Schnittler
Keiner kommt hier lebend raus
Quelle: Das große Thier, Heft 3
Als „Arbeitsmarktdienstleister“ bezeichnet sich die Firma auf ihrer Homepage und diese Selbstbezeichnung ist ebenso nichts sagend wie die Umschreibung ihrer Tätigkeit: „Wir bieten interessierten Personen, Betrieben und öffentlichen Organisationen (Arbeitsagenturen, ARGEn, Kommunen, Behörden) ein umfassendes Dienstleistungsangebot rund um die Themen Arbeitsmarkt und Integration.“ Übersetzt: Hier handelt es sich um eine privat wirtschaftende Außendienststelle des Arbeitsamtes, die Vermittlungsarbeit auf Provisionsbasis übernimmt. In Frankfurt besitzt dieser „Arbeitsmarktdienstleister“ drei Filialen und ein mehrstöckiges Schulungszentrum in bester Lage. Dass „interessierte Personen“ und Betriebe die angebotenen Dienste freiwillig in Anspruch, nehmen ist sicherlich Blödsinn. Warum sollten sie? Derlei Firmen sind dazu gegründet worden, um diejenigen zu vermitteln, zu deren Weiterreichung in die Lohnarbeit sich das Amt außerstande sieht. Sie existieren seit Jahren in jedem Kaff. In informierten Kreisen geht man davon aus, dass pro Kopf bei erfolgreicher Vermittlung rund 2000 Euro Provision vom Arbeitsamt gezahlt werden. Man darf getrost davon ausgehen: Das Geschäft läuft blendend.
Wer als Lohnarbeitsloser und von Arbeitslosengeld abhängiger Mensch nicht fleißig genug Bewerbungen schreibt, Termine verpennt, angeordnete Maßnahmen verweigert (1Euro-Jobs, Bewerbungstrainings, unbezahlte Praktika, Werbeveranstaltungen von Zeitarbeitsfirmen etc.) oder sich ansonsten unwillig zeigt, jeden Blödsinn mitzumachen und jeden Drecksjob anzunehmen, um aus der Arbeitslosenstatistik herauszukommen, und lieber seine Zeit mit etwas ihm oder ihr sinnvoller Erscheinendem verbringt, fällt unter den Sanktionskatalog der „Mitwirkungspflicht“. 15 % Kürzung der Bezüge, 30% Kürzung der Bezüge, 45 % Kürzung der Bezüge und zuletzt Ernährungsgutscheine. Die konsequente oder nichtkonsequente Anwendung dieser Strafmaßnahmen obliegt dem „PAP“ (Persönlicher Ansprechpartner), dem Sachbearbeiter. Die damit notwendig einhergehende Willkür ist eine gewollte Vervollkommnung der repressiven Atmosphäre, die auf dem Arbeitsamt vorherrscht.
Die Androhung einer Kürzung brachte mich ebenfalls zum erwähnten Frankfurter „Arbeitsmarktdienstleister“. Für drei Monate sollte ich zweimal wöchentlich in dessen Büro antanzen, um mich vermitteln zu lassen.
Der junge Mann, dem ich dort gegenübersaß, war ein echter Profi. Mit allen psychologischen Wassern gewaschen. Ein Doktor Jekyll und Mister Hyde.
Während der ersten drei Termine war er freundlich, fragte scheinbar aus ehrlichem Interesse nach dem Privatleben und nach persönlichen Interessen, sprach von „individuellen Lebenswegen“, plauderte unverbindlich daher und erstellte während dieses Smalltalks ohne mein Zutun, ganz nebenbei das was er für eine professionelle Bewerbungsmappe hält (alles erstunken und erlogen). Kurzzeitig vermochte er sogar, mir einen gewissen den Arbeitsmarkt betreffenden Optimismus einzuflößen. Er versprach, keine Zeitarbeit zu vermitteln, schwadronierte von anständigen Löhnen und seinen guten Kontakten in die Welt der Arbeitgeber, prahlte mit seinen Vermittlungserfolgen und gab sich im Allgemeinen leutselig und gutmütig.
