Karl Rauschenbach
Dokumente rund um eine griechische Walpurgisnacht
Im Dezember 2008 tat sich kurz der Boden auf und die Negation erlebte einige schöne Tage in Athen und Griechenland. Beleuchtet von zahlreichen wild gelegten Feuern, flankiert von zahllosen Steinen und Molotowcocktails und mit dem seltsamen Geruch von Tränengas in der Nase feierten Tausende ihre obskure Fete. Die Geschäftszonen wurden zerstört, Polizeistationen systematisch angegriffen und an den Wänden konnte man lesen: „Eine Stadt, die blüht, eine Stadt die brennt“, „Wir sind ein Eindruck aus der Zukunft“ oder „Die Zukunft kommt in Flammen.“ Öffentliche Gebäude wurden besetzt, Versammlungen abgehalten und selbst der Gewerkschaftsreformismus war kurz dem Licht der Revolte ausgesetzt, auch wenn der Virus nicht wirklich überspringen wollte. An vorderster Front die diversen Anarchisten, dann die bürokratischen linken Gruppen und Kleinparteien, aber urplötzlich eine riesige Schar von prekären Arbeitern, Schülern, Studenten und Migranten, die sich blind verstanden und für einige Zeit die Idee der Anarchie übernahmen, ununterscheidbar von den Anarchisten wurden und doch völlig autonom handelten, indem sie sich insbesondere die Praxis der Zerstörung aneigneten. Es war Walpurgisnacht in Griechenland.
Nach der Show dann der Kater und das Vergessen. Die Geschichte des modernen Riots ist dabei schon lang: Die Rebellionen von Schwarzen, Studenten und Hippies in den 60ern. Die Randale der Tunten, mehrere Wellen von Häuserkämpfen, die fast schon militärischen Auseinandersetzungen um die zentralen Energieversorgungsprojekte, die antiimperialistischen Kämpfe und immer wieder Migrantenunruhen oder Chaostage der Punker. Kurze Momente, in denen die Widersprüche aufflackern, aber scheinbar nur, um wieder zu verschwinden. Dem Zusammenbruch der halben alten Welt, des sog. Ostblocks, zum Trotze gab es die Antiglobalisierungsproteste, und auch hier kam es, jenseits der staatstragenden Protestvereinahmer, zu klassischen anarchistischen Riots, etwa in Seattle, Prag und Genua - im letztem Fall zu blutigen Rachefeldzügen der Polizei. Politisch war das alles dämlich und man ist versucht, es zu ignorieren. Sollte man aber nicht, denn: 2005 brannten auf einmal die französischen Vorstädte. Hier gab es keine bewußten Elemente, was zunächst bedeutet: keine politischen Schnarchnasen, die jeder Äußerung des Volkes von vornherein alle Spitzen nehmen. Viele fanden das archaisch. Es gab Antisemitismus. Und - man braucht es kaum erwähnen - das waren alles kleine Machos, die dort auf den Putz hauten. Aber es ist keine Frage der Moral. Die Ausbreitung und Vertiefung der zukünftigen Revolution – momentan ja nur in imaginären, hochgradig ambivalenten Vorformen sichtbar, natürlich durchsetzt mit den fürchterlichen Ideologien und Formen der alten Welt – kann nicht durch unmittelbare Ansteckung vor sich gehen. „Aufstand ist nicht vergleichbar mit einer Pest oder einem Waldbrand – einem linearen Prozess, der sich nach einem anfänglichen Zündfunken von einem Ort zum nächsten ausbreitet. Ein Aufstand nimmt eher die Form von Musik an, deren in Raum und Zeit verstreute Brennpunkte es dennoch schaffen, den Rhythmus ihrer eigenen Vibrationen durchzusetzen und zusehends an Dichte zu gewinnen.“ Solche Erscheinungen in den Banlieues haben Einfluß auf andere Segmente, auch jenseits des unmittelbaren Kontakts. Der Effekt kann aber ein ganz anderer sein: „Ein Resonanzkörper schwingt auf eine ihm eigene Weise mit.“ In Frankreich gab es die Proteste gegen irgendein neues Sozialgesetz - mit ebensovielen Festnahmen wie in den Vorstädten. Die Banlieueleute waren teilweise mit dabei und zockten die eine oder andere Schülerdemo ab. Mit zunehmender Wucht erfaßt die Welle der Destruktion auch die Arbeiter, die jüngst die Raffinerien blockierten, so daß sogar der formelle Ausnahmezustand nötig wurde. Sie wissen es nicht, aber sie tun es. Es fehlt dabei noch an Stimmen, die das, was passiert, auch denken und die Wünsche formulieren, die die Aufbegehrenden sich noch nicht zu wünschen trauen. So schreitet die Tat dem Wort voran und am Ende herrscht weiter der Staat. Das große Vergessen der Unruhen hat hier ihre Ursache.
