Eric Ostrich
Der Situationismus „in seiner Zeit“ gegen seine Adepten heute
Kleiner Bericht zu einer Bahamas-Veranstaltung, bei der sich Sanftes und Schroffes addiert haben
Am Ende schien es Justus Wertmüller dann doch zu prosituationistisch zu werden: Die ‚Aufhebung der Kunst‘, wie sie die Situationisten gefordert und partiell vielleicht auch praktiziert haben, stehe in einer Tradition mit den kunst- und damit reflexionsfeindlichen Aktionen der Dadaisten und habe zudem auch die Grundlage geschaffen für die gerade unter postmodernen und poplinken Kulturproduzenten verbreitete Lobhudelei der Situationisten, die mithin Vorläufer und Teil der gegenwärtigen Misere seien, nicht Mittel zu deren Lösung. So in etwa preschte Wertmüller in der Diskussion vor, die sich an den Vortrag Sören Pünjers mit dem Titel „Der Situationismus und seine Adepten“ am Montagabend im Kreuzberger Lokal ‚Max und Moritz‘ anschloß.
Unmittelbarer Anlaß für Wertmüllers Intervention war ein Diskussionssbeitrag von einem der im etwa sechzigköpfigen Publikum anwesenden Situationismus-Experten, der einiges ‚Interessante‘ oder auch ‚Spannende‘ an diversen als Anti-Filme deklarierten Filmchen ausmachen wollte, die Guy Debord bis Anfang der 1960er Jahre zum Zwecke der Konsternierung der Zuschauermasse gemacht hatte. Doch man konnte sich nicht des Eindrucks erwehren, daß Wertmüllers Beitrag auch an und gegen den vortragenden Bahamas-Autor Pünjer gerichtet war, der in seinem Text überraschend milde und beinahe angetan über die Situationisten sprach, sogar selbst anmerkte, daß er, als er begonnen hatte, sich mit diesen französischen Revolutionären auseinanderzusetzen, erwartet hatte, daß an diesen wohl kaum ein gutes Haar zu lassen sei, um dann aber im Gegenteil bei der Lektüre der Situationisten-Texte zu entdecken, daß diese doch reichlich klug und erstaunlich unlinks seien – gemessen an der zeitlichen Situation, in der sie sich befanden.
Dieser Verweis auf die geschichtlichen Umstände, in denen die Situationisten wirkten, war auch so etwas wie der rote Faden, der sich durch Pünjers Vortrag zog. Indem er zwar allerlei Positives über diese Situationisten zu berichten hatte, aber dies beinahe immer mit Hinweisen darauf, man müsse die Situationisten eben „in ihrer Zeit“ betrachten, relativierte, kam der etwas eigenartige Eindruck zustande, als ob Pünjer selbst ein wenig erschrocken sei, in Texten von Leuten, die durchaus von Klassen und ihrem Kampf geschrieben und sich recht fundamental dem Vorhaben der Revolution verschrieben haben, Erkenntnisse über die Welt zu finden, in denen zu leben und sich zurechtzufinden ja auch Bahamas-Redakteure und ihr Publikum gezwungen sind. Vielleicht weil es um Frankreich ging, konnte einem beinahe der Film ‚Themroc‘ einfallen, in dem Michel Piccoli einen unmittelbar brachial-archaisch zum Paradox der individuellen Revolution schreitenden Arbeiter darstellt, der durch sein kompromißloses Handeln einige der braven Nachbarn gewissermaßen mit dem Virus der Revolution ansteckt, die diese dann schüchtern und zaghaft in kleinen Schritten zu praktizieren versuchen. Einen ähnlichen diffusen Hunger nach Freiheit scheinen auch die Texte der Situationisten bei Sören Pünjer hervorgerufen zu haben, der sichtlich erfreut war, Passagen vorzulesen, bei denen die Situationisten – für Pünjer damit das Gegenbild zu „Berufsrevolutionären“ – anhand des Beispiels einer teils kriminellen Party von französischen Jugendlichen ihre Ideen des revolutionären Potentials des Alltagslebens darlegten, anhand derer durch eine Verweigerung der Befriedung durch den Konsum erlaubten Vergnügens versucht werden sollte, die Leere aufzuheben, die den Alltag der Menschen im Spätkapitalismus erfaßt habe.