Einen Riss bekam dieses beruhigende Bild, als ich es partout nicht fertig brachte, auf einem Bewerbungsphoto ausreichend zu lächeln. Nach dem dritten Versuch mit seiner Digitalkamera, fing er unvermittelt an zu brüllen, drohte mit der Mitwirkungspflicht und machte ernsthafte Anstalten, meine Sachbearbeiterin telefonisch über mein Fehlverhalten zu informieren. Folgerichtig zog er in den kommenden Wochen hemmungslos die Daumenschrauben an. Von Vermittlung keine Rede mehr. Die gespielte Freundlichkeit war verflogen. Ich musste wöchentlich zehn Bewerbungen schreiben und in einem Vordruck Name und Emailadresse der Firma und einen individuellen Bewerbungstext als Nachweis eintragen. Als ich nach zwei Wochen aus Nachlässigkeit (er hat tatsächlich jede Firma auf ihre Existenz hin im Internet nachgegooglt und gegebenenfalls auch dort angerufen) ein falsches Anschreiben an die falsche Firma geschickt habe, wurde es noch schlimmer. Geschrei, wildes Gestikulieren, wüste Drohungen. Er prophezeite eine 45-Stunden Woche in einer Hanauer Spinatverpackfabrik, die er auch gerne zwangsweise vermitteln könne.
Trotzdem unterlief ich seine Maßnahmen wo es nur ging. Ich schrieb Bewerbungsschreiben an Freunde, versendete meinen Lebenslauf an falsche Emailadressen und bei zwei Bewerbungsgesprächen habe ich mich absichtlich danebenbenommen. Klappte ganz gut, seine Laune wurde aber naturgemäß immer schlechter. Das Geschrei und das penetrante Pochen auf Sekundärtugenden und längst widerlegte Propagandalügen („Sie können doch nicht auf Kosten der Allgemeinheit leben… haben Sie den überhaupt kein schlechtes Gewissen… denken Sie doch einmal an die Rente…“ etc.) wurde schier unerträglich.
Nachdem ich zwei Drittel dieser „Wiedereingliederungsmaßnahme“ hinter mich gebracht hatte, wurde ich in sog. „Seminare“ geschickt, die ab da wöchentlich stattfanden. Die Titel der ersten drei Veranstaltungen ließen nichts Gutes erahnen. 1. „Networking im Sinne meines zukünftigen Arbeitsplatzes“, 2. „Gesundheit und Stressbewältigung für die erfolgreiche Jobsuche“, 3. „Zwischenmenschliche Kommunikation am Arbeitsplatz“. Dauer: Jeweils sechs Stunden, plus einer halbstündigen Pause. Leiterin: Frau Doktor P. – eine grauberockte, hoffentlich kinderlose, etwa 40-Jährige Frau mit dunkelblondem Haar, lautstarkem Organ und sportlicher Figur. [0]
Der völlig enthemmte Arbeitsmarktvermittler, der mich in den Wochen zuvor unter vier Augen in die Mangel genommen hatte, saß auf seinem Posten nicht lediglich aufgrund schlechten Recruitments von Arbeitsmarktdienstleisterarbeitgeberseite. Seine Verbalinjurien waren keine unprofessionellen Patzer. Der Mann ist kein Unikat und ich hatte mit ihm nicht einfach „Pech gehabt“, wie ich bis dahin naiv mutmaßte. Der repressive Umgang hat System. Das erste „Seminar“ war der beste Beweis dafür.
