Die Zitrone
Warum ist die Tür schon geschlossen? Bin ich doch zu spät? Markus drückte die Klinke herunter und zog vorsichtig daran. Die Tür schwang ohne Widerstand auf und gab den Blick in den Raum frei. Aber der Raum blickte zurück: Der leise Summton, den Markus schon in der S-Bahn die ganze Zeit im Ohr gehabt hatte, steigerte sich zu einem sonoren Brummen. Meine Haare sind doch gekämmt? Gerade erst gewaschen. Das Loch? Nein, es ist hinten, und die Jacke ist drüber.
Markus zögerte einen Augenblick, aber dann ging er zielstrebig zu einem Platz, den er von der Tür aus entdeckt hatte, ziemlich weit hinten. Auf dem Weg dorthin beneidete er die, die bereits saßen; sie waren in der Überzahl und er allein. Als er sich in die Bank gequetscht, die Jacke ausgezogen und den Rücken sofort an die Lehne gedrückt hatte, so daß die hinter ihm Sitzenden das Loch in seinem Pullover nicht sehen konnten, wich das Brummen in seinem Ohr einem gar nicht so unangenehmen Rauschen: Der Professor war noch gar nicht da, und nach ihm kamen immer noch Leute in den Raum, die er jetzt auch so vorwurfsvoll hätte anschauen können, wenn er gewollt hätte. Aber Markus war eigentlich ganz zufrieden mit sich, denn er hatte es heute wieder geschafft, extrafrüh aufzustehen: Um 16.25h hatte der Wecker geklingelt; Markus war aus dem Bett gesprungen, ins Bad geeilt, und bis er sich die Haare gewaschen und getrocknet hatte – das mußte sein –, waren auch schon wieder 10 Minuten vergangen, so daß es für den Kaffee schon nicht mehr reichte, aber gerade noch rechtzeitig zur Bahn, die ihn zur Universität brachte. Immer mittwochs, wenn 17 Uhr c.t. die Vorlesung Grundlagen der Rechnerkommunikation stattfand, bedeutete das einen solchen Stress. Bei den Vorlesungen konnte man meistens fehlen, nicht jedoch bei dieser hier, denn hinterher gab es immer die Übungszettel, die man in der darauffolgenden Woche zur Benotung abgeben mußte.
Der Rücken ganz krumm, nein, der hat ja schon einen Buckel vom vielen Computern!, dachte Markus, und daß es ein richtiger Nerd sei, der sich da gerade auf den Platz neben ihm setzte. Der Nerd zog umständlich seine verblichene Jeansjacke aus und legte sie auf den Platz neben sich. Als er den Kopf drehte und Markus zuerst nur anschaute, ihm dann aber schüchtern zulächelte, erschrak Markus sogar ein bißchen: Was hat denn der für ein Gesicht: Sieht aus, als wäre ihm bei der Geburt der Kopf verbogen worden, ganz schief! Markus war froh, daß der Professor jetzt endlich kam: So konnte er nach vorne schauen, ohne daß er zurücklächeln mußte. Während der Professor seinen Laptop auspackte, sah Markus im Augenwinkel, wie auch der Nerd den Kopf nach vorn drehte: Computerdepp, dachte Markus.
„Meine hochverehrten Herren!“, sagte der Professor und räusperte sich lange. „Ich hatte Ihnen unlängst empfohlen, ein gewisses Buch zu lesen. Was Sie natürlich nicht gemacht haben. Sie haben nicht mal reingeschaut und haben jetzt auch keine Ahnung, was für ein Buch ich überhaupt meine. Da es aber für unsere…“
Markus fragte sich an dieser Stelle, ob er den Computer daheim ausgeschaltet hätte. Er glaubte, daß ja, war sich jetzt aber nicht mehr sicher. Sein Erfolg von gestern fiel ihm wieder ein. Obwohl er jenes neue Onlinespiel erst vor fünf Wochen entdeckt und zu spielen angefangen hatte, hatte er schon den überaus schwierigen Quest Myrixos, der abtrünnige Ravenmagier zur vollsten Zufriedenheit seines Questgebers gelöst, so daß er einen Druidenstab erhalten hatte und mit der Zugabe Erfahrung +500 zu einem 15er-Magier aufgestiegen war. Dann hatte Markus in Plupluristahhm hinter einem Baum von einer netten Elfe auch noch überraschend einen Water-and-Fire-Spell verraten bekommen, und war sofort mit einem Drachen nach Okloogogh geflogen, um den Zauberspruch an dem Character von diesem Typen aus Duisburg auszusprobieren. Zwar hatte der Drachenhüter ihm für den Flug seine letzten drei Chikineas abgeknöpft, aber es war die schnellste und sicherste Möglichkeit gewesen, von Plupluristahhm nach Okloogogh zu gelangen, ohne das Land der Riesenklöger durchqueren zu müssen. Um unbeschadet durch dieses gefährliche Gebiet zu gelangen, hatte Markus’ Magier-Character noch nicht genügend Skills erworben.
