Karl Rauschenbach
Selbstgespräch unter vier Augen
Ein Freund hatte das Kunststück zu Wege gebracht, in der demokratischen Wochenzeitung Jungle World einen Artikel über „Der kommende Aufstand“ unterzubringen. Bei einigen Flaschen Wein stellte ich ihm die Frage, warum er denn ein Pseudonym benutze, wo doch die Gefahr strafrechtlicher Verfolgung bei einem harmlosen Blatt wie der Jungle World nicht im Ernst besteht. Er antwortete, daß man nie den Aspekt der potentiellen Verfolgung vergessen solle, der Grund aber sei in diesem Falle ein anderer.
ICH: Und welcher?
ER: Es ist der Lektor, der mich dazu zwingt.
ICH: Der Lektor?
ER: Ja, der Lektor. Er übernimmt die Funktion des Zensors, und nachher kommt ein Text dabei heraus, den man gar nicht geschrieben hat.
ICH: Das mußt du genauer erklären!
ER: Es fängt mit Kleinigkeiten an, diese Lektoren ändern lauter Wörter und damit ihren Sinn. Aus „letzten Jahres“ wird „vergangenen Jahres“, aus „Arbeitergewalt“ die „Gewalt von Arbeitern“. Wenn ich vom „sprichwörtlichen Bossnapping“ schreibe, so erscheint schließlich „‚Bossnapping‘ wird zum stehenden Begriff“, wenn bei mir hartgesottene Anarchisten „teilweise bleich wurden“, so „erbleichen“ sie plötzlich. „Topverdiener“ werden zu „Spitzenverdienern“, „Aktive“ zu „Protestierenden“, statt „Zusammenhang“ schreiben sie bürokratisch „Kontext“. Wenn ich schreibe, das Buch „versprühe einen seltsamen Optimismus“, so wird dieser plötzlich „verbreitet“. Oft kommt es zu unnötigen Streichungen. Will ich z.B. einen Abschnitt in flapsiger Sprache schreiben, werden alle Worte, wie „eh“, „da“ oder „ja“ herausgenommen. Schreibe ich davon, daß „der Ball nach Frankreich zurückging“, fällt das als unerlaubtes Bild weg.
ICH: Das scheint mir alles noch nicht besonders krass.
ER: Kleinvieh macht auch Mist. Auch die zahllosen kleinen Eingriffe verändern den Stil. Oft wird ein wenig Sprachhygiene betrieben, Metaphern und Ausdrücke werden gestrichen. Auch mit der Interpunktion tun sich heutige Lektoren schwer. Zum Beispiel ist das Semikolon verboten, als ob es kein Zeichen zwischen Punkt und Komma gäbe. Auch Gedankenstriche sind vielfach tabu. So kommt es auch durch die kleineren Änderungen zu Sinnverdrehungen. In Frankreich gab es wegen der Umstrukturierung der Ölindustrie einigen Aufruhr, ich habe das geschrieben. Plötzlich wird „Umstrukturierungen“ in Anführungszeichen gesetzt. Warum auch immer. Als ob es keine Umstrukturierung geben würde.
ICH: Naja. Über einige der Änderungen könnte man doch auch reden.
ER: Sicherlich. Aber diese Zunft fragt aber nicht nach, sie greift selbstvergessen in die Texte anderer ein. Weitere Beispiele gefällig: Werden bei mir von Linken bei den Regierungstreffen „Kämpfe stellvertretend ausgeführt“, so läßt die Jungle World die Linken „Kämpfe führen“. „Brauchen“ bei mir die offiziellen Linken Ausflüchte, so „gebrauchen“ die Linken plötzlich Ausflüchte. Bei mir werden „Gefangene gemacht“, in der Endfassung werden „Protestierende festgenommen“. Ich rede generalisierend von „Quatschköpfen der Medien“, und es werden daraus „einige Quatschköpfe in den Medien“.
ICH: Sie sind halt selbst Medienaffen.
ER: Bei mir soll die Armut „Motor“ von schüchtern-heftigen Revolten sein, und prompt wird sie zur „Ursache“, obwohl das nun mal etwas anderes ist. Bei mir wird ein Minister „blutig gehauen“, der Lektor will lieber, daß er „heftig verprügelt“ wurde, was so eigentlich nicht stimmt. Bei mir geht die Gewalt von „allerlei Gesellschaftssegmenten“ aus, in der Endfassung zieht sich die Gewalt „durch die Gesellschaft“. Mein Text war nicht lang, aber es gibt haufenweise solcher unmotivierter Änderungen. Eigentlich müßte unter den Artikeln statt des Namens des Autors Xy immer stehen: „nach Xy“ oder „freie Bearbeitung eines Textes von Xy“.