Nach einer, auf das angekündigte Thema „Networking…“ hin ausgerichteten Fragerunde („benutzen Sie ein Handy… wer von Ihnen hat schon einmal von sozialen Netzwerken gehört… waren Sie schon einmal im Internet… Ihr Nachbar kann auch ein Teil ihres sozialen Netzwerkes werden. Sprechen Sie ihn einfach an…“) wurde ich zusammen mit einem 55-jährigen, arabischstämmigen Doktor der Philosophie [1], einer allein erziehenden Mutter von drei Kindern [2], einem ehemaligen Casinomitarbeiter [3], einem sich selbst als Kommunisten bezeichnenden Serben [4], einer jungen Frau aus Afrika [5], einer sehr unglücklich dreinblickenden Frau [6] und ein paar anderen Namenlosen (von den 20 vorgeladenen Personen konnten sich neun die Selbstachtung leisten und sind gleich daheim geblieben) dazu genötigt, soziale Situationen in einem Rollenspiel nachzustellen. Die Aufgabe bestand darin, z.B. in einer Kneipe ein Gespräch mit einer fremden Person zu beginnen, um in kürzester Zeit – „unaufdringlich, aber zielgerichtet“ – mit dem jeweiligen Gegenüber auf das Thema Lohnarbeit zu sprechen zu kommen. Nach dem Rollenspiel gab es eine Manöverkritik. „Bestimmen Sie in Ihrem sozialen Netwerk die relevanten Knotenpunkte und platzieren Sie sich in ihrer Nähe“. Frau Doktor P. glaubt an diese Formeln – so scheint es – und sie verbreitete weiteres entsprechend allgemeinplätzliches Geschwätz. Mit dem serbischen Kollegen – der während des Vortrags mehrfach lautstark anmerkte, dass er die ganze Veranstaltung für „Sklavenpropaganda“ halte – lieferte sie sich einige kurze verbale Gefechte, die sie mittels des kaltschnäuzigen Verweises auf die „Mitwirkungspflicht“ allesamt für sich entschied. Nach drei Stunden ging es mir durch bloßes Zuhören genauso mies wie dem abgewatschten Deliquenten.
Nach der Pause ging es ans Eingemachte. Ein zehnseitiger Katalog wurde verteilt, in dem die bisher vermittelten Networking- Weisheiten zusammengefasst waren. Mit einer Heftklammer angehängt waren zwei Formblätter, auf dem wir nun Personen aus unserem Bekanntenkreis eintragen sollten 0. Die arbeitsplatzmäßige Relevanz der einzelnen Sozialkontakte musste in einer Skala von eins bis sechs benotet und mit individuellen Vermerken pedantisiert werden.
Unmut regte sich im Publikum. Die dicke Frau, die vor mir saß, drehte sich hilfesuchend zu mir um und lächelte verschämt, als wolle sie fragen: „Ist das ernst gemeint?“. Die Afrikanerin meldete sich und teilte in schlechtem Deutsch mit, dass sie sich weigere, ihre Freundinnen und Freunde auf dem Blatt einzutragen. Der serbische Kommunist sprang ihr zur Seite und verkündete, sein Bekanntenkreis bestände sowieso nur aus Arbeitslosen, und dass deswegen dort keine Jobs zu holen seien, und die Schreibarbeit somit umsonst wäre. Frau Doktor war an der Grenze ihrer sozialtechnischen Fähigkeiten angelangt, und an diesem Tag brachte sie auch niemanden mehr dazu, bei einem weiteren Rollenspiel mitzutun („Knotenpunkte“ kennen lernen in der U-Bahn! [7]). Wir verbrachten den Rest des Seminars mit dem verordneten Lesen der von ihr selbst zusammengestellten Networking-Broschüre.
