Eric Ostrich
Von Milieus und Hinterherhinken
Ein paar Beobachtungen auf einer Klassenlosen-Veranstaltung zu ‚Der kommende Aufstand‘ im Mehringhof in Berlin
Die anfängliche Einschätzung des Referenten, ‚Der kommende Aufstand‘ habe „einen gewissen Glanz erhalten durch die Gunst des Zeitpunkts, zu dem das Buch erschienen ist“, erfuhr an diesem Abend eine wohl nicht ganz so intendierte Bestätigung. Bei der Veranstaltung der ‚Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft‘ – einer der allerersten zu der Schrift aus Frankreich in Berlin – wurde nämlich nicht nur quantitativ betrachtet dieser „Glanz“ vermehrt, indem sich zwischen 150 und 200 Leute in den Versammlungsraum des Mehringhofs drängten. (Ein Punkt, der übrigens in offenbar versehentlicher Süffisanz im Lauf der Veranstaltung an einen der beiden Klassenlosen auf dem Podium gerichtet aus dem Publikum so kommentiert wurde: „Mehr Leute als heute abend wirst Du lange nicht mehr zusammenbringen.“) Nein, die Qualität und der Charakter, den die Veranstaltung in ihrem Verlauf offenbarte, lassen ebenfalls den Schluß zu, daß der Text des Unsichtbaren Komitees wie anderswo, so auch in der Berliner ‚linken Szene‘, die hier wahrlich als eine Art Potpourri in Erscheinung trat, in einer Art empfindsamen Phase angekommen ist und zwar nicht gerade gewirkt hat wie ein Stich ins Wespennest – dafür ging’s dann doch im Ganzen auffällig aufregungslos zu –, die wahrnehmbare Wirkung aber den Vergleich zum Effekt von Hefe, die einen äußerlich eher unspektakulären Gärungsprozess in Gang setzt, nahelegt.
Da waren zum einen die recht zahlreichen und vor allem im Inhalt diversen Beiträge zur Diskussion, die sich, pauschal betrachtet, dadurch auszeichneten, daß jeder etwas (anderes) zu ‚Der kommende Aufstand‘ zu sagen wußte, keiner aber geneigt war, das Buch als ganzes zu verteidigen oder zu verwerfen. So in Unordnung war die Diskussionskonstellation, so wenig fügte sich oft eins zum anderen, daß sich trotz der vielen Gelegenheiten kaum einmal ein längeres Verweilen bei einem Thema ergab. Hingegen kam es wiederholt vor, daß ein Diskutant seinen Punkt nicht nur einmal zu machen versuchte, sondern einige Zeit nach seinem ersten Beitrag einen zweiten hinterherschob, in dem er sich dem offenbar unverständigen Rest erneut mitteilen wollte.
Zum anderen aber erschien auch das Auftreten und Verhalten der ‚Freunde und Freundinnen der klassenlosen Gesellschaft‘ als Veranstalter etwas inkohärent. Zunächst beschränkte sich die Gruppe darauf, in betonter Zurückhaltung gerade mal zwanzig Minuten lang einige Thesen benannte Bemerkungen aus ihrer Sicht zu ‚Der kommende Aufstand‘ mitzuteilen, die im Fazit endeten, daß das Unsichtbare Komitee letzlich doch „keinen Beitrag leiste, die Verhältnisse zu überwinden“, um dann aber – einigermaßen erstaunlich – zu erklären, daß „unsere Idee nicht war, Fragen zu unserer Position zu beantworten“, sondern – dies war nicht ganz klar ausgesprochen, stand aber zu vermuten – offenbar der Diskussion ‚freien Lauf‘ zu lassen.