Solche, linker Politik und Verdinglichung fernen Elemente sah Pünjer auch als Grundlage für zahlreiche Aspekte, in denen sich die Situationisten – „in ihrer Zeit“ – wohltuend qualitativ von ihren die Revolution und den Kommunismus propagierenden Zeitgenossen unterschieden, beispielsweise, wenn sie nicht wie fast die ganze restliche Baggage in Frankreich zu Apologeten und Anhängern des Nasserismus oder anderer „arabischer Sozialismen“ wurden, sondern diese als die emanzipationsfeindlichen Phänomene denunzierten, die sie eben waren. Die Äquidistanz, die sie zur selben Zeit zum Zionismus hielten, rückte für Pünjer demgegenüber, als eine Art qualité négligeable, in den Hintergrund. Überhaupt ging es so gut wie gar nicht um die aktuellen Politikfragen, die die Bahamas und auch weiterhin die restliche Linke oft wort- und positionsreich beschäftigen. Weder Amerika noch der Islamismus wurden auch nur erwähnt, die Frage der Israel-Solidarität den Situationisten nicht nachträglich gestellt und das Fehlen einer expliziten Auseinandersetzung mit dem Holocaust bei den Situationisten – sonst für der Bahamas zumindest phasenweise nicht fernstehende Autoren wie Stephan Grigat oder Horst Pankow letzlich die wichtigsten Maßstäbe im Urteil über die Situationisten – wurde als im französischen Kontext, in dem sich die Situationisten bewegten, nachvollziehbar erklärt. Nicht mal der frühe und auch angemessene Rausschmiß von Dieter Kunzelmann und den anderen Kulturkonsorten der Gruppe Spur aus der Situationistischen Internationalen wurde von Pünjer als Einladung zu einem vernichtenden Urteil über die deutsche Linke genutzt, sondern kam in seinem Vortrag schlicht nicht vor.
Aktuell wurde der ansonsten um eine Art ‚gerechte Historisierung‘ der Situationisten bemühte Vortrag Pünjers nur, wenn es um die Auseinandersetzung mit den „Adepten“ der Situationisten ging, welche offenbar auch der Anlaß waren, warum die Bahamas sich überhaupt mit den Franzosen beschäftigte oder, wie Sören Pünjer einleitend erklärte, warum es zu diesem „längst überfälligen“ Vortrag gekommen war. Die Ausgangsfrage war: Wo kommt dieses seit Jahren in der Linken existierende Bedürfnis her, sich auf die Situationisten ‚positiv zu beziehen‘, bei ihnen ‚Anknüpfungspunkte‘ zu finden oder wie der in der Linken verbreitete Politiksprech das auch immer ausdrücken mag? Der Gegner waren an diesem Abend hauptsächlich drei (weil die Situationisten erstmal, wie angedeutet, nicht unter dieser Kategorie verhandelt wurden, obwohl sie gerade eines der Lieblingsobjekte der Begierde und Zuneigung in der Linken sind): Die Herausgeber und Autoren eines beim Verbrecherverlag veröffentlichten Sammelbandes zu einem Symposium über die Situationisten 2005 in Wien mit dem Titel „Spektakel – Kunst – Gesellschaft – Guy Debord und die Situationistische Internationale“; die in der theorie.org-Reihe im Schmetterling-Verlag erschienenen Bände zur ‚situationistischen Revolutionstheorie‘ von Biene Baumeister und Zwi Negator; sowie ein aktuelles Papier von der Schule nun entwachsenen Hamburger Mitarbeitern der Kulturindustrie unter dem Slogan ‚Recht auf Stadt‘.
