Franz Hahn
Martin Dornis: Das hörende Subjekt und sein Tod in Kunst, Spektakel und Revolution, N° 3
Im Intellektuellenmagazin Kunst, Spektakel, Revolution ist ein Text von Martin Dornis unter anderen über Gutstav Mahler erschienen, diesem großen Revolutionär unter den Tonsetzern. Der an Adorno geschulte Aufsatz verrät einiges an Liebhaberei und Ernst an der Sache und wer sich für ästhetische Fragen interessiert, wird ihn mit einigem Interesse lesen können, auch oder gerade wenn viele Gedanken apodiktisch daherkommen, obwohl sie vielleicht besser mit einem Fragezeichen versehen worden wären. Statt aber beckmesserisch auf diese oder jenen „Fehler“ der Gedankenführung zu verweisen und als autodidaktischer Laie, der ich wie der besprochene Autor bin, unweigerlich auf neue Fehler zu verfallen, hier nur ein prinzipieller letztlich politischer Einwand gegen diese Rezeption der Musik Mahlers.
Martin Dornis behandelt Mahlers Musik nur, „insofern, als es dabei gleichzeitig um uns heute geht“. In diesem Heute scheint der Autor allerdings eine Position zu beziehen, die mit den aus Mahlers Musik gewonnenen Erfahrungen im eigenwilligem Kontrast steht. Es wird nämlich in Bezug auf Beethoven darauf verwiesen, dass Kompositionen eine „Strategie der Kriegsführung“ sein können. Näher wird dann Mahlers dritte Sinfonie besprochen und hier besonders der zentrale Kopfsatz. Richtig wird angemerkt, das Mahler sich hier „auf die Seite der proletarischen und subproletarischen Schichten“ stellt, die Sinfonie wird „Mahlers große Utopie“ genannt, „sein optimistischstes Werk“, das Wesen der ersten Satzes wird als „Emanzipation“ bestimmt und zwar als Emanzipation eben der proletarischen Schichten. Pan, der Gott der Triebe, erwacht und aus einem munteren Volksfest entsteht schon in der Exposition eine „regelrechte Proteststimmung“. In der Durchführung wird dagegen der „rastlose, getriebene Charakter“ betont, die musikalische Entwicklung scheint ihm in einem Hamsterrad gefangen, kommt nicht vom Fleck, ist in sich „regressiv zurück gestaut“ und am Ende würde diese Impotenz mit „wilder und getriebener Raserei“ kompensiert. Es handle sich um eine Parodie Beethovenscher Emanzipationsbemühungen.
Hier bekommt der Autor Angst vor der eigenen Courage: es sind halt doch die Unterschichten, die da agieren. Also wird die Sache abgebrochen und entgegen dem tatsächlich stattfindenden, der Exposition wie dem Verlauf der Durchführung entspringenden kollektiven Aufruhr des besprochenen Satzes kommt das Individuum wieder ins Spiel, die Explosion wird als gegen dieses gerichtete Gewalt gehört: Subjekt des Musikstückes sei nämlich „ein Revolutionär, dem keine Massen mehr folgen“ und der schließlich „von den Unglücklichen, die es bleiben wollen, quer durch die Welt gejagt wird.“ Dieses als Individuum vorgestellte Subjekt würde dabei noch um „seinen Zusammenhang mit einer Gesellschaft“ ringen, nur dass diese Gesellschaft mittlerweile lieber „Kapitalisten“, „Manager“, „Spekulanten“ und „Schmarotzer“ jagen würde. Das scheint mir aber einfach seine Projektion zu sein. An dieser Stelle nichts über den Geschichtsverlauf – der Autor denkt an die beiden Weltkriege, den Mord an den Juden und dergleichen mehr und daß man bei solchen Gedanken in trübe individuelle Melancholie verfällt, ist sicher nachvollziehbar. Aber wie der reale Verlauf der Geschichte war, das ist eben nicht der Sinn der Mahlerschen Komposition.