Desweiteren war ein eigentümliches Schwanken der Klassenlosen hinsichtlich ihrer Bewertung des in Frage stehenden Texts zu bemerken. Offenbar gewillt, nicht den Eindruck entstehen zu lassen, es ginge um eine Verdammung von ‚Der kommende Aufstand‘ in Bausch und Bogen, verteilten Vertreter der Gruppe immer wieder Lob und gute Noten an das Unsichtbare Komitee. Der Versuch einer Zusammenstellung: Ja, man finde es gut, daß die Franzosen sich um die, ob in den Banlieues, Oaxaca oder Griechenland, stattfindenden Aufstände kümmerten – dies machten schließlich, was man nachlesen könne, die Klassenlosen ja schon seit vielen Jahren. Ebenfalls für gut befunden: Das Komitee hege keine Illusionen, lasse sich nicht darauf ein, Reformvorschläge fürs Bestehende zu machen, sondern bemühe sich um Feindbestimmung – aber da dürfe man die Klassenlosen nicht mißverstehen: Auch die seien dezidiert antistaatlich. Und schließlich: Beispielsweise zu Empire und dem „Scheiß-Negri“, wie ihn ein Diskutant bezeichnete, habe man schließlich damals, als dies en vogue war, schon gleich gar keine Veranstaltung gemacht, insofern sei dies heute ja eine „Würdigung“ des Unsichtbaren Komitees durch die ‚Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft‘. All dieses Bemühen um Freundlichkeit – oder Fairness? – gegenüber ‚Der kommende Aufstand‘ verhinderte allerdings nicht, daß zwischendurch von Seiten der Veranstalter des Abends dem Drang gefolgt wurde, – hier etwas komprimiert – zu erklären: Die Mitglieder des Unsichtbaren Komitees seien selbst die französischen Bürger, welche sie vorgeblich bekämpften, und beneideten die Bewohner der „Stadtteile der Verbannung“ (wie in ‚Der kommende Aufstand‘ unter anderem die Banlieues bezeichnet werden); das Komitee schreibe nur über „seine eigene Seite“ in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen – und dies sei die der „Mittelstandserfahrung“; die Autoren von ‚Der kommende Aufstand‘ seien eben keine Vorstadtkids, sondern merklich Vertreter der „Pariser akademischen Lumpenintelligenz“; das Buch „verhindere die Diskussion“ und sei „nicht produktiv“; die Konzeption von Arbeit sei zentral für das Buch, sie sei aber „falsch“, insofern sei auch das Buch „falsch“, stimme seine Analyse , „hinten und vorne“ nicht. Und überhaupt: ‚Der kommende Aufstand‘ sei eine vollständige Absage an „Organisation“, jede „vermittelte Rede ist bei denen schon ‚korrumpierte Organisation‘“ – „Das hat mich am Buch genervt, da habe ich mich verarscht gefühlt“, meinte ein Klassenlosen-Vertreter auf dem Podium im vermutlich emotionalsten Moment des Abends.
Woher diese Gefühlsaufwallung eines der Veranstalter gekommen sein könnte, mag vielleicht intuitiv ein im polit-kulturellen Verlags- und Buchhandelswesen tätiger Diskutant richtig analysiert haben: „Wir hier im Saal stellen genau so ein Milieu dar, wie es vom Unsichtbaren Komitee verworfen wird. Und keiner hier sagt: ‚Das Buch greift mich persönlich an‘ – obwohl doch seine Beschreibung des Elends keinen von uns hier ausnimmt. Wenn, wie gerade, einer auf den ‚Scheiß, den wir alle machen‘ verweist, dann lachen alle nur.“ (Diese letzte Bemerkung bezog sich auf die ein wenig zuvor angebrachte Feststellung aus dem Publikum, daß „wir alle gezwungen sind, Geld mit lauter Quatsch zu verdienen“ – was tatsächlich hauptsächlich Gekicher hervorrief und auch als eines der vielen Beispiele angeführt werden kann, daß die Frage der „Produktionsweise“ an diesem Abend eine zentrale, aber auch gleichzeitig allerlei Mißverstehen auf sich ziehende und Ausweichen auslösende Frage war.)
Dieser Hinweis, das vielleicht essentielle Stoßrichtungen des Unsichtbaren Komitees und von ‚Der kommende Aufstand‘ an diesem Abend gänzlich ignoriert würden, wurde bei einer anderen Wortmeldung noch um den Befund ergänzt, daß es sich – wie 1968 – auch bei den mit dieser Schrift verbundenen Phänomenen um eine „ansteckende Krankheit“ handeln könnte, die sich durch ihre „Attraktivität“ ausbreite, wohingegen hier und in anderen linken Zusammenkünften oft nur einzugestehen sei: „Das ist ja alles so unattraktiv.“ In einer verwandten Beobachtung hieß es noch, ‚Der kommende Aufstand‘ stelle einen „sehr kultiviert vorgetragenen Rückzug aus einer inhaltlichen Kritik der Gesellschaft dar, der die Folge aus Erfahrungen und der Praxis in einer untergehenden Welt“ sei. So daß sich, unter dem Einfluss dieser Beiträge (und möglicherweise auch aus der Lektüre der Schrift selbst), der Eindruck verdichtete, daß die Leute vom Unsichtbaren Komitee eine Veranstaltung der Art wie im Mehringhof ohnehin nicht besuchen würden (was wiederum der oben erwähnten „Würdigung“ von ‚Der kommende Aufstand‘ vielleicht eine seltsame Schlagseite gibt).