„Gesundheit und Stressbewältigung für die erfolgreiche Jobsuche“. Mit der selben Besatzung wie eine Woche zuvor saß ich erneut in dem schlecht belüfteten Seminarraum. Die Frau im grauen Rock in ihrer Rolle als Mentorin des Prekariats vor der Tafel. Begonnen wurde wieder mit einer Fragerunde. Ausschließlich Suggestivfragen, die einem einzigen Zweck dienten, nämlich weiter Propaganda zu verbreiten. „Was können Sie an ihren Essgewohnheiten verändern, um gesünder zu leben?“. Gerne wäre sie nach dieser Frage auf die Ernährungspyramide zu sprechen gekommen, die sie neben der Tafel auf eine Leinwand projizierte. Leider wurde der gewünschte Ablauf erneut torpediert. „Ich kann gar nichts tun, weil ich als Hartz4-Empfängerin nicht genug Geld habe und immer das kaufen muss, was ich mir gerade leisten kann“, vermeldete eine der Frauen, und nachdem auch der nächste sich weigerte, die gewünschten Antworten zu geben, und stattdessen begann minutenlang über verschiedene Ernährungsphilosophien zu referieren, die er sich vermutlich auf der GMX-Startseite und bei Wikipedia zusammengelesen hatte, gab die Seminarleiterin genervt auf und switchte zur nächsten Frage. „Was können Sie gegen den alltäglichen Stress tun, den wir alle kennen? Stellen Sie sich doch bitte einmal eine alltägliche Situation vor. Sie fahren mit dem Auto auf der Landstrasse und vor Ihnen fährt ein Traktor…“. Sie hatte ihren Satz noch nicht zu Ende gebracht, da wurde sie schon aus dem Publikum unterbrochen. „Als Arbeitslose dürfen wir doch gar kein Auto besitzen. Das ist doch schon seit Jahren Gesetz“. Einige lachten und die Laune der Dame verschlechterte sich zusehends. „Wenn Sie hier weiter stören wollen, kann ich sie auch nachhause schicken und ich berichte Ihrem Sachbearbeiter von Ihrem Verhalten… das fängt ja gut an heute“. Nach dieser kleinen unplanmässigen Aufregung sammelte sie sich kurz, blickte in ihre Unterlagen und fuhr mit der nächsten Frage fort. „Sagen Sie mir doch bitte einmal ein Beispiel, wie Sie Ihr soziales Umfeld verändern könnten, um in Zukunft weniger Stress zu haben“. Der studierte Araber meldete sich und gab eine Antwort, die ebenfalls auf Zustimmung im Publikum traf. „Ich kann an meinem sozialen Umfeld überhaupt nichts ändern. Wenn ich auf die Strasse gehe und die ganzen armen Leute sehe, dann geht es mir schlecht. Ich kann nichts ändern, dafür bräuchte ich viel Geld, um den Leuten etwas geben zu können“. Unvermittelt fing sie an zu brüllen. „Wir diskutieren hier nicht politisch. Wir sprechen hier nur über Dinge, die Sie an sich selbst verändern können, um stressfreier zu leben, damit Sie bald einer geregelten Tätigkeit nachgehen können“.
Damit war die inhaltliche Stoßrichtung dieser Veranstaltung klar zu erkennen. Das allgemeine Elend der kapitalistischen Produktionsweise, das es einem zum bloßen Arbeitskraftbehälter degradierten Menschen sukzessive verunmöglicht, weiterzumachen wie bisher, ohne dabei ernsthaften psychischen und physischen Schaden in Kauf nehmen zu müssen, wird in ein persönliches, von jedem selbst zu lösendes Problem der richtigen Lebensführung umgedeutet [8]. Das auf entsprechende Selbstoptimierung getrimmte bürgerliche Konkurrenzsubjekt – in diesem Fall glaubwürdig verkörpert durch Frau Doktor P. – entlässt niemanden aus dem selbst geschaffenen Hades und verfolgt als Wächter der Totenwelt Jene, die sich anschicken, aus diesem Feuerkreis der Selbstentfremdung zu entfliehen. Wenn es mir schlecht geht, soll es dir auch schlecht gehen, lautet das unausgesprochene Credo der „Leistungsträger“. Deren Widerpart, die Mitglieder der industriellen Reservearmee, die (Lohn-) Arbeitsscheuen, die