ICH: So richtig verstehe ich die Tragweite noch immer nicht, auch wenn hier natürlich etwas unverschämt in den von Dir gemeinten Sinn eingegriffen wird. Du neigst zum Lamentieren!
ER: Es geht aber über zur Fälschung. Ich spreche von „temporären Vereinigungsversuchen“ der revolutionären Opposition, und daraus werden „temporäre Vereinigungen“. Es war mir wichtig zu betonen, daß die verschiedenen Gruppen dieser Opposition sich als Versuche begreifen sollten. Der Assoziationsprozeß ist ja sehr fragil, es kann jederzeit zu Zerwürfnissen kommen, und daher spreche ich mit Absicht von einem „fragilen Prozeß“. Sie machen mir einen neutralen „Prozess“ draus.
ICH: Viele der Änderungen betreffen ja auch direkt diese Zeitung, die sich festgesetzt hat und partout nicht verschwindet, ganz ähnlich wie bei der Taz. Natürlich kann die J ungle world sich nicht als „fragil“ wahrnehmen, und sie würde sich gerne aus der allgemeinen Journalistenschelte ausnehmen. Trotzdem verändert das alles doch nichts Substantielles, oder?
ER: Wie man es sieht. Außerdem muß man immer wieder Peinlichkeiten lesen, die man nicht verbrochen hat. (Es würde ja genügen, die selbstverschuldeten Stilblüten zu ertragen.) Über einige französische Unruhen heißt es in der Endfassung: „das Niveau der Aktionen ist höher, die Reflexion der Akteure geringer“. Ich wollte auf den Selbstwiderspruch der aktuellen Praxis hinaus, daß sie praktisch vieles blockieren, kaputt machen, aber im Gegensatz dazu begrifflich alles in Takt lassen. Meine Formulierung war auch nicht besonders gelungen, aber immerhin präziser: „das Niveau der Aktionen immer höher als die Reflexion der Akteure“. Sprache ist sehr sensibel, und wenn man genauer hinguckt, ist es sehr vertrackt, etwas so auszudrücken, wie man will. Gerade wenn es, wie hier, um Erkenntnistheorie geht! Kann der Reflexionsgrad von Akteuren groß oder klein sein, hoch oder niedrig? Man spricht von Reflexionsniveau und offensichtlich stört man sich nicht daran. Man muß im Zweifel sehr tolerant sein, wenn es um Gedanken geht, die noch in der Schwebe sind. Ich wollte auf einen Widerspruch zwischen Theorie und Praxis hinaus. An anderer Stelle schreibe ich von „überbordender“ Praxis und wollte wieder darauf hinaus, daß da etwas vor sich geht, was sich der Reflexion der Akteure entzieht, daß sie einen Schritt vorausgehen, ohne zu wissen, was das soll. Daher spreche ich auch einmal von „aufblitzender Energie“ der Protestanten. Beides wurde herausgestrichen.
ICH: Bei der Sprachhygiene waren wir schon.
ER: Richtig, aber das ist kein uninteressanter Punkt: Er betrifft immer den Inhalt. Bei mir können z.B. die offiziellen Linken „naturgemäß“ nichts mit diesem Buch – „Der kommende Aufstand“ – anfangen. Man kann das auf jeder Veranstaltung beobachten; sie sind so in ihrer Rolle, daß sie gar nicht die Fragen bemerken, die dieses Buch stellt, und schon gar nicht ihre eigene Infragestellung thematisieren können. Aber „naturgemäß“ darf nicht sein.
ICH: Puh.
ER: Das Problem ist ja, daß Lektoren meistens nicht wissen, worauf es ankommt. Die momentanen Zeitungen verfolgen ja ganz andere Ziele als wir – so sie denn Ziele verfolgen. Werden dann ganze Sätze entstellt, so sind immer unwillkürlich hintersinnige Ideen berührt, die ja vielleicht in einer Sprache vorgetragen werden müssen, die nicht gebräuchlich ist, was nicht heißen muß, sie könnte dies nicht werden.
ICH: Okay ...
ER: Ich schreibe, die Unruhen in Griechenland 2008 gingen vom „anarchistischen Exarchia“ aus. Daraus wird dann ein „auch von Anarchisten bewohnter Athener Stadtteil Exarchia“. Mir ist es egal, ob in Exarchia auch Leute wohnen, die keine Anarchisten sind – es wird wohl die Mehrheit sein; aber es war halt das anarchistische Exarchia, das den Aufstand angefangen hat und nicht das nicht-anarchistische. In der Druckfassung geht der Aufstand stattdessen in einem Stadtteil los, der auch noch von Anarchisten bewohnt wird. Der unmittelbare Zusammenhang – auf den hier alles ankommt – wird gekappt. Gleich darauf schließen sich bei mir „die Ränder der Gesellschaft kurz fristig zusammen“. Also die Ränder selbst. Im gedruckten Text „schlossen sich Menschen vom Rand der Gesellschaft kurzfristig zusammen“.