Um sich für den vorliegenden Beitrag aber nicht vollends den Vorwurf einzuhandeln, hier ginge es ja nur um Formalia, aber was sei denn nun „inhaltlich“ eigentlich gesagt worden auf der Veranstaltung?, noch einige kommentierte Bemerkungen zu diesem Aspekt in separierter Form (auch wenn hierzu, was die Klassenlosen betrifft, in der nächsten Ausgabe ihrer Zeitschrift ‚Kosmoprolet‘ mehr zu erfahren sein wird, wie zumindest im Mehringhof angekündigt worden ist). Die Probleme, die die ‚Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft‘ an ‚Der kommende Aufstand‘ entdecken, lassen sich wohl im Kern auf vor allem zwei eingrenzen, die auch im Verlauf des Abends verschiedentlich wiederholt wurden: Erstens seien all die Aufstände, um die es in der Schrift des Unsichtbaren Komitees gehe und deren Träger von Seiten der Klassenlosen als das „Surplus-Proletariat“ bezeichnet wurde, zwar erfreut zur Kenntnis zu nehmen, doch vor allen Dingen müsse man sie in ihren Beschränkungen erkennen, und eben dies leiste das Unsichtbare Komitee nicht. Zweitens, mit dem ersten Einwand als dessen Ursache zusammenhängend, teile ‚Der kommende Aufstand‘ die Mängel und Grenzen der wirklichen Aufstände der letzten Jahre, ohne dies zu reflektieren: Sowohl im Buch als auch auf den Straßen Athens und in den Vorstädten von Paris liege kein „Projekt“ vor zur „Aneignung der gesellschaftlichen Produktionsmittel auf deren aktuellem Niveau“, weswegen die Unruhen im Dezember 2008 in Griechenland nach schon vier Wochen wieder ihr Ende gefunden hätten.
Der Grund, so in etwa die Darstellung der Klassenlosen weiter, warum das Unsichtbare Komitee an dieser Aufgabe eines gesellschaftlichen Projekts scheitere und zwar den Feind treffend beschreiben könne, aber wegen mangelnder Analyse der Gesellschaft, diesen nicht schlagen können werde, liege wiederum an seinem „schiefen Begriff“ der Arbeit oder von deren vorgeblichem Verschwinden: Wo bleibe beim Unsichtbaren Komitee der Verwertungsprozess? Wo der unersättliche Hunger nach Mehrwert, wodurch doch erst der allseitige Zwangszusammenhang der Gesellschaft hergestellt werde, den das Unsichtbare Komitee aber gar nicht erkenne, sondern stattdessen die Gesellschaft fälschlicherweise als Ansammlung atomisierter Individuen zu fassen versuche? Im Ergebnis werde in ‚Der kommende Aufstand‘ die Gesellschaft, statt des sozialen Verhältnisses, das es sei, zu einem Verhängnis, das die französischen Autoren nicht verstünden, weswegen sie zu praktischen Vorschlägen kämen, die ein „falsches Versprechen“ darstellten und nur in eine „Sackgasse“ führten: Die Revolution werde beim Komitee letztlich militärisch und nicht polit-ökonomisch aufgefaßt, die Fehler des Anarchismus des 19. Jahrhunderts wiederholt, ein Spezialistentum des Aufstands herbeigeführt.
Wie auch sonst seit Wochen in der „absurden Debatte“ (Klaus Bittermann) üblich, ging es den zur Kritik am Unsichtbaren Komitee Angetretenen bei der Charakterisierung von ‚Der kommende Aufstand‘ wieder recht viel um gefundene und erfundene Reizwörter und -phrasen wie „Landkommunen“, „Fetischisierung der Natur“, „Kartoffelacker und Bombenlabor“, „Das Buch sagt: ‚Es hat geknallt, es muß noch mehr knallen‘“, „wahnsinnig martialisch“. Als Kernbegriff ihrer eigenen Anstrengungen setzten die Klassenlosen dem Unsichtbaren Komitee, etwas repetitiv, ihr eigenes „Projekt“ der „Selbstabschaffung des Proletariats“ entgegen. Dies führte immerhin, außer zu leichter Empörung in Teilen des Publikums, die sich zwischendurch im Vorwurf, hier erkenne man die „Arroganz der Marxisten“, zuspitzte, noch zur – weil er im ersten Anlauf nicht verstanden wurde – wiederholten Anmerkung eines Mitglieds der Klassenlosen, die er nicht als Kritik meinen wollte, daß die „Selbstabschaffung des Proletariats“ heute, wenn eine Mehrheit der Menschen von der Produktion nur noch negativ erfaßt werde, doch nicht mehr dasselbe wie in den 1970er Jahren sei. „Da hinken wir noch hinterher!“ Wenn also, so der Klassenlose weiter, wie in den diversen aktuellen Revolten, der „Schrei nach Ablehnung der Arbeit“ nicht mehr von den Fabrikarbeitern komme, sondern von den – für diesen Begriff heute schon zu breiten – „Rändern“, „was machen wir dann mit dem Klassenbewußtsein?“ Da dies als Schlußwort für die Veranstaltung bestimmt worden war, gab es auf diese Frage allerdings schon allein deswegen im Mehringhof keine Antwort mehr.
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Für Freundinnen und Freunde der kommunistischen Diskussionsveranstaltung sei hier noch die Vorstellung von „Wir sind ein Bild der Zukunft – auf der Straße schreiben wir Geschichte. Texte aus der griechischen Revolte“ durch zwei meiner Mitübersetzerinnen empfohlen, die am Donnerstag (27.1.) im Club für sich (Friedelstraße 54, Berlin-Neukölln) ab 20 Uhr stattfindet. Der Clip zum Buch.
Gastbeitrag auf www.classless.org