„… Buch von Andrew S. Tannenbaum, der hierzu das Standardwerk mit dem Titel Computernetzwerke geschrieben hat, wie er auch schon das Standardwerk für Betriebssysteme schrieb und selbst in 1000 Abendstunden zu Lehrzwecken ein kleines Betriebssystem mit dem Namen MINIX implementierte. Wie Sie nicht wissen, weil Sie selbst dieses Buch nicht gelesen haben, hihi, erklärt Tannenbaum im ersten Kapitel detailliert und trotzdem einleuchtend, wie die Übertragung binärer Kodierungen sowohl durch z. B. ein gedrilltes Kupferkabel, aber eben auch über stabile Funkverbindungen organisiert werden kann. Vorausgesetzt, daß Sie jemals eine Arbeitsstelle bekommen – heute ist das ja alles andere als selbstverständlich, und bei diesem Bildungsstand – können Sie sehr schnell einmal in die Lage kommen, …“
Schon kurz nachdem ihn der Drache in der Nähe der Schwertschmiede von Okloogogh abgesetzt hatte, hatte Markus den Character von diesem Typen aus Duisburg aufgespürt – ein sehr starker Ork, der jedoch nicht-magie-begabt war und dessen Schnelligkeitsskillfaktor höchstens 3 oder 3,5 betragen konnte –, sich von hinten an ihn herangeschlichen und den Water-and-Fire-Spell angewandt, ohne daß sich der Ork hätte wehren können, weil er sich gerade mit einem Kampfgoblin aus Tzakarraogh unterhielt. Das war eine List, die den Ork mindestens 20 Gesundheitspunkte kostete – und dazu die Unterstützung seiner Verbündeten, der Zunkler-Gruppe, denn die Zunkler würden vor Ablauf der 7 Spieljahre, die der Ork eingefroren neben der Schwertschmiede würde stehen müssen, längst mit den Vierigen weitergezogen sein. Der Typ aus Duisburg hatte Markus im Chat hinterher ordentlich beschimpft, und auch die Spieler der Vierigen und der Zunkler-Gruppe hatten dem Duisburger in seiner Auffassung beigepflichtet, daß das eine feige Aktion von Markus gewesen war. Aber trotz des Hinweises, daß er deswegen auch sicherlich keine Ehrenskill- und erst recht keine Mutskillpunkte gewinnen würde, war Markus gelassen geblieben und hatte als Antwort nur ein Zitat aus der Abderiten-Geschichte von Christoph Martin Wieland zurückgeschrieben: „Die Trägheit hat ihr Sublimes so gut als der Verstand, und wer darin bis zum Absurden gehen kann, hat das Erhabne in dieser Art erreicht, welches für gescheite Leute immer eine Quelle von Vergnügen ist. Orks haben das Glück, im Besitz dieser Vollkommenheit zu sein.“ Obgleich Markus das Zitat für seine Zwecke etwas abgewandelt hatte, paßte es immer noch allenfalls mäßig. Und doch mußte es immerhin so schlagfertig gewirkt haben, daß der Duisburger und die anderen offensichtlich nichts zu antworten gewußt hatten und ins Bett gegangen waren. Als Markus seinerseits ins Bett ging, war es ca. 8 Uhr morgens gewesen; etwa eine halbe Stunde später war er eingeschlafen. In dieser halben Stunde, in der er einfach nur so dagelegen und dem Wusch-Wusch der Waschmaschine gelauscht hatte, hätte er sicherlich auch das Summen der Lüftung gehört, wenn der Computer noch an gewesen wäre – er war also ziemlich sicher aus.