ICH: Können sich Ränder zusammenschließen?
ER: Keine Ahnung, aber es ist objektiver gesprochen und hat einen anderen Sinn. Darauf kommt es an. Guckt man sich Sätze genauer an, werden sie oftmals zweifelhaft. Wie gesagt: Die Sprache ist fragil und muß letztlich erst erfunden werden. Es mag ein wenig Eitelkeit eine Rolle spielen, aber es geht um mehr. Weiteres Beispiel gefällig? Bei mir ist das Polytechnikum ein „Sammelplatz“ des Aufstandes, der Lektor macht daraus einen „Versammlungsort“. Wieder eine andere Perspektive; sammeln ist passiver, wenn vielleicht auch nur minimal. Alle drei letztgenannten Änderungen betreffen ein und denselben Gedanken und sie ändern signifikant den Inhalt.
ICH: Hier fängt es tatsächlich an, interessant zu werden, indem es sich um eine andere Beschreibung des realen Aufstandprozeßes handelt.
ER: Richtig. Ich schrieb auch etwas über die Besetzung einer Parteizentrale in England: „Journalisten und Politiker versuchten, die Sache noch auf eine Minderheit abzuwälzen.“ Wenigstens lasse ich offen, ob es nicht doch eine Minderheit gewesen ist. Die Videos im Netz wirken ganz so, als ob da einige Vermummte die Türen aufgebrochen hätten, während die Masse sich noch als Publikum verhielt und eifrig mit ihren Kameras photographierte. Daraus wird: „Journalisten und Politiker versuchten noch, diesen Protest als die Sache einer Minderheit erscheinen zu lassen“ – als ob es ganz sicher keine Minderheit gewesen wäre. Noch am Rande: Außerdem wird England zu Großbritannien. Ich wollte aber nicht über Wales, Schottland oder Irland reden.
ICH: Die Frage der Nation ein anderes Mal. Wieder wurde dir eine andere Auffassung des revolutionären Prozesses untergeschoben. Und das, wo die Rolle der radikalen Minderheiten gerade jetzt so wichtig ist, da wir eine radikale Minderheit sind.
ER: Das ist die Regel. Bei mir „stammeln die Studenten demokratische Forderungen“. In der Zeitung erscheint: Sie „stammeln Forderungen, die auch auf einem Parteitag der Sozialdemokraten erhoben werden könnten.“ Keine Ahnung, ob das stimmt. Ich würde glauben, eher nicht, da die Sozialdemokraten die Forderungen distinguierter stellen und in der Form der Politik. Das können höchstens die Studentenführer, von denen es zum Glück kaum welche gibt. Die Straßenstimmen sind viel naiver, und mit den richtigen Fragen könnte man auch radikalere Phrasen herauskitzeln. Sie sagen den Medien oft, was diese hören wollen.
ICH: Wäre mal interessant, selbst Interviews zu führen.
ER: Um wieder auf diese Schrift aus Frankreich zu kommen. Bei mir wird ihr „ein gewisser prophetischer Glanz verliehen“. Nämlich dadurch, daß sie die Ereignisse von Griechenland 2008 vorwegnimmt. Die Jungle World will das nicht.
ICH: Es darf keine Propheten geben?
ER: Genau. Stattdessen lieber Götzendiener: Die Schrift wird nach Jungle World „als prophetisch wahrgenommen“. Die meisten, die ich kenne, haben allerdings eher Angst davor, es könne ein Kult um dieses Buch entstehen, welches eh mehr so ein Medienhype sei. Nachher gibt es noch Revolution. Die Jungle World – die so tut, als ob es ein Medienhype wäre – verdreht daher die Sache. Nicht das Buch sei prophetisch, sondern das mystifizierte Publikum spreche ihm zu, es sei prophetisch.
ICH: Die Jungle World hat das Buch erst besprochen, als ihre Kollegen von den anderen demokratischen Blättern es bereits besprochen hatten. Für sie erscheint es als das, was es für sie ist: als Hype. Hätte das Feuilleton nicht geschrieben, sie hätten es nicht gelesen, geschweige denn besprechen lassen.
ER: Ja, und dann werde ich auch noch als „Revolutionsexperte“ verhohnepipelt.
ICH: Wieder: Für sie erscheinst du so; sie haben von so was keine Ahnung. Bislang hat sich kein Redakteur getraut, seine eigene Meinung z.B. zu diesem Buch zu publizieren.
