Josef Swoboda
„Die Erstürmung des Horizonts“
In den anarchistischen Milieus einiger europäischer Länder ist bereits seit Längerem eine Spaltung zu beobachten. Die eine der beiden Linien, die miteinander im Widerstreit liegen, wurde als „Sozialanarchismus“ bezeichnet, die andere als „aufständischer“, „nihilistischer“, oder auch „individualistischer“ Anarchismus. Grob vereinfacht könnte man den Inhalt des Streits folgendermaßen zusammenfassen: Die Sozialanarchisten gehen von der Tatsache aus, dass man für eine entscheidende gesellschaftliche Umwälzung die breite Masse der Bevölkerung braucht. Sie ziehen daraus den Schluss, dass es notwendig sei, die Leute in ihren unmittelbaren Sorgen und Nöten zu unterstützen und sich z.B. Protesten gegen Arbeitslosigkeit, Sozialkürzungen etc. anzuschließen, um diese zu radikalisieren und so schrittweise der Revolution näher zu kommen. Die „aufständische“ Tendenz geht von der Tatsache aus, dass die breite Masse der Bevölkerung unmittelbar mit den Zielen von Anarchistinnen nichts am Hut hat und häufig sogar aktiv die Herrschaft unterstützt. Sie leitet daraus die Notwendigkeit eines radikalen Bruchs mit allen bestehenden Institutionen und etablierten Protestformen ab und propagiert die radikale Minderheitenaktion, ohne Rücksicht auf „Vermittelbarkeit“ zu nehmen. Einen revolutionären Prozess stellt sich diese Richtung nicht als allmähliches Wachstum einer Bewegung, sondern eher als Serie sich intensivierender, nur untergründig miteinander verbundener Vulkanausbrüche vor. Es versteht sich von selbst, dass die beiden hier schematisch dargestellten Lager in sich keineswegs einheitlich, sondern selbst von zahlreichen Gegensätzen durchzogen sind und dass es zwischen den beiden Extrempolen viele Mischformen gibt.
In den deutschsprachigen Territorien hat sich diese Spaltung bisher noch nicht deutlich gezeigt. Dies liegt zum einen daran, dass die oben skizzierten Widersprüche hier teilweise in anderer Form zutage getreten sind – insbesondere im Gegensatz zwischen der antideutschen Furcht vor dem Volke und dem sozialreformerischen oder auch sozialrevolutionären Wunsch nach Volkstümlichkeit. Zum anderen war von dem Schisma auch deshalb wenig zu bemerken, weil der „aufständische“ Pol im deutschsprachigen Raum bisher kaum vorhanden war.
Dies scheint sich allmählich zu ändern. In einigen Städten fand in den letzten Jahren eine gewisse Verdichtung einschlägiger Zirkel statt, deren Symptome allmählich sichtbar werden – namentlich in Zürich, wo es kürzlich zu einigen nächtlichen Ausschweifungen kam, bei denen einige Waisen des Existierenden ihre Finger im Spiel gehabt haben mögen. (1) Aber auch in München, wo laut einem Bericht der Süddeutschen in den letzten zwei Jahren von bekannten Unbekannten beachtliche 220 Straftaten mit einem Sachschaden von 320.000 Euro begangen wurden, um die Errichtung eines verhassten Gebäudes zu verhindern. (2) Neben diesen Aktionen tauchen auch vermehrt Zeitschriften, Broschüren und Übersetzungen dieses Spektrums auf. (3)
Eine dieser Zeitschriften möchte ich im Folgenden vorstellen. Sie trägt den Titel Die Erstürmung des Horizonts – Anarchistisches Instrument zum Schüren von Diskussion, Affinität und Feindschaft, die erste Ausgabe ist im November 2014 erschienen. Es gibt sie nicht im Netz – die Verteilung wird hauptsächlich über den Ameisenhandel organisiert, also von Menschen, denen die Sache wichtig genug erscheint, um die Hefte in ihren Rucksäcken von Stadt zu Stadt zu tragen. Die Herausgeber erhoffen sich davon eine Vertiefung der persönlichen Kontakte unter den Subversiven – denn darauf kommt in den Augen dieser Leute vieles an. Die Zeitschrift ist nicht als Agitationsblatt für die Massen konzipiert, sondern vielmehr als Organ der Selbstverständigung und theoretischen Vertiefung innerhalb des radikalen Milieus. Die Texte sind eine Mischung aus eigenen Beiträgen der Herausgeber, Übersetzungen aus anderen Sprachen und Fundstücken aus den Archiven der Revolution, die im späten 19. oder frühen 20. Jahrhundert verfasst wurden.
