘ auf unsere Definition des Spektakels zurückbeziehen und sich von dieser ableiten. Das heißt, es muß auf folgenden Punkten beharren: auf der extremen Konzentration von Reichtum in dieser Gesellschaft; auf der schlechten oder gar tödlichen Verwendung dieses Reichtums (die USA geben jede Woche drei Milliarden Dollar für den ‚Global War on Terror‘ aus); und auf der Gesellschaftsform, die errichtet werden könnte, wenn die bestehende Gesellschaft umgestürzt und ihr Reichtum für wahrhaft menschliche Zwecke verwendet würde. Die Vergnügungen und das ‚Glück‘, die diese Gesellschaft bietet, müssen gnadenlos als unzureichend kritisiert werden. Unser Programm muß die Arbeit, die Ware und den Markt als obsolet und überflüssig verdammen. Und es muß ohne Unterlaß all die Institutionen, Menschen und Kräfte bloßstellen und untergraben, die verhindern, daß diese Relikte geradewegs in den Mülleimer der Geschichte geworfen werden.
New York City, 1. November 2007
Der vollständige Text ‚The Society of the Virtual Spectacle‘ findet sich, mit zahlreichen anderen Texten, auf der Seite www.notbored.org. Not Bored! gibt es seit 1983 und ist der Selbstbeschreibung nach ein „autonomes, von den Situationisten inspiriertes Journal, das auf Low-Budget-Basis unregelmäßig in fotokopierter Form erscheint“.