„…daß ebendiese unsere analoge Übertragung binärer Kodierungen durch ein Kupferkabel durch den sogenannten Fourier-Satz dargestellt werden kann, der Ihnen mittlerweile ja aus der Technischen Informatik bekannt sein dürfte.“
Der Professor drehte sich um, nahm einen Tafelfilzstift aus der Brusttasche seines Hemdes und kritzelte eine Abfolge von Buchstaben und Zahlen an die Tafel. Markus war zugleich erstaunt und entsetzt, als der nur noch schütter behaarte Kopf des Professors wieder den Blick auf die Tafel freigab:
stand da. Die Gleichung gefiel Markus auf eine sonderbare Weise – aber sie erschreckte ihn auch, weil sie ihm völlig unbekannt war, und das, obwohl der Professor gesagt hatte, daß Markus sie kennen müsse. Die anderen machten den Eindruck, als würden sie alle ganz genau wissen, um was es sich drehte. Ein Dicker mit Turban und Bart – ein Inder, Sikh vielleicht – meldete sich, um eine Frage zu stellen, und ein Langhaariger, der ganz vorne saß, nickte still vor sich hin, als hätte er nie etwas anderes getan als darauf zu warten, daß diese letzte aller Unklarheiten endlich aus der Welt geschafft würde.
Blitzschnell beschloß Markus, zuhause seinen Mitbewohner Peter zu fragen, ob er diese Formel kennte. Wenn ja, würde er doch einmal das Standardbuch über Netzwerke von diesem Eichenbaum, das der Professor zu lesen angemahnt hatte, aus der Bibliothek ausleihen müssen. Wenn Peter der Fourier-Satz jedoch unbekannt wäre, würde Markus sich das Buch zwar nichtsdestoweniger ausleihen müssen, es aber mit der Genugtuung zur Hand nehmen können, daß Peter etwas nicht wußte, was er unbedingt hätte wissen müssen, daß Peter also zweifellos versagt hätte, während er, Markus, sich ein tiefes Verständnis des Stoffes und damit eines nicht unbedeutenden Teils der ganzen Welt aneignen würde.
Das Summen in Markus’ Ohren war wieder dabei, in den unangenehmen Brummton überzugehen. Markus bekam gerade noch mit, wie der Professor auf die Frage, die der dicke Sikh gestellt hatte, antwortete:
„…deswegen ein Fall durchaus denkbar, in dem Sie recht haben. Aber der Fourier-Satz besagt ja wesentlich, daß eine beliebige Funktion als eine Summe von regelmäßigen Sinus- und Cosinuswellen unterschiedlicher Gewichtung und unterschiedlicher Wellenlänge dargestellt werden kann. Analoge Schwingungen, etwa Radio- oder Telefonkabelschwingungen, kann man als solche übereinandergelagerten regelmäßigen Schwingungen auffassen und sie so auch erzeugen. Nimmt man nun für die zu übertragende binäre Kodierung eine Treppenfunktion, so kann man sie in ein analoges, aus harmonischen Schwingungen zusammengesetztes Signal umwandeln. Natürlich nur für endliche Intervalle – aber wir haben es ja nur mit endlichen Intervallen zu tun, da unsere Nachrichten endlich sind – und auch nur näherungsweise. In der Praxis benutzt man daher die diskrete Fourier-…“
Markus war dankbar, daß der dicke Sikh seine Frage gestellt hatte, was immer es auch gewesen war – denn so hatte der Professor nebenbei ein paar Erklärungen zur Bedeutung dieser Formel geäußert.
Mit einemmal wußte Markus, daß er die Formel ganz verstanden hatte: sie würde ihm keine weiteren Probleme mehr bereiten. Als er sich zurücklehnte, sah er im Augenwinkel plötzlich wieder den verwachsenen Nerd, den er schon ganz vergessen hatte.
„…aber das sollten Sie gleich wieder vergessen. Es ist sehr ungenau formuliert, viel zu ungenau“, sagte der Professor. Markus spürte, wie sich seine Fingernägel schmerzhaft in die Handinnenfläche bohrten.
„…drückt der Fourier-Satz es natürlich viel präziser aus. Ansonsten vergißt man sehr leicht die Details, in denen wie immer der Teufel liegt. Oder das Geld. Haha. Die Fouriertransformation…“
Markus würde auch Pjatiletka, den Austauschstudenten aus Russland, der schon als Programmierer bei SAP gearbeitet hatte, fragen müssen, ob er den Fourier-Satz kennte – am besten in der Küche, einfach so, ganz nebenbei.