bis zur Arbeitsunfähigkeit Beschädigten, diejenigen, die hartnäckig auf das beharren, was sie für eine „würdige Entlohnung für ehrliche Arbeit“ halten, und all die Anderen, die aus mannigfaltigsten Gründen nur fressen und nichts zur alltäglichen Reproduktion und Produktion des materiellen gesellschaftlichen Reichtums beitragen, müssen mittels Drohungen, Erniedrigungen, einem Leben in materiellem Mangel und anderer Quälereien zu befolgen lernen: Findest du keinen Job, weil auf dem Arbeitsmarkt deine Arbeitskraft nicht benötigt wird, bist du selber schuld. Drücke erneut die Schulbank, bilde dich weiter, nimm ab, lebe gesund, sei immer freundlich, friß Dreck und nenne es ein Festmahl… Kurz: Recke, strecke, strebe und geissel dich, rede den Leuten nach dem Mund, tritt nach unten, buckel nach oben, räume die Konkurrenz aus dem Weg, schreibe Bewerbungen und ertrage jede Ablehnung,… aber denke bloß nicht darüber nach und thematisiere auf keinem Fall den Umstand, dass die eigene, ausschließlich an den Verwertungsbedürfnissen des Kapitals gemessene, objektive Überflüssigkeit, die sich tagtäglich schmerzhaft ins Bewusstsein drängt, etwas mit dem menschenfeindlichen Charakter der gesellschaftlichen Verhältnisse und der zugrunde liegenden kapitalistischen Produktionsweise zu tun hat. Schwindel nicht bloß, glaube an den Schwindel! [9]
Von dieser bürgerlichen Lebenslüge – in deren variationsreichen Erzählungen der Mensch immer wieder als Robinson, als vorgesellschaftlich lebender Einzelner figuriert – leben abertausende Lebenshilfebücherproduzentinnen und Ratgebersendungsmacher. Diese ideologische Vorstellung ist ein weit verbreiteter Allgemeinplatz, und Frau Doktor P. wollte sich diese Tatsache instinktiv zunutze machen, um die Seminarteilnehmerinnen und Teilnehmer über ihr individuelles Limit hinaus unter Druck setzen zu können [10]. Die Leute haben dieses Spielchen aber nicht mitgemacht. Für die allein erziehende Mutter von drei Kindern, für die junge Afrikanerin, für den arabischstämmigen Philosophen und alle anderen war die Schmerzgrenze erreicht. Keine Ideologie ohne materielle Basis. Das Geschwätz von Frau Doktor P. ging an ihrer Lebensrealität vorbei und damit blieb für sie jede Möglichkeit, den verlangten konstitutiven Akt des Selbstbetrugs nachzuvollziehen, verstellt.
Nach der Pause wurde Schlaflosigkeit als Quelle für alltäglichen Stress ausgemacht. „Was kann man tun gegen Schlaflosigkeit?“. Eine reguläre Wortmeldung vom serbischen Kommunisten: „Man kann die ganze Nacht fernsehen, wenn man arbeitslos ist. Morgens um zehn fallen die Augen schon von alleine zu“. Wieder Gelächter, wieder Geschrei vom Lehrerpult.
Nun begann sie, mit den existentiellen Ängsten und Wünschen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu spielen. Sie befragte die mehrfache Mutter (und das perfideste ist: Diese hatte zuvor berichtet, wie sie sich mit einem Nagelpflegeservice selbständig zu machen versucht hatte, nachdem sie der Mann verlassen hatte. Nach einer Pleite saß sie nun tief in der Schuldenfalle und musste zum Arbeitsamt gehen), ob sie nicht den Wunsch hege, ihren Kindern einmal einen Urlaub in fernen Ländern zu gönnen. „Ja, das wünsche ich mir schon, ich glaube nur kaum, dass ich mir das jemals leisten kann als Ungelernte“. Die Antwort klang gequält und das zuvor heiter gestimmte Publikum verstummte. Das zielsicher bediente Bild der treu sorgenden Mutter machte auf unterschiedliche Weise betroffen. Die Afrikanerin blickte verschämt auf den Boden und der arabischstämmige Philosoph (selber Vater von vier erwachsenen Sprösslingen) murmelte: „Du musst neu heiraten“.