Individuelle Befreiung
Wenn es einen roten Faden gibt, der sich durch das ganze Heft zieht, so ist es der Gedanke, dass Befreiung zuerst und vor allem Befreiung von Individuen bedeutet. Dies heißt zunächst, dass eine gesellschaftliche Organisation nur dann frei genannt werden kann, wenn jeder Einzelne in ihr frei ist. „Das autonome Individuum ist die grundlegende Basis aller echten anarchistischen Theorien der Organisation, da ohne das autonome Individuum jede andere Stufe der Autonomie unmöglich ist.“ (4) Dies bedeutet aber umgekehrt auch, „dass nur freie Individuen eine freie, nicht entfremdete Gesellschaft erschaffen können.“ Die selbstständig denkende und handelnde Einzelne ist also sowohl das Ziel, als auch die Voraussetzung der Überwindung von Herrschaft. „Der Anarchismus, welcher die Autorität in jeder Form negiert, setzt die Initiative der Individuen voraus, um ohne autoritäre Einflüsse die gesellschaftliche Harmonie zu ermöglichen.“ Dass wir unfrei sind, weil irgendwelche Chefs oder auch „die Verhältnisse“ uns einschränken, ist höchstens die halbe Wahrheit. Umgekehrt machen wir diese Chefs und Verhältnisse erst möglich und nötig, weil wir zum selbstbestimmten Handeln nicht in der Lage sind. „Die Initiativlosigkeit der Masse bedingt den Zentralismus. Zentralismus kann nur bestehen, wo Initiativlosigkeit herrscht, wie umgekehrt durch den Zentralismus die Initiativlosigkeit der Masse systematisch gepflegt wird.“
Es kommt also alles darauf an, die subjektiven Kräfte zu stärken, die die Herrschaft überflüssig machen. „Diese Selbstständigkeit erlangt der Mensch jedoch nicht übernacht, diesselbe muß geübt und praktiziert werden und das muß heute schon während des Kampfes bis zur allgemeinen Revolution geschehen.“ Wie aber soll man dabei vorgehen? Die Autoren der Zeitschrift geben hierzu relativ wenig konkrete Hinweise. Ein Gedanke ist, dass die Subversiven der Tendenz zur Spezialisierung – die eine führt nächtliche Aktionen aus, der andere schreibt die Kommuniquees und eine dritte ist die Homepagebeauftragte – entgegenwirken sollen, denn wenn „jeder nur das thut, worin er bereits praktische Tüchtigkeit besitzt, so würden sich naturgemäß die Individuen nur einseitig entwickeln und sich außer ihrer respektiven Spezialität in allen anderen Dingen im Schlepptau einiger Leithammel (Autoritäten) ziehen lassen.“ Eventuell könne auch Psychologie hilfreich sein, um Mitbewohnerinnen oder Bekanntschaften aus ihrem Trott zu reißen. „In Zeiten weitverbreiteter freiwillig Knechtschaft drängt sich eine große Zahl psychologischer Fragen auf, in diesen Zeiten geht es darum, das eigene Erleben, das Erleben der erbärmlichen Zustände zu steigern, die Verdrängung zu verunmöglichen. Nicht indem man sie in Sitzungen zerrt, um ihnen ihre Winzigkeit verständlich zu machen, sondern indem man von Größe redet und ihnen zeigt, dass sie möglich ist. Indem man sie in die Depression wirft und ihre Krücken stiehlt; um ihnen zu zeigen, dass sie solche sind.“
Die individualistische Herangehensweise schärft auch den Blick dafür, dass nicht nur die hierarchische Macht des Staates, sondern auch das Kollektiv die Freiheit des Einzelnen unterdrücken kann: „Natürlich war es vor hunderten von Jahren möglich, ohne Staat, nur durch Familie, Religion, Pranger und Dorfversammlung die Menschen in Knechtschaft zu halten. Auf hunderte von Arten können das Eigentum, die Arbeit, der Gehorsam, die Strafe, die Moral und die Vorurteile durchgesetzt werden; genau das haben wir aber nicht vor.“ Und einen solches repressives Klima sehen die Individualanarchisten nicht nur in den traditionellen Gemeinwesen der Vergangenheit, sondern z.B. auch in den linken und alternativen Milieus von heute am Werke – und das ungeachtet der Tatsache, dass diese offiziell jede Hierarchie ablehnen. „Natürlich gibt es auch linke Szenen und andere Sümpfe, […] dort ist die stärkste Regierung die Moral, und die ist nicht unbedingt die angenehmste.“ Als Symptome eines solchen Moralismus werden „political correctness“ und „critical whiteness“ genannt: „Anstatt auf ein radikales Hinterfragen und Möglichkeiten des Angriffs abzuzielen, sind diese Ideologien weit mehr daran interessiert, auf ein gewisses Schuldgefühl und individuelle Privilegien aufbauend feste pauschalisierende Kategorien zu installieren, fixe Formen von gutem und schlechtem Verhalten festzulegen und so eine kollektive Kontrolle durch sich selbst oder gar durch bestimmte Repräsentanten und Bewegungsmanager aufzubürden, die vor Kritik durch die Autorität eines de-personalisierten und stereotypen unterdrückten Anderen geschützt sind.“ Es genügt also keineswegs, die Regierung zu stürzen; es müssen auch alle autoritären Kollektive zerschlagen werden – und mögen diese sich auch noch so einen emanzipatorischen Anstrich geben.