„…Sicherungsschicht eines Netzwerkes, das eigentliche Thema der heutigen Vorlesung, zu dem ich gleich kommen werde. Gerade fällt mir aber ein: Einige wenige haben ihre Übungszettel von vorletzter Stunde noch nicht abgegeben. Natürlich gibt es die Regelung, daß von den insgesamt 20 Übungszetteln, die ich Ihnen gebe, nur 12 benotet werden. Vom rein rechnerischen Standpunkt müssen Sie also auch nur 12 abgeben. Aber das wäre Blödsinn. Ich erinnere Sie noch einmal daran, daß die vorletzte Vorlesung ein grundlegendes Thema behandelt hat, und das in absolut grundlegender Weise. Sie sollten also nicht schon gleich zu Beginn des Semesters glauben: ‚Acht hab ich ja frei, was solls, den nächsten mach ich dann.‘ Vielmehr sollten Sie das ernst nehmen und daran denken…“
Das Brummen in Markus’ Ohren wurde immer lauter; der gleichbleibend sonore Ton drohte, sich über alles andere zu legen. Vielleicht muß ich ja auch zum Arzt, dachte Markus.
Jemand hatte einen Spruch in das Holz der Bank geritzt, aber andere hatten wieder darübergeritzt, so daß der Spruch schwer zu entziffern war. Nach einer Weile glaubte Markus, lesen zu können: Glücklich aus Seide. Das ergab keinen erkennbaren Sinn. Als er sich noch einmal versichern wollte, ob er richtig gelesen hatte, stand da auf einmal: Bück Dich und weide. Markus starrte auf einen blinkenden gelben Punkt neben der Tafel.
Obwohl er es mehrmals angekündigt hatte, schien der Professor die Tür auch diesmal nicht abgeschlossen zu haben, denn auf einmal ging sie auf und eine Frau betrat den Raum. Während der Professor weiterredete, ohne die Frau zu beachten, blieb sie kurz stehen, um sich nach einem freien Platz umzusehen. Markus fand sie sehr hübsch und folgte ihr mit den Augen, während sie in seine Richtung ging. Er fand sie immer noch hübscher, je weiter sie sich näherte: Sie hatte rötliche, leicht gewellte Haare, die sie schulterlang und offen trug; große, hellwache Augen; eine Haut, die aussah, als würde sie von innen leuchten; auf der Nase Sommersprossen, bis hinunter auf die Wangen, die leicht gerötet waren, vielleicht von der Eile. Es schien ihr gar nichts auszumachen, durch die Reihen zu gehen, während ihr zahlreiche Blicke folgten: sie setzte einen Fuß vor den anderen, als sei das das Normalste von der Welt. Als sie an seiner Bank anhielt und ihre Schultern zurückbog, um die Riemen ihres Rucksacks heruntergleiten zu lassen, nahm Markus verwirrt wahr, wie sich ihre Brüste unter dem Stoff des schwarzen Wollpullovers wölbten. Da erst begriff Markus, daß sie drauf und dran war, sich neben ihn zu setzen!
Doch halt: Neben ihm saß noch der Nerd. Markus konnte sich vorderhand nicht vorstellen, daß die hübsche Frau den Nerd und ihn bitten würde, aufzustehen, damit sie durchgehen könnte, um zum Platz neben Markus zu gelangen. Sie würde sich also neben den Nerd setzen! Zum Zeichen, daß er sie dennoch gerne durchlassen würde, zog Markus die Jacke auf seinen Schoß.
Die hübsche Frau setzte sich neben den Nerd. Markus sah sein Gesicht nur halb, da der Nerd den Kopf der hübschen Frau zugewandt hatte. Aber er bemerkte, wie sich der schiefe Kiefer des Nerds plötzlich begradigte, als er der hübschen Frau bedeutete, daß sie auf seiner Jacke säße; ihre Augen leuchteten blau auf, als er sie unter ihr hervorzog. Markus spürte eine blitzartige Wut in sich aufbranden; er war sich sicher, daß der Nerd beim Hervorziehen der Jacke gegrunzt habe. Die hübsche Frau schien das nicht bemerkt zu haben, denn sie lächelte dem Nerd nur weiterhin entschuldigend zu. Neben ihren vollen Lippen zeichneten sich kleine Lachfältchen ab. Wunderschön, dachte Markus.