Die bedrückende Zwangslage der Frau war allen klar, und jeder Mensch mit einem sozial verträglichen Mindestmaß an Empathie hätte an dieser Stelle mit der eindringlichen Fragerei aufgehört. Nicht so Frau Doktor P., die meinte einen Hebel zur Unterminierung des trotzig präsentierten Selbstbewusstseins gefunden zu haben. Zielsicher wendete sie sich mit der nächsten Frage an das gesamte Auditorium und an die Eltern unter uns im Speziellen. „Denken Sie doch einmal an das Alter. Sie wollen doch bestimmt einmal eine anständige Rente bekommen und nicht Ihren Kindern auf der Tasche liegen müssen?“. In das anschließende ratlose Gemurmel platzte erneut der Serbe und es entwickelte sich ein Streitgespräch zwischen ihm, dem Araber und der Seminarleiterin, das nach wenigen Minuten in wildes Geschrei mündete.
Serbe: „So etwas können Sie der Frau doch nicht sagen, Sie wissen doch ganz genau, dass sie auf dem Arbeitsmarkt nur schlecht bezahlte Zeitarbeit finden wird“.
Doktor P. : „Das ist nicht ganz richtig. Auch Zeitarbeitsfirmen zahlen inzwischen in vielen Branchen den Mindestlohn. Wir hatten hier gestern einen Vertreter von RXXX (eine große Zeitarbeitsfirma. Anm. d. Verf.) und wären Sie hier gewesen, hätten Sie erfahren können, dass diese Klischees, die überall verbreitet werden, längst nicht mehr stimmen“.
Serbe: „Na und? Mehr als tausend Euro monatlich kommt nicht herum. Was man dabei an Beiträgen einzahlt, reicht niemals für eine gute Rente. Das Scheissargument mit der Rente…, das ist sowieso eine Lüge.“
Doktor P. (in einem extrem herrischen Tonfall): „Wir diskutieren hier nicht politisch!“ (Nach einer kurzen Atempause und in einem schlagartig einsetzenden freundlicherem Tonfall:) „Anstatt hier immer nur rumzumeckern, sollte Sie lieber einmal von ihren Träumen sprechen und diese versuchen zu verwirklichen“.
Serbe: „Natürlich habe ich Träume. Ich wäre gerne Millionär“. Alle lachten.
Doktor P. : „Nein, machen sie sich einmal realistische Träume, Träume, die Sie hier und jetzt auch verwirklichen können“.
Araber: „Du verstehst das nicht, du musst davon träumen, für 850 Euro netto, 45 Stunden pro Woche zu arbeiten. Wenn du davon träumst, dann sind deine Träume realistisch“. Alle lachten ausgiebig, sogar die dicke Frau in der ersten Reihe. Der Araber und der Serbe, die nebeneinander saßen, gaben sich zur gegenseitigen Aufmunterung High-Five. Doktor P. : „Bitte lassen Sie das“.
Ab diesem Punkt wurde es unübersichtlich, und es ist mir nicht möglich, die geführte „Diskussion“ wiederzugeben. Frau Doktor verbreitete noch weiteren gehässigen Unsinn und brüllte noch mehrfach durch den Raum „Wir diskutieren hier nicht politisch“. Auf die Androhung ernsthafter Sanktionen erwiderte der Serbe, dass ihm diese inzwischen scheißegal seien und das er gerne von Essensgutscheinen lebe, wenn er nur nicht noch einmal so eine „Sklavenpropaganda“ zu hören bekomme. Bezug nehmend auf die aktuelle Nachrichtenlage schob er noch hinterher, dass ihm die Bombardierung Kerneuropas mit Atombomben durch Nordkorea ganz recht sei – „…damit der Dreck hier ein Ende hat“.
Die Pause beendete diese Diskussion. Anstatt nach drei Zigaretten wieder brav in das Seminar zurückzukehren, schaltete ich mein Mobile aus, ging nach Hause und legte mich schlafen. Am nächsten Tag bin ich zu meiner Sachbearbeiterin auf dem Arbeitsamt gegangen und habe ihr mitgeteilt, das ich den bösen Spaß nicht mehr mitmache und lieber eine Kürzung in Kauf nehme, anstatt meine Lebenszeit und Nervenkraft weiterhin mit diesen „Seminaren“ zu vergeuden. Sie hörte sich meine Einwände geduldig an und teilte mir mit, dass sie meine Gründe für vernünftig halte und versprach mir, von einer Kürzung der Bezüge Abstand zu nehmen. Diese Reaktion hatte ich beileibe nicht erwartet. Da war sie wieder, die allgegenwärtige Willkür auf dem Arbeitsamt. •
Anmerkungen:
[0] Anhand ihrer Ausführungen und nach ein paar kritischen Fragen war leicht festzustellen, dass Frau Doktor P. offensichtlich prinzipiell nicht in der Lage ist, Freundeskreis und Bekanntenkreis, Geschäftskontakte und private Beziehungen begrifflich auseinander zuhalten. Ein erschreckendes Ausmaß an Selbstentfremdung!