Bruch mit der Linken
Angesichts dieser schlechten Meinung, die die Macher der Erstürmung des Horizonts von der Szene haben, verwundert es nicht, dass sie den „Bruch mit der Linken“ propagieren. Dieses Thema bildet einen Schwerpunkt des Hefts. – Aber wer oder was ist „die Linke“ genau? „Eigentlich wäre es ganz einfach: Die Linken sind diejenigen, die, in historischen Zeiten, sich auf der linken Saalseite eines Parlaments eingefunden haben, in Opposition zu den Konservativen.“ Die Linke wäre also, so gesehen, nichts anderes als eine bestimmte Clique, die mit anderen Fraktionen um die Kontrolle über den Staatsapparat konkurriert, wenn sie diesen auch zugunsten der unteren Volksschichten benutzen wollten. Später gab es freilich auch Linke, die den parlamentarischen Rahmen verließen und sich revolutionärer Mittel bedienten; aber sie verließen doch nie den politischen Rahmen. „Die Politik ist die Kunst der Repräsentation“, sie nimmt sich der Probleme und Nöte der Menschen an und verspricht, sie zu lösen; aber indem sie dies stellvertretend für die Menschen tut, verewigt sie deren Statistenrolle. „Historisch funktionierte der Großteil linker Theorie und Praxis als loyale Opposition zum Kapitalismus. Linke standen einzelnen Aspekten des Kapitalismus (oft lautstark) kritisch gegenüber, aber immer dazu bereit, sich selbst in Einklang mit dem breiteren internationalen kapitalistischen System zu bringen, wann immer es ihnen möglich war, ein bisschen Macht, partielle Reformen – oder manchmal nur das vage Versprechen von partiellen Reformen – zu gewinnen.“ Die historische Mission der Linken bestand darin, die rebellischen Unterschichten zu zähmen, sodass diese eine Verbesserung ihrer Lage nur noch innerhalb des bestehenden Rahmens anstrebten. Die Folgen waren „die Verkümmerung jeder grundlegenden Differenz, die Perfektionierung des Getriebes der Herrschaft, der sozialen Kontrolle, die friedliche Entwicklung des zivilisatorischen Projekts, das nun jeden Blick nach vorn zu einem traumatischen Erlebnis macht!“
Ausdrücklich schließt die Erstürmung des Horizonts die meisten Anarchistinnen in ihre Kritik der Linken mit ein. „Ja, der Anarchismus verlor sich in einem Reformismus, sei es im Syndikalismus oder ähnlichen Annäherungen an den Marxismus, oder im Naturalismus, Edukationalismus, Kommunalismus etc. Natürlich war der Syndikalismus in einigen Ländern ziemlich revolutionär, aber die Perspektive der Zerstörung wurde nie genügend diskutiert. […] Die Syndikalisten verloren sich gänzlich im Organisieren, das Organisieren, wie es von den Organisatoren immer verstanden wird, vor allem von einem repräsentativen Rahmen, in dem dann Mitglieder gesammelt werden sollen. Wir müssen verstehen lernen, […] dass von Seiten der Anhänger der Formal- und Massenorganisationen das Wort ‚Organisation‘ immer heißt: Kongressbeschluss, Delegation, Mitgliederausweis, Spezialisierung, etc.“ Zwar hat es auch die radikalen Umstürzler gegeben, die dazu aufriefen, „in einer allfälligen Insurrektion den Staat zu zerschlagen, die staatllichen Institutionen, vom Rathaus bis zum Grundbuchamt, und ihre Verteidiger, vom Polizisten bis zum Großgrundbesitzer, zu zerstören und die Machtergreifung irgendeiner Partei aufs Heftigste zu bekämpfen.“ Aber diese Kräfte waren immer in der Minderheit, selbst unter den Anarchisten.