„…können Übertragungsfehler auftreten. Erstens, wenn der Sender schneller als der Empfänger ist, so daß der Empfänger überschwemmt wird. Der Empfänger sollte daher dem Sender immer mitteilen, wie groß der Puffer ist, bzw. wie viele Daten er wie schnell empfangen kann: Flow Control. Zweitens, wenn die übertragene Kette von Nullen und Einsen fehlerhaft ist, weil einzelne Bits umgekippt sind beziehungsweise Bitfehler auftreten. Die Daten werden in Blöcken oder Frames übertragen, z. B. 1000 Bit pro Block beziehungsweise Frame. Ist die Fehlerrate 0,001 pro Bit, so wären die meisten Blöcke falsch, und…“
Die hübsche Frau zog nacheinander einige Din-A4-Blätter aus dem Rucksack. Feinsäuberlich legte sie zwei Stifte (einen Füller und einen Bleistift), ein Geodreieck und einen Radiergummi nebeneinander.
„…weil die Fehler aber oft von Rauscheffekten kommen, treten sie oft in Hunderterhaufen auf, so daß nur einzelne Blöcke falsch sind, dafür aber richtig falsch, also absolut falsch, meine ich, haha. In diesem Fall wären die meisten Blöcke immerhin korrekt. Blöcke mit vielen Fehlern sind dafür schwerer zu erkennen, weil eventuell auch die redundanten Bits falsch sind. Solche Burstfehler treten vor allem auf, wenn…“
Markus beobachtete, wie die hübsche Frau an die Tafel sah und die Stirn runzelte. Jetzt wandte sich die hübsche Frau dem Nerd zu und flüsterte etwas. Der Nerd verlagerte sein Gewicht etwas nach rechts, wobei er noch weiter in sich zusammensank. Auch Markus beugte sich ein klein wenig nach rechts.
Soweit Markus verstand, fragte die hübsche Frau den Nerd, was denn die kryptische Gleichungsreihe dort an der Tafel solle, und ob sie überhaupt irgendeinen Sinn hätte. Der Nerd sank in seine Ausgangsposition zurück und schob seine Unterlippe nach vorne.
„…zwei prinzipielle Möglichkeiten der Fehlerbehebung. Es werden so viele redundante Daten mitgeschickt, daß man auch aus verstümmelten Daten erkennen kann, wie sie ursprünglich ausgesehen haben müssen. Einzelfehler können…“
Der Nerd errötete stark, indem er sich der hübschen Frau zuwandte und sagte: „Das ist eine Gleichung, die die kontinuierliche Fouriertransformation darstellt. Eine Integraltransformation, die einer Funktion eine andere Funktion zuordnet.“ Pause. „Also der mathematische Hintergrund für das, was wir grade machen. Deswegen hats der Prof nochmal an die Tafel geschrieben, nur zur Erinnerung.“ Pause. „Ich kenn das schon aus der Signalverarbeitungsvorlesung. Warst Du da nicht?“ Die hübsche Frau hatte inzwischen angefangen, Kringel und Vierecke auf den Rand ihrer Blätter zu malen. Sie sah nur kurz auf, schüttelte den Kopf und sagte: „Kein Bock.“
„…ist ein Paritätsbit ein zusätzliches Bit, das dafür sorgt, daß die Gesamtzahl der Einser eines Wortes bei gerader Parität gerade ist. Es wird z. B. hinten angefügt. Die Zahl 1101 würde dann also zu 11011; die Zahl 1010 dagegen zu 10100. Ist nun die Anzahl der ankommenden Einsen ungerade, so ist ein Fehler enthalten. So erfährt man sogar, wo der Fehler aufgetreten ist – allerdings nur, wenn es ein einzelner Fehler ist. Der Witz ist also, daß man mehrere Paritätsbits in das ursprüngliche Wort einfügt; einem Trick aber auch Fehlerbündel, die Burstfehler, wodurch…“