Die Bezugnahme auf die Situationisten in allen drei Publikationen stellte für Pünjer eine Vereinnahmung fremden Materials dar, bei der jeder emanzipatorische Gehalt verloren geht, in etwa das, was die Situationisten selbst ‚Rekuperationen‘ genannt haben. Im Einzelnen sah Pünjer das Buch zum Wiener Symposium, das laut Buchbewerbung „Debord in seinem revolutionären Anspruch ernst nehmen“ will, genau daran fundamental scheitern, da die Herausgeber schon auf den ersten Seiten betonen, daß es angesichts der Verschiedenheit der Autoren gar nicht beabsichtigt sei, eine kohärente Haltung zu den Situationisten zu vertreten – ein Pluralismus und eine Konfrontations- und Kohärenzscheu, die, Pünjer folgend, der exakte Gegensatz zu Debords revolutionärem Anspruch ist. Baumeister und Negator wiederum weigerten sich, ganz grundsätzliche Erkenntnisse der Situationisten ernstzunehmen, indem sie weiter das „Proletariat“ als „Ort der Auseinandersetzung“ betrachten wollen, das die Situationisten selbst als Teil des integrierten Spektakulären betrachteten und einem solchen Klassenbezug die Befreiung durch die Reflexion subjektiver Erfahrung entgegenstellten, wie Pünjer den Adepten vorhielt. Daß sich Baumeister und Negator zudem auf den „Scharlatan Lacan“ (Pünjer) berufen, hätte ihnen den sofortigen Rausschmiß aus der Situationistischen Internationale gebracht, die, wie Pünjer lobte, Lacan als leeren Obskurantisten Heideggerscher Prägung verdammt hatten, auch hier gegen die Haltung großer Teile der Restlinken damals wie heute. Dem Hamburger Kultur-Bündnis schließlich attestierte Pünjer ebenfalls Mißbrauch oder grobe Unkenntnis situationistischer Überlegungen, sonst würden sie bemerken, daß all ihr Pop-Wirken und ihre „Empörung darüber, daß nach ihnen noch eine Welle der Gentrifizierung kommt“ (Pünjer), nur Teil des Spektakels traditioneller Fabrikarbeit auf erweiterter Stufenleiter sei. Das konstruktive Bemühen der Hamburger, sich in die Stadtpolitik einzubringen beziehungsweise sich ihr aufzudrängen, offenbare zudem ihren Staatsfetischismus, der den Situationisten prinzipiell fernlag, die ihre immanent nicht aufzulösende materielle Eingebundenheit in das bestehende Gesellschaftssystem nüchtern konstatiert hätten, statt für die öffentliche Subventionierung ihrer subversiven Tätigkeiten zu plädieren.
Ganz ungeschoren wollte aber auch Sören Pünjer die Situationisten nicht davonkommen lassen. Wenn auch keinesfalls nur zu ihrem Nachteil hing er die Situationisten prinzipiell etwas tiefer, indem er sie nicht als Theoriezirkel verstanden wissen oder anerkennen wollte, so daß beispielsweise ihre Einschätzungen von Lacan wie auch Sartre – der ihnen der „Gangsterboß des Existentialismus“ war – weniger aus Einsicht rührten, sondern, wie Pünjer das mehrfach nannte, eher „intuitiv“ geschahen. Ihr im Vergleich zur Partei- und Organisationslinken äußerst fortschrittlicher Versuch, angelehnt an und angeregt durch Henri Lefebvre, den Marxismus zur kritischen Erkenntnis des Alltagslebens zu nutzen, überhaupt sich in „die Niederungen des Alltags“ (Pünjer) zu begeben, mißlang ihnen nach Pünjer manches Mal, indem ‚Alltag‘ bei ihnen eine Art mystische Größe wurde, mit der sie dann überall die selbe Entfremdung sahen und deswegen zum Beispiel Elogen auf die blutigen Unruhen in Watts 1965 verfaßten, in denen sie eine „Revolte gegen die Ware“ und den Ausdruck „echter Begierde“ sehen wollten. Im Übrigen seien sie ihren eigenen Überlegungen nicht stringent gefolgt, sonst hätten sie durchaus auf die Idee kommen können, daß beispielsweise ihre Forderung nach „Aufhebung der Kunst“ ohnehin einer geschichtlichen Bewegung entsprach, die zu jener Zeit schon längst dabei gewesen sei, alle Kunst und die mit dieser verbundenen emanzipatorischen Restbestände in Kunstgewerbe und Kulturindustrie praktisch aufzulösen. So haften den Situationisten, wie Pünjer meinte, doch manche Momente einer Pseudoradikalität an. Aber auch dieses Urteil sprach Pünjer sehr zurückhaltend aus und verband es mit dem Hinweis, daß er rückblickend gar nicht behaupten wolle, solche Erkenntnisse hätten die Situationisten „in ihrer Zeit“ schon erlangen können.
