Rezension „Der letzte Kommunist“ (Testcard #19)
Matthias Frings hat ein Buch geschrieben. Es ist nicht sein erstes, in den 80er Jahren hat er Bücher zu Themen wie Pubertät oder Homosexualität veröffentlicht. Frings’ neues Buch zählt jedoch zu einem anderen Genre. ‚Der letzte Kommunist. Das traumhafte Leben des Ronald M. Schernikau‘ heißt es, was auf eine Biographie schließen läßt. Allerdings ist der Titel einigermaßen irreführend, denn auf bemerkenswert wenigen der über 400 Seiten des Buches geht es tatsächlich um den 1991 mit 31 Jahren gestorbenen Schriftsteller und seine an Eigenheiten nicht arme Biographie.
Geboren in der DDR, wächst Schernikau in Lehrte bei Hannover auf. Dort verfaßt er noch als Gymnasiast ein Buch, das als ‚Kleinstadtnovelle‘ 1980 bei Rotbuch zu einem viel beachteten Erfolg wird. Zurecht: Schernikau bedient sich zwar reichlich an dem Material, das sein Leben bietet: Junger schwuler Kommunist aus der Kleinstadt sorgt durch eine Affäre mit einem Mitschüler im sich progressiv dünkenden postbürgerlichen Milieu für Unruhe und nutzt diesen Anlaß, um sich unaufgeregt und zukunftsfroh nach Berlin zu verziehen. Dennoch wird bei Schernikau daraus kein Bekenntnis oder eine Coming-out-Geschichte, sondern ein literarisch starker, die behandelte Gesellschaft klug durchdringender Text. Diesem gelungenen Start folgte aber keine Erfolgsgeschichte. Dies lag auch an Schernikaus eigenen antizyklischen Entscheidungen: Er geht 1986 in die DDR, um in Leipzig als erster BRD-Bürger am Institut für Literatur zu studieren; zudem strebt er die Staatsbürgerschaft der DDR an, die er 1989 im beinahe letzten Moment auch erhält. Er schafft es noch, ‚Die Tage in L.‘ 1989 im konkret-Literatur-Verlag herauszubringen, seine Leipziger Abschlußarbeit, der die DDR keine Veröffentlichung gewähren wollte. Sein Hauptwerk ‚Legende‘ kam allerdings erst 1999 heraus und auch nur durch ein Subskribientenmodell. Bis heute wird Schernikau – außer in überschaubaren Kreisen, die meist nicht zum literarischen Establishment gehören – kaum wahrgenommen. Wenn Schernikau überhaupt in den Feuilletons vorkommt, dann meist in Verbindung mit Peter Hacks, zu dem der junge Autor eine enge literarische und politische Beziehung aufzubauen versuchte. Was daraus noch hätte werden können, läßt sich nur spekulieren. Schernikau selbst war jedenfalls so reflektiert – und so ambitioniert –, daß er dem ‚Legende‘-Manuskript als Mitteilung an die Leser vorangestellt hatte: „sie müssen bedenken, daß ich gezwungen war, mein spätwerk schon in meinen dreißigern zu liefern.“
Genügend Stoff, möchte man meinen, um sich in einer Schernikau-Biographie retrospektiv mit deutschen bzw. deutsch-deutschen Verhältnissen in Literatur und Politik gewinnbringend zu beschäftigen. In Frings’ Buch kommen nun natürlich die wichtigsten Stationen in Schernikaus Leben vor. Auf vielen, zu vielen, Seiten wird jedoch – kaum, schlecht oder gar nicht vermittelt mit der Darstellung Schernikaus – von Dingen geplaudert, berichtet, kolportiert, die dem Autor offenbar in den Kopf kamen, als er sich, um dieses Buch zu schreiben, an die 80er Jahre in West-Berlin erinnerte: die Schwulenszene, AIDS, Hausbesetzer, Autonome, Friedensdemos, Reagan-Besuch etc. pp. Und vor allem: das Leben von Matthias Frings: Am Ende des Buches angelangt, weiß man, wann Frings wo und warum welches Buch veröffentlicht hat, wie, wo und mit wem er sich gegen die aufkommende AIDS-Hysterie engagiert hat und vieles mehr, mit dem Schernikau nur insofern zu tun hatte, als er ein Bekannter oder Freund von Matthias Frings war. Als ob dies nicht in vielen Passagen am titelgebenden Thema schon weit genug vorbeigeschrieben wäre, entschied sich Frings auch noch, keinesfalls die Mutter Schernikaus zu kurz kommen zu lassen, und streut reichlich Kapitel ein, in denen es um Leben und Partnerschaft der Frau Schernikau in der DDR, das Verlassen dieses Landes im Kofferraum eines Diplomatenwagens und ihre Schwierigkeiten in der BRD geht. Hier wiederum ist die Verbindung zu Ronald M. Schernikau, daß er bei all diesen Ereignissen im Leben seiner Mutter als Kleinkind nolens volens zugegen war. Immerhin konnte Frings nicht vermeiden, daß so auch einige Anekdötchen aus der Kindheit des kleinen Ronald zu erfahren sind.