Der Autor hatte ja gerade selbst noch darauf hingewiesen, dass Mahler auf der Seite der Unterdrückten stand – ob er es nun wusste oder nicht. Schüchtern wird sein Werk „proletarischer Realismus“ genannt. Das Subjekt ist eben kein einzelner Revolutionär, der der Masse Form zu verleihen sucht, eben kein erfolgreicher oder scheiternder Lenin. Es sucht auch kein Einzelner einen Zusammenhang mit der Gesellschaft. Es ist die Masse selbst, die sich – meinetwegen vom Individuum bzw. von der gesellschaftlichen Atomisierung ausgehend – zu assoziieren sucht, um die Gesellschaft neu und frei hervorzubringen. Das ist so offensichtlich, dass der Autor es ausspricht: „Nicht das Einzelne wird ins System integriert, sondern das System aus dem Einzelnen entwickelt. Das ganze existiert hier ausschließlich um des Einzelnen willen. Wo die Stimmigkeit des Ganzen aus dem Einzelnen nicht gewährleistet werden kann, lässt Mahler lieber noch die Einheit fahren als das Einzelne gewaltförmig ins System zu quetschen.“ Soweit so Adorno bzw. ein Aspekt von Adorno. Denn es geht bei Mahler eben nicht nur darum, dass die Individuen in kein System gequetscht werden. Vielmehr planen diese Individuen den gemeinsamen „Durchbruch“ (Adorno) gegen dieses System. Natürlich wird die Energie dabei oft aufgestaut, um sich dann urplötzlich zu entladen. Aber Rückstauung ist nicht per se regressiv und Regression ist nicht per se schlecht. Die Bewegung folgt einfach den Anforderungen der wirklichen, entfremdeten Menschenwelt, in der die Enteigneten eben keine Machtmittel besitzen, weder bewaffnete Truppen noch Produktionsmittel, so daß sie, wenn sie irgendwie Erfolg haben wollen, ihre Träume und Energie in sich zurück stauen müssen, aber im gelungenem Fall keineswegs einfach tautologisch und in einem Hamsterrad gefangen, sondern um sukzessive den Druck aufzubauen, der dann gesellschaftliche Explosionen herbeiführt. Oder, wie der Autor eben richtig beschreibt: „Mahler macht sich hier ans Zünden jener Bombe, die die Fesseln sprengen soll, die die Menschen in Herrschaft und Knechtschaft halten.“ Wenn man dass beachtet, sind die die Offensive vorbereitenden Passagen auch keineswegs einfach „ewig aufs neue heruntergeleiert“, sondern – wie auch immer musiktheorethisch ausgedrückt – allemal zarte zum Lied ausgedehnte Varianten des Motivs der Bläser gleich zu Anfang. Eine queerere Variante von Ich hat einen Kameraden wird man nicht hören. Solcherlei „Suspension“ (Adorno) braucht jedenfalls die Mahlersche Variante der Offensive. Es versteht sich, dass eine so vorbereitete Offensive wiederum keineswegs einfach „wilde und getriebene Raserei“ ist, sondern ein geplante und organisierter Angriff, was man auch immer von dessen naiven, aber erschreckend freien Ausgang hält.
Um deutlicher zu sein: Bei Mahler sind keine Pogrome in Töne gesetzt, sondern der Versuch einer Revolution. Musikalisch gesprochen, geht es um die Überwindung der Tonalität, aber was ist die elende Herrschaft des Grundtons und seiner Vasallen anderes als die Herrschaft, die uns drückt. Es gibt natürlich Niederlagen bei Mahler und manchmal geraten seine Töne ordentlich unter die Räder, gerade so, als ob einige Schwarzhundertschaften mit einem Streik in Petersburg aufräumen. So gesehen, kommen Pogrome vor, aber gegen die Aufstandsbewegung gerichtet und selbst nicht naturalistisch in Töne gesetzt, sondern negativ als Leid bei den Aufbegehrenden gezeigt. Im Kopfsatz der Dritten fehlen solche Niederlagen aber, daher der Eindruck, dieses Werk sei optimistisch. (Realistischer ist die apokalyptische Sechste Sinfonie und hier besonders der Finalsatz.) Insbesondere der lärmende „Marsch“ am Ende der Durchführung des Kopfsatzes der Dritten ist eine soziale Explosion und keine solche Niederlage. Das sind wir, wie wir auszubrechen versuchen. Keineswegs aber ein vereinzeltes vom Volk verlassenes Individuum, vielmehr ein Produkt kollektiver Anstrengungen. Romantische Verklärung des Individuums, das ist eher Richard Strauss etwa mit „Ein Heldenleben“ oder Wagners Siegfried, Tannhäuser und Parzival. Vereinzelt mögen auch unsere kritischen Intellektuellen heute sein, die solche Schlachten nicht planen. Mahler sollte man tatsächlich eher mit den Ohren Rosa Luxemburgs hören, oder sogar mit denen der Anarchisten.
Damit kommen wir auf politische Fragen, die Mahler hier teilweise übergestülpt werden. Schon am Anfang des Artikels konstatiert der Autor mit Rekurs auf Freud, dass die Zivilisation „nichts als eine dünne Haut auf dem Ozean brodelnder Aggressionen und Leidenschaften“ sei, um sofort „ausdrücklich Partei für sie“, die Zivilisation, zu ergreifen. Danach kostet er vom brodelnden Chaos revolutionär sich formender Leidenschaft, diesem süßlichen Elixier des Teufels. Das ist sein zu bannendes Chaos: die Mahlersche Musik. Aber es geht ihm um Heute und das brodelnde Chaos heute, dass sind beispielsweise die Plünderungen in England 2011, die Aufstände, Streiks und Straßenschlachten in Griechenland. Die jeweilige Polizeireaktion ist diese angeblich dünne Haut der Zivilisation. Er hat Angst vor dem Chaos, von dem er zu viel gekostet hat, und zieht sich vorläufig ins scheinbar von der Zivilisation beschützte Schneckenhaus zurück. Während bei Mahler und Beethoven die den Sonatensatz abschließende Coda über die Reprise hinausstrebt und so die Sprengkraft der Entwicklung zurück ins Feld führt, endet der hier besprochene Artikel, indem er „theoretische Probleme“ anspricht, die Gelehrten Marx, Sohn-Rethel und Paschukanis erwähnt. Die Frage ist eher, ob diese Form der intellektuellen Rückstauung der Triebenergien auf die Dauer der brodelnden Leidenschaften Herr werden kann und wie der Lärm solcher sympathischen Intellektuellen aussieht, wenn es mal zu einem Durchbruch kommen sollte.
Franz Hahn