Eben diese Sanftheit Pünjers im Urteil über die Situationisten war es vielleicht, die die Diskussion im Anschluß zunächst recht harmonisch-dröge und ein wenig im Seminar- oder gar Symposiumsgeist angehen ließ – bis Justus Wertmüller mit seiner erwähnten Intervention dann doch für etwas Schärfe und Kontur sorgte und damit erstmal alle an diesem Abend vielleicht entstandenen Vermutungen, die Bahamas würde sich nun eine Rehabilitierung der Situationisten ins Programm schreiben oder gar selbst sich auf die Suche nach „Anknüpfungspunkten“ begeben, schnell wieder zergehen ließ – wenn er sich dafür dann auch wieder einmal den Vorwurf eines „bürgerlichen Kunstverständnisses“ einhandelte, nur weil er über ein ebensolches und dessen Potential für Emanzipation und Reflexion sprach und es flott daher kommenden Vorstellungen der ‚Aufhebung der Kunst‘ schroff entgegensetzte. Offen blieb aber an diesem Abend die Frage – zumal auch Wertmüller und Pünjer sich eben nicht als große Situationisten-Experten darstellen wollten –, ob nicht in Wahrheit eher die Adepten und nicht die Situationisten selbst in der Kunst-Frage getroffen wurden. Immerhin hat Debord selbst die Produktion seiner „Anti-Filme“, die an diesem Abend der Stein des Anstoßes waren, Anfang der 1960er Jahre schon nicht mehr fortgesetzt und sich eher verstärkt an die Reflektion gemacht. Ohnehin ließ der von Sören Pünjer punktuell benannte Erkenntnislevel der Situationisten, die sie manchmal zum Beispiel Adorno verwandt klingen lassen, sie auch zur Kunst manchmal Dinge sagen, die der Bahamas nicht gänzlich fern liegen dürften. So seien zum Abschluß und vor der Veröffentlichung von Pünjers Vortrag, in vielleicht nochmal bearbeiteter Fassung, in der nächsten Bahamas, eingestandenermaßen etwas willkürlich, als Beispiel zwei kurze Thesen aus Guy Debords ‚Gesellschaft des Spektakels‘ angeführt, mit denen er unter anderem Bedingungen für die Aufhebung der Kunst und auch aller anderen gegenwärtigen Verhältnisse festschreibt:
„204. Die kritische Theorie muß sich in ihrer eigenen Sprache mitteilen. Diese Sprache ist die Sprache des Widerspruchs, die in ihrer Form dialektisch sein muß, wie sie es in ihrem Inhalt ist. Sie ist Kritik der Totalität und geschichtliche Kritik. Sie ist kein ‚Nullpunkt des Schreibens‘, sondern seine Umkehrung. Sie ist keine Negation des Stils, sondern der Stil der Negation.
211. In der Sprache des Widerspruchs stellt sich die Kritik der Kultur als vereinheitlicht dar: insofern sie das Ganze der Kultur — ihre Erkenntnis wie ihre Poesie — beherrscht, und insofern sie sich nicht mehr von der Kritik der gesellschaftlichen Totalität trennt. Diese vereinheitlichte theoretische Kritik geht allein der vereinheitlichten gesellschaftlichen Praxis entgegen.“
Gastbeitrag auf www.classless.org