Daß diese riskante Konzeption des Buches so gewollt war, erfährt man in der Verlagsankündigung, in der Frings schreibt: „Das Buch ist eine als Biographie verkleidete Zeit- und Sittengeschichte der 80er Jahre in Ost und West. […] ‚Der letzte Kommunist‘ ist in Wahrheit nicht eine Biographie, sondern drei: Die Kindheit des Ronald M. Schernikau wird durch die Augen seiner Mutter Ellen gesehen, und unverschämterweise spielt auch der Biograph eine nicht unwesentliche Rolle“ – und zwar leider die, daß er zu fast allem, wovon er erzählt, seine Meinung kundtut. Dies wäre alles vom Leser noch gerne hinzunehmen, wenn das Buch gut geschrieben wäre. Leider ist es das auch nicht. In seinem Bemühen, „[a]nrührend, vielschichtig und überaus witzig“ (ebenfalls aus der Verlagsankündigung) zu sein, passieren Frings allerlei sprachliche Mißgriffe und Unglücke, die einem auch viele der Geschichten und Geschichtchen, die er zu erzählen weiß – und die durchaus eine zwar sehr subjektive, aber dennoch gültige ‚Zeit- und Sittengeschichte‘ ergeben hätten können –, verleiden. Als willkürlich gewähltes Beispiel ein Versuch Frings’, Lockerheit in der Darstellung zu erzwingen: Schernikau beim Fototermin. Er will, daß die Aufnahme ihn mit einer Träne auf der Wange zeigt: „Doch keine Träne wollte fließen. Auch für diesen Fall hatte er vorgesorgt. Er kramte eine Zwiebel aus der Tasche, schnitt sie auf und hielt sie sich unter die Augen. Immer noch Sahara. Das Studio stank nach Zwiebel, Kraushaar und ich schluckten Bemerkungen runter, und auch der geduldige Fotograf übte sich in genau dieser Tugend der Liebenswürdigkeit. Nichts half. Monsieur saß auf dem Trockenen.“
Das Leben von Schernikau – hier führt der Titel nicht ganz in die Irre – bleibt bis zum Ende des Buches traumhaft, sofern man darunter etwas Vages verstehen will, etwas, was nicht ganz greifbar und nicht ganz begriffen ist. Dies scheint auch das fatale Manko des Textes zu sein: Frings hat Schernikau nicht begriffen. Am deutlichsten wird das wohl in den Abschnitten, in denen es um die DDR geht, in die Schernikau 1986 aus freien Stücken gezogen ist. Anstatt zu versuchen, sich in das Denken und Handeln Schernikaus hineinzubegeben und herauszufinden, warum dieser trotz aller Unzulänglichkeiten, Häßlichkeiten und Dummheiten dieses ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaates dennoch akkurat dorthin wollte, fühlt Frings sich verpflichtet, in vielen langen Passagen mitzuteilen, warum er, Frings, meint, daß dieser Staat doch schlecht gewesen sei – und dadurch Schernikau posthum wegen dessen Uneinsichtigkeit zurechtzuweisen. Entgegen Stefan Ripplingers Bemerkung in seiner Jungle-World-Besprechung des Frings-Buches im März 2009, daß die Biographie „nach Schernikaus Poetik“ gebaut sei, in der es „kein aufgeblähtes Ich“ gebe, entsteht so doch zuweilen der Eindruck, daß der Autor sich im Erzähl-Raum unangemessen breit macht.
Schernikau selbst hat in einer Bemerkung über eine Andy-Warhol-Biographie seinem eigenen Biographen in spe einiges benannt, was dieser falsch machen sollte: „Seine Wertungen sind konventionell, mehr als das, sie sind reinrednerisch und selbstgefällig. Anekdoten werden verhunzt, Pointen verschenkt oder verfälscht, Entwicklungen verflacht und schlicht nicht begriffen. Wenn ich die Widerwärtigkeit der amerikanischen Seele studieren will, dann doch lieber anhand des Biografaten anstatt an der des Biografanten.“ Diese Urteilskraft Schernikaus rührt vielleicht von anderen seiner Einsichten, die ihn die DDR als ‚Zukunft‘ und West-Berlin bzw. die BRD als ‚Vergangenheit‘ bezeichnen ließ, just in einer historischen Phase, in der die DDR unterging und die BRD größer wurde; diesen Vorgang wiederum nannte Schernikau ‚Konterrevolution‘.
Wie Schernikau zu solchen auch damals ungewöhnlichen Ansichten kam, sollten Interessierte und Matthias Frings am besten in den Schriften dieses vielleicht ja gar nicht letzten Kommunisten herausfinden – wenigstens, bis sich ein Autor findet (Liest Dietmar Dath gerade mit?), der verständiger und kundiger das Leben Schernikaus nachzeichnen kann. Neue Gelegenheit zur Bildung eines eigenen Urteils bietet die vom Verbrecher-Verlag gerade begonnene Herausgabe bislang unveröffentlichter Schernikau-Schriften.
Anders gesagt: Er baut sein Buch nach Schernikaus Poetik.
Quelle: Testcard #19, Januar 2010