Zurück nach Griechenland, welches sich für drei Wochen in die revolutionäre Geschichte zurückbrachte. Dort gibt es zahlreiche Leute, die wissen, was sie tun, ohne deshalb in den Irrtum zu verfallen, sie hätten Antworten auf die Fragen der Zeit. – Noch gibt es ja nicht mal eine vernünftige Formulierung der Fragen selbst. Doch es gibt Äußerungen, zum Beispiel ein gutes Buch über den Stand der Sache in Griechenland. Es beinhaltet nicht einen oder mehrere zentrale Texte, sondern versammelt zahllose Stimmen der Revolte. Man bekommt einen guten Eindruck. Man erfährt vor allem die Voraussetzungen der Revolte, die sonst verschwiegen werden. In Deutschland bekam man damals oft zu hören, der Aufstand sei spontan gewesen, die tieferen Ursachen lägen in der für viele Griechen nicht gerade rosigen wirtschaftlichen Situation etc. Das mag alles sein, aber gefährlich wurde die Sache durch die im griechischen Raum immerhin allgemein bekannten Ideen der vollständigen Ablehnung des Staates, der Lohnarbeit, überhaupt der Autorität. Es tritt hier eine diffuse Clique mit diffusen Ideen auf, die Revolte beginnt zu denken und nicht im Stile mohamedanischer Eiferer. Um die Revolte aus ihrer scheinbaren Isolation in der Zeit herauszulösen, versammelt das Buch nicht nur Stimmen aus dem manifesten Aufstand, sondern reflektiert Vorgeschichte und Voraussetzungen. Die Sache ging immerhin von einem anarchistischen Sumpf aus, so spontan war das alles nicht, auch wenn die Verlaufsformen relativ spontan aussehen und viele Schüler wohl gar nicht wußten, wie sie dahin kamen, das zu tun, was sie taten. Dann gibt es Dokumente aus der Revolte, Berichte von Teilnehmenden, allgemeine Reflexionen über den revolutionären Prozeß, die Funktion der jeweiligen Besetzungen, die partielle Ausdehnung auf weitere, sonst integrierte Teile der Gesellschaft. (Besetzung einer TV-Station, eines Gewerkschaftshauses, Versammlungen von Medienarbeiterinnen, die über ihre Hirnwäscherfunktion sinnierten.... Außerdem die Solidarität mit einer Gewerkschaftsaktivistin, die von Schlägern ihrer Bosse verstümmelt wurde.) Und weil hier der Wille einer Minderheit zu bestehen scheint, die Ereignisse nicht wieder verpuffen zu lassen, gibt ein umfangreicher dritter Teil Auskunft, wie die Situation nach dieser Revolte war: die Verschärfung der Repression, die Internierung der Ausländer, das Aufkochen einer neuen Stadtguerilla, eine neue Bewegung griechischer Amateurintellektueller, neue Hausbesetzungen, Subkultur etc. Obwohl viele der verdinglichten Intellektuellen dieses Buch für untheoretisch halten müssen, weil sie nur in soziologischen Phrasen denken wollen, sei abschließend noch auf das hohe Niveau vieler Beiträge hingewiesen. Insbesondere auf A. G. Schwarz: „Was Griechenland (aus meiner Sicht) für den Anarchismus bedeutet“ , Pavlos und Irina: „Das ist der Geist der Revolte“ oder die Texte von Ego Te Provoco. Man kann das mehrfach lesen, am Kneipentisch diskutieren und gewinnt einen Eindruck von der Magie dieser Tage wie ihrer Grenzen.
Ach ja: Das Buch ist relativ teuer, aber auch umfangreich (fast 400 Seiten), in guter Qualität gedruckt und mit zahlreichen Bildern versehen. Man kann es weiterreichen, ohne sich zu schämen, es hat Charme. Es lohnt sich also jeder Teuro, und wer sich für diese Welt im Ernst nicht begeistern kann, der braucht es. Was will man mehr.
A.G. Schwarz, Tasos Sagris und Void Network (Hg.): Wir sind ein Bild der Zukunft - auf der Straße schreiben wir Geschichte, EDITION PROVO 1, Laika-Verlag, Hamburg 2010 (Videotrailer zum Buch: http://vimeo.com/16795738)
Erschienen in Testcard #20, November 2010