ER: Vielleicht machen sie tatsächlich nur, was so eine „demokratische“ Zeitung halt macht. Du siehst aber daraus, warum ich dringend ein Pseudonym brauchte. Man hat es mit ängstlichen Zeitgenossen zu tun, die noch dazu etwas begriffsstutzig sind. „Der kommende Aufstand“ wurde „freiwillig“ übersetzt, was ja an sich schon interessant ist – weswegen ich es erwähnt hatte: Neben der kommerziellen Ausgabe gibt es auch eine revolutionäre Ausgabe, die sogar besser übersetzt ist. Das ist die Art, auf welche sich solche Schriften verbreiten. Das „freiwillig“ wurde naturgemäß gestrichen.
ICH: Wir kreisen ums Thema: Die Jungle World ist weder freiwillig produziert, noch würde jemand Artikel aus ihr übersetzen. Die Lohnschreiber kennen das halt nicht, daß jemand am Inhalt interessiert ist.
ER: Es finden sich im „Kommenden Aufstand“ mannigfaltige anarchistische Einflüsse. Einer von ihnen ist Kropotkin, der die Sache mit der Kommune ausgeführt hat. Also schreibe ich, „daß dieses Buch starke Anleihen am Anarchismus nimmt, namentlich am kommunistischen Anarchismus eines Kropotkin und dessen Kommuneutopie.“ Es gibt daneben auch Blanqui, Bakunin, Durruti, Debord und andere Anarchisten. Daraus wird, „dass dieses Buch starke Anleihen am kommunistischen Anarchismus eines Kropotkin und dessen Kommune-Utopie nimmt.“ Die anderen Einflüsse fallen heraus.
ICH: Naja, jetzt wirst du endgültig redundant und wir sollten aufhören, wenn wir nicht mit einem dummen Gefühl aus diesem Gespräch gehen wollen.
ER: Stimmt. Aber die Sache mit den Geschlechtern liegt mir noch am Herzen.
ICH: Geschlechter?
ER: Es hat sich ja der Gleichheitsfeminismus durchgesetzt, es müssen immer beide Geschlechter erwähnt sein, wenn man sich auch fragt, wozu?, wenn doch vorgeblich kein Unterschied besteht. Ich dagegen denke, es besteht momentan ein essentieller Unterschied, sonst gäbe es nicht diese Fixierung auf die unterschiedlichen Geschlechter. Jedenfalls habe ich durchweg die männliche Form benutzt, und i. d. R. gab das Sinn. In den Banlieues und sonstigen Krawallen waren viele Männer, und wenn auch Frauen da waren, so haben sie sich männlichen Formen angeschlossen. Auch Politik ist eine männliche Sphäre, mag es da auch eine Dr. Merkel geben; ich hänge im Zweifel nicht an Biologie.
ICH: Na und?
ER: Die männliche Form wurde erlaubt. Aber an einer Stelle wiederum habe ich explizit die weibliche Form benutzt. Jede Leserin des „Kommenden Aufstands“ sei durch dieses Buch gefragt, „was sie zu tun gedenke“. Statt mir – was immerhin konsequent gewesen wäre – die männliche Form einzusetzen, benutzt der Lektor plötzlich beide Formen: „was sie oder er zu tun gedenke“. Es kommt ihm gar nicht in den Sinn, daß man auch explizit Frauen fragen kann, was sie denn jetzt zu tun gedenken, nachdem die Männer mit ihrer konfusen Straßengewalt bereits gezeigt haben, was sie tun.
Ich stellte noch die Frage, warum er überhaupt für solche Blätter schreibe, und er antwortete, daß ja im wesentlichen doch das drin gestanden hätte, was er für diesen Anlaß ausdrücken wollte. Wenn man von vornherein die Idee aufgebe, es sei ein von einem selbst verfaßter Text, so könne man auch mit der Presse kooperieren. Zumindest bis es eine oppositionelle Presse gebe, was Vorrang habe. Dann aber müsse ein neues Prinzip eingeführt werden, nämlich das der freien Übereinkunft. So naiv es sei, so er noch weiter: „Der Schreiber eines Textes autorisiert die letzte Fassung, und die Redaktion hat höchstens die Möglichkeit, den Text als Ganzes abzulehnen. Vor diesem Hintergrund können natürlich auch eine Redaktion oder ein Lektor Vorschläge für Verbesserungen machen, Unklarheiten ansprechen etc. Schließlich schreiben alle nicht besonders gut und die Gedanken sind noch sehr diffus. Die Entscheidung muß aber – um böses Blut, Mißverständnisse und vor allem Sinnverdrehungen zu vermeiden – unbedingt bei denen liegen, die sich für einen Text verantwortlich zeigen. Wenn man das berücksichtigt, können, wie gesagt, alle Verbesserungsvorschläge einem Text sehr nützlich sein. Aber das betrifft natürlich erst unsere eigene Presse. Dann werden die Pseudonyme wegen der Verfolgung wichtiger. Bis dahin werden sie – neben anderen Gründen, die hier weggelassen werden können - eher benutzt, um der Verstümmelung durch die Lektoren zu entgehen.“