Die Occupy-Bewegung: Über Gier, Einigkeit und Gewalt
Occupy Oakland – Tag 1
Die Gier der Konzerne ist das falsche Ziel
„Gierig“ zu sein ist das, was gute Konzerne und Firmen im Kapitalismus tun sollen. In diesem System können die Individuen nur vorankommen, wenn sie sich gierig verhalten und ihre eigenen Interessen in den Vordergrund stellen. Während viele der derzeitigen Besetzungen in verschiedenen Städten der USA sich gegen „die Gier der Konzerne“, „Großkonzerne“ und die „Geldgeber der Wall Street“ gestellt haben, darf man doch nicht vergessen, dass die gierigsten Konzerne auch das meiste Geld für wohltätige Zwecke spenden, dass kleine Unternehmen genauso ein Teil des Systems sind wie große Firmen und dass das produzierende Gewerbe ohne die Finanzindustrie nicht existieren kann. Wir müssen das ganze System herausfordern. Wenn wir wirklich gegen die „Gier der Konzerne“ sind, dann sind wir gegen den Kapitalismus selbst.
Die 99 Prozent?
Ja, das eine Prozent hat uns lange Zeit verarscht. Die 99 Prozent wurden auf arbeiten und den Erhalt eines Systems reduziert, welches uns unglücklich macht und uns daran hindert, unser Potential umzusetzen. Eine wachsende Zahl von uns wurde ganz aus der ‚Gesellschaft‘ ausgeschlossen – durch Obdachlosigkeit, Arbeitslosigkeit, die Unmöglichkeit, eine angemessene Gesundheitsversorgung zu erhalten, den mangelnden Zugang zu Bildung und durch andere beklagenswerte Zustände.
Aber die Idee, dass es etwas wie eine Gesellschaft gibt und dass wir alle zusammen arbeiten sollten, um sie zu verteidigen, ist eine Illusion. Die Gesellschaft ist voller Trennlinien, Konflikte und Kriege. Manche dieser Kriege werden von dem einen Prozent betrieben und am Leben gehalten. Andere Kämpfe, wie die Kriege der eingeborenen Völker und der Farbigen gegen rassistische Kolonisierung und der Kampf der Frauen und Transsexuellen gegen die patriarchale Gewalt, werden im falschen Namen der Gesellschaft verdeckt und unterdrückt. In den letzten Jahrzehnten häuften sich die Opfer der Gesellschaft, während die Revolutionäre eingesperrt oder ermordet wurden.
In den letzten Jahren schien es, als ob viele der 99 Prozent den Regeln folgen würden. Viele von uns waren im Kreislauf von Arbeit und Schulden gefangen, nur, um noch mehr zu arbeiten und sich noch mehr zu verschulden. Wir fürchteten, uns gegen die alltäglichen Ungerechtigkeiten und Erniedrigungen zu stellen, aus Angst, auch den letzten kleinen Halt zu verlieren, den wir bewahren wollten, aus Angst, von der Polizei verprügelt oder eingesperrt zu werden, oder aus Angst, von den Gehorsamen geächtet und kriminalisiert zu werden (auch wenn sie wissen, dass die Regeln ungerecht sind). Viele Leute, die in der letzten Zeit ihren sozialen Status verloren haben, fanden heraus, dass die Versprechen des Kapitalismus hohl waren. Was den 99 Prozent bevorsteht, ist, im besten Fall, ein Leben voller Schulden, gekettet an beschissene Jobs und beschissene Waren.
Die Occupy-Bewegung wurde sich der Tatsache bewusst, dass, wenn wir weiterhin ihren Regeln folgen, sie, also das eine Prozent, gewinnen werden. Die Occupy-Bewegung ist ein Weckruf, ihre Regeln nicht länger zu befolgen und neue Wege des Zusammenlebens zu gehen.
Aber der Ruf nach der Einigkeit der 99 Prozent ist leer. Es gibt keine Einigkeit zwischen denjenigen, die das System der Beherrschung aufrechterhalten wollen und uns, die es zerstören wollen, um eine neue Welt zu schaffen. Welcher Teil der 99% wird uns beispringen und welcher Teil wird sich dazu entschließen, unter Zuhilfenahme der Angst vor Chaos und Zerrissenheit die bestehenden Machtverhältnisse zu unterstützen? Welcher Teil der 99 Prozent wird mit uns zusammenarbeiten, um das zu enteignen, zu zerstören und umzuwandeln, was das eine Prozent kontrolliert? Am dringlichsten: Die Bullen mögen Teil der 99 Prozent sein, aber sie stehen im direkten Gegensatz zu uns, solange sie ihre Aufgaben als Bullen wahrnehmen. (Die Knechte der Tea Party, Vergewaltiger, Rassisten und Homophobe sind alle Teil der 99 Prozent, aber sie stehen sicherlich nicht auf unserer Seite).
Wir können nicht entscheiden, ob wir uns der Gewalt entgegenstellen oder ihr ausweichen
Die Occupy-Bewegung stieß schnell auf das Pfefferspray und die Knüppelschläge der Bullen. Was ist Gewalt? Frag’ die Freunde und die Familien derjenigen, die von Bullen getötet, sexuell missbraucht oder in den Rücken geschossen wurden, weil sie keine Fahrkarte hatten. Fragt die Gefangenen, die überall in Kalifornien im Hungerstreik sind, die Obdachlosen, die versuchen, einen Ort zum Schlafen oder zum Pinkeln zu finden, die Tausenden, die verprügelt wurden, weil sie gegen Ungerechtigkeiten demonstrierten, die jungen Farbigen, die die ganze Zeit von Anti-Gang-Einheiten drangsaliert und angegriffen werden oder die Sex-ArbeiterInnen, die von der Polizei missbraucht oder ausgenutzt werden.