[1] Akademischer Titel nicht anerkannt, zu alt: Arbeitslos.
[2] Scheinselbstständigkeit, Schulden, dreifache Mutter: Arbeitslos.
[3] Arbeitgeber pleite: Arbeitslos.
[4] Jahrelange konsequente Arbeitsverweigerung: Arbeitslos.
[5] Wenig Deutschkenntnisse, schwarz: Arbeitslos.
[6] Offensichtlich zu übergewichtig: Arbeitslos.
[7] Ich versichere an dieser Stelle, wie auch bei dem Rest dieses Artikels, dass ich mir nicht ein Wort ausgedacht habe, und dass sich alles so zugetragen hat, wie ich es hier beschrieben habe.
Leseempfehlungen:
[8] „Das Gesetz endlich, welches die relative Übervölkerung oder industrielle Reservearmee stets mit Umfang und Energie der Akkumulation in Gleichgewicht hält, schmiedet den Arbeiter fester an das Kapital als den Prometheus die Keile des Hephästos an den Felsen. Es bedingt eine der Akkumulation von Kapital entsprechende Akkumulation von Elend. Die Akkumulation von Reichtum auf dem einen Pol ist also zugleich Akkumulation von Elend, Arbeitsqual, Sklaverei, Unwissenheit, Brutalisierung und moralischer Degradation auf dem Gegenpol, d.h. auf Seite der Klasse, die ihr eignes Produkt als Kapital produziert.“(Das Kapital, MEW Band 23, S. 675) – Dies alles soll also aus individuellen Fehlern hervorgehen und zu beseitigen sein (Anm. der Verf.).
[9] Es ist, als hätte dieser Abschaum Brechts „Flüchtlingsgespräche“ gelesen und sich Herrenreitters Methode zu eigen gemacht (Anm. der Verf.). »Kalle: „Ich erinnere mich, dass wir gleich am ersten Tag eine gute Lektion erhalten haben. Wie wir ins Klassenzimmer gekommen sind, gewaschen und mit einem Ranzen, und die Eltern weggeschickt waren, sind wir an der Wand aufgestellt worden, und dann hat der Lehrer kommandiert: ‚Jeder einen Platz suchen‘, und wir sind zu den Bänken gegangen. Weil ein Platz zu wenig da war, hat ein Schüler keinen gefunden und ist im Gang zwischen den Bänken gestanden, wie alle gesessen sind. Der Lehrer hat ihn stehend erwischt und ihm eine Maulschelle gelangt. Das war für uns alle eine sehr gute Lehre, daß man nicht Pech haben darf.“ Ziffel: „Das war ein Genius von einem Lehrer. Wie hat er gehießen?“ Kalle: „Herrenreitter.“ … Ziffel: „… Ein wie feines Modell im Kleinen der aufgestellt hat mit zu wenig Bänken, und doch habt ihr die Welt, die euch erwartet hat, klar vor Augen gehabt nach so was. Nur mit ein paar kühnen Strichen hat er sie skizziert, aber doch ist sie plastisch vor euch gestanden, von einem Meister hingestellt! Und ich wett, er hat’s ganz instinktiv gemacht, aus der reinen Intuition heraus! Ein einfacher Volksschullehrer!“« (Brecht, Flüchtlingsgespräche, Gesammelte Werke Band 14, S. 1405f)
[10] „Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d.h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht“. (Die deutsche Ideologie, MEW Band 3, S. 5–530)