Und heute, wo sich das Politische allenthalben im Niedergang befindet, weil der Glaube an eine Reformierbarkeit des Bestehenden schwindet und ein grundsätzlich Anderes nirgendwo erkennbar ist, erschöpft sich auch der Spielraum einer linken, alternativen Politik. „Der Linken sind ihre revolutionären Subjekte abhanden gekommen, und die meisten ihrer Projekte sind bedrückend realistisch. Nur durch ‚Widerstand‘ gegen das gelegentliche öffentliche Auftreten von Faschisten können sie sich noch ein kleines bisschen erholen, nur ihnen gegenüber können sie noch die Fortschrittlichen spielen, ansonsten lassen sich die Massen weder mobilisieren, noch lässt sich die Meute der gelegentlichen Krawalle politisieren. Dies wohl, weil ‚die Fortschrittlichkeit‘ durch ihren sichtbaren Erfolg endgültig in Verruf geraten ist.“ Höchste Zeit also, das sinkende Schiff der Linken zu verlassen und zusammen mit den Individualanarchisten den Sprung ins Unbekannte einer wirklichen Subversion zu wagen!
Was ist von diesem Vorschlag zu halten? Ich habe gegen ihn nichts einzuwenden. Im Gegenteil, ich halte ihn für dringend geboten. Das Problem dabei ist nur: Er ist schwer zu realisieren. Die Linke tatsächlich hinter sich zu lassen, würde bedeuten, etwas zu erschaffen, das wirklich besser ist als diese. Andernfalls hätte man nur eine weitere bedeutungslose Sekte hervorgebracht und es wäre egal, ob diese sich als Teil der Linken begreift oder nicht. Individualistische Anarchistinnen sind auch keineswegs die einzigen, die sich im linken Milieu nicht wohlfühlen. Daher hat es in der Vergangenheit an Aufrufen nicht gemangelt, das Szeneghetto zu überwinden. Man denke z.B. an den Versuch der radikalen Antifa der AA/BO, den Beschränkungen der traditionellen Autonomen zu entkommen, an die Neuformulierung einer grundlegenden Kapitalismuskritik durch die „Wertkritiker“ oder an den Generalangriff antideutscher Kommunistinnen auf die Szene in all ihren Facetten. Im Nachhinein ist es nicht allzu schwer, die Unzulänglichkeiten und Fehler dieser gescheiterten Versuche zu kritisieren und diese Kritik ist notwendig. Die eigentliche Kunst besteht jedoch darin, es besser zu machen.
Letztendlich wäre die Überwindung der linken Szene nicht anderes als die Neuerfindung des revolutionären Projekts auf der Höhe der Zeit. Die Herausgeber der Erstürmung des Horizonts haben sich also viel vorgenommen. Mögen sie fähige Komplizinnen finden!
Josef Swoboda
Die Zeitschrift kann unter dedh@riseup.net kontaktiert und bestellt werden.
Die Rezension wurde zuerst in der Zeitschrift Gai Dao veröffentlicht.
(1) Vgl. http://andiewaisendesexistierenden.noblogs.org/post/2013/03/05/zurich-ausschreitungen-plunderungen-barrikaden-angriffe-auf-bank-gerichts-und-polizeilokale-etc-2 und http://urbanresistance.noblogs.org/krawalle-in-der-schweiz.
(3) Z.B.die Zeitschriften Grenzenlos, Fernweh, sowie die Pamphlete der Edition Irreversibel. Als Beispiel für einschlägige Übersetzungen sei auf das Buch Warum wir eure Nächte in Brand stecken. Kommunikees griechischer Nihilisten (Verschwörung der Feuerzellen) verwiesen.
(4) Alle Zitate sind der Zeitschrift entnommen.