Das Zerstören und die Enteignung des Besitzes des einen Prozents ist keine Gewalt. Gewalt aber ist die Erschießung von Oscar Grant, Charles Hill, Kenneth Harding und unzähligen weiteren. Gewalt ist, dass mehr als ein Drittel aller Frauen Opfer sexuellen Missbrauchs werden. Tatsächlich ist Gewalt ein normaler und dauerhafter Zustand im Kapitalismus. Die Occupy-Bewegung wird mit der Gewalt der Bullen konfrontiert werden, und Widerstand gegen diese Agenten der Repression ist absolut notwendig. Wie es jemand auf dem Tahrir-Platz formulierte: „Wenn die Bullen kommen, um dein Zeug wegzunehmen, dann musst du versuchen, sie zu stoppen.“
Die Platzbesetzungen in Nordafrika entfesselten Revolutionen, die zum Sturz von Diktatoren führten, und jene in Europa brachten die weltweiten Börsen an den Rande des Zusammenbruchs. Der Unterschied liegt offensichtlich in den Zahlen: mehr als 50.000 Menschen auf dem Tahrir-Platz, 20.000 Leute auf dem Syntagma-Platz. Aber da war noch mehr. Die Stärke dieser Besetzungen lag in ihrer Weigerung, sich räumen zu lassen, ihr Bekenntnis zum physischen Widerstand gegen jeden Räumungsversuch der befreiten Plätze. Erinnert ihr euch an die Barrikaden um den Tahrir-Platz? Gewaltlosigkeit wäre in diesen langen Nächten des Kämpfens zum Erhalt der Revolution sinnlos gewesen. Hier in den USA müssen wir auch Widerstand leisten, aber auf unsere eigene Art und Weise. Durch die Begrenzung unseres Widerstands gleich von Anfang an auf bestimmte Formen untergraben wir unsere potentielle Stärke und überlassen dem Staat die Entscheidung, wann wir vertrieben werden und wann der aufkommende Widerstand zu weit gegangen ist und verschwinden muss.
Wir brauchen Zehntausende auf den Straßen und müssen diese Bewegung zu etwas Großem machen. Aber wenn die letzten Wochen uns irgendetwas gelehrt haben, dann, dass Zusammenstöße mit dem Staat die Leute nicht abschrecken. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall. Die Zahl der Leute auf der Wall Street ist nach jeder Runde der Eskalation und der Prügelei mit der Polizei ganz klar gestiegen.
Das Potential der Bewegung: Was wollen wir wirklich?
Wir wollen keine beschissenen Jobs. Wir wollen nicht für Politiker stimmen, die uns versprechen, die Dinge zu ändern. Wir wollen unsere Energie nicht darauf verschwenden, die Verfassung zu ändern. Wir wollen nicht bloß ein paar neue Regeln für die Wall Street. Wir glauben nicht, dass wir das „System beeinflussen“ können, dadurch, dass wir einfach „beieinander sind“.
Das eine Prozent kontrolliert den Reichtum der Gesellschaft. Wir müssen ihn zurückholen und ihn während dieses Prozesses umwandeln. Aber was kommt nach der Besetzung von Plätzen? Das Rathaus? Zwangsversteigerte Häuser? Supermärkte? Und dann? Die Befreiung des öffentlichen Nahverkehrs? Kostenlose Krankenhäuser? Freie Bildung? Kollektive Nahrungsmittelproduktion?
Alles ist möglich.
Nachtrag: Occupy Oakland
Während wir dies schreiben, wissen wir nicht, ob sich der von der Stadt kontrollierte Frank Ogawa Plaza in den besetzten Oscar Grant Plaza verwandeln wird, was viele Möglichkeiten nach sich ziehen könnte. Aber wir wissen, dass, falls die Besetzung mehr als eine Nacht anhält und diese Bewegung einen grundsätzlichen Wandel der Qualität unserer Leben bringen soll, sie vollkommen anders sein muss als alle anderen Besetzungen in diesem Land.
Oakland steht gerade unter Belagerung der Polizei. Die Art der Belagerung ist unterschiedlich: Die Situation in Temescal ist vollkommen verschieden von der im tiefen Osten von Oakland. Wir leben in einem militarisierten Raum. Ob es sich um die polizeilichen Exekutionen schwarzer Jugendlicher, die Drangsalierung von SexarbeiterInnen entlang des International Boulevard durch die Polizei oder die rassistische Gesetzgebung des Stadtrats in Form von Verordnungen gegen das Rumhängen, um die Verfügungen gegen Gangs oder um die angeregte Ausgangssperre für Jugendliche handelt, diese paramilitärische Belagerung ist ein Projekt der Regierung zur Befriedung und Kontrolle der Stadt, damit der Kapitalismus ungestört seinen Geschäften nachgehen kann.
Aber in Oakland ist die derzeitige gewalttätige und repressive Situation nichts Neues; wir haben eine dynamische Geschichte des Kampfes und des Widerstands. Vom Generalstreik 1946 über die Gründung der Black Panther Party 1966 bis hin zum Aufstand gegen die Polizei nach der Exekution von Oscar Grant im Jahr 2009 war Oakland lange eine Stadt voller Menschen, die sich weigerten, stillzuhalten und zu schweigen. Trotz der Versuche des Staats, diesen Geist zu brechen, lebt er nach wie vor und wird in den nächsten Tagen mit aller Macht aufblühen.
10/10/2011
Quelle: http://www.bayofrage.com/featured-articles/greedunityviolenc