„Den genauen mathematischen Zusammenhang zwischen Exponentialfunktion und Sinus im komplexen Zahlenraum“, sagte der Nerd plötzlich zu der hübschen Frau, „kapier ich auch nicht ganz zum Beispiel gibt ja eigentlich auch keinen Sinn, weil negative Flächeninhalte gibt es eigentlich gar nicht.“ Er zögerte kurz, fuhr dann aber mit einer Stimme, die ein klein wenig zu laut wurde, fort: „Aber trotzdem funktioniert es. Es ist halt definiert und bewiesen und man kann damit rechnen. Interessant ist, daß Sinus und Exponentialfunktion hier plötzlich zusammenhängen. Eigentlich geht es nämlich bei der Fouriertransformation nur um Sinus- und Cosinusschwingungen, aus denen die ursprüngliche Funktion zusammengesetzt wird. Die komplexen Zahlen spielen hier keine Rolle. Man benutzt sie nur, um Schriftzeichen zu sparen.“ Verdutzt sah Markus zu, wie die hübsche Frau es einfach geschehen ließ, als der Nerd beherzt eines ihrer Blätter zu sich zog und in winzigkleiner Schrift etwas neben die Kringel und Vierecke krakelte. Dann sagte er: „Weil der Ausdruck natürlich kürzer ist als . Die Eulersche Identität, ist eigentlich ganz einfach. Mathematiker sind schreibfaule Menschen, weißt Du?“ Statt etwas zu erwidern, verdrehte die hübsche Frau kokett die Augen. Der Nerd machte nervös: „Haha.“ Das wars dann wohl, dachte Markus. Dennoch konnte er sich nicht recht darüber freuen.
„…Fehlerkorrekturkodes da richtig, wo man keine Wiederholung eines Blockes anfordern kann, beispielsweise bei einem Simplexkanal. Meist wird aber nur dafür gesorgt, daß die fehlerhaften Datenblöcke vom Empfänger erkannt werden, so daß sie noch einmal angefordert werden können. Eine Methode wäre die folgende: Pro Block – 1000 Bit – wird ein Paritätsbit eingesetzt. Genauer: Nach je 1000 Blöcken gibt es einen Extrablock mit 1000 Paritätsbits für die letzten tausend Blöcke. Und ein Paritätsbit für den Paritätsblock. Hier ist die Fehlererkennungschance aber trotzdem nur bei 0,5. Deswegen faßt man die Blöcke einfach als rechteckige n * m – Matrix auf und führt für alle Zeilen Paritätsbits ein. So ist die Wahrscheinlichkeit, daß ein fehlerhafter Block akzeptiert wird, nur noch 2 hoch -n, wobei n die Zahl der Spalten. Fehler können auch…“
Markus bemerkte, wie ihn der Nerd von der Seite ansah. Bevor Markus den Blick erwidern konnte, hatte der Nerd sich jedoch schon wieder abgewandt. Eine Zeitlang schob der Nerd seine Unterlippe vor und wieder zurück und wieder vor und wieder zurück. Dann beugte er sich ruckartig zu der hübschen Frau hinüber. Diese hatte inzwischen angefangen, konzentriert mitzuschreiben, was der Professor sagte, und erschrak deswegen leicht, als sie die Stimme des Nerds neben sich sagen hörte: „Ich kann morgen meinen Laptop mitbringen, wenn Du magst. Ich kann Dir ein Programm zeigen, das ich geschrieben habe. Ich könnt Dir erklären, wie das mit der Fouriertransformation genau geht. Es wird dann anschaulich. Das ist ja vielleicht, ähm, ganz gut.“ Und dann stieß der Nerd hervor: „Wir – ich meine, ich könnte Dich – Dich ja in die Mensa einladen?“
„…der Polynomcode am besten. Man nennt ihn auch zyklischer Redundanzcode oder CRC, Cyclic Redundancy Code. Mit dessen Hilfe kann man die Wahrscheinlichkeit, einen fehlerhaften Block trotzdem zu akzeptieren, sehr klein werden lassen. Aber das werden Sie sehen, wenn Sie es in der Programmierpraxis ausprobieren. Ich nehme an, Sie haben sich schon in Gruppen zusammengefunden?“
Ein Bebrillter, der vier Reihen vor Markus saß – genau in der Mitte des Raumes –, fuhr hoch, sah den Professor an, schloß die Augen und machte: „M-m.“, während er den Kopf langsam nach rechts und dann nach links drehte.
„Also nein. Gut, dann machen Sie das jetzt. Gerald, legen Sie währenddessen bitte die Übungsblätter für diese Woche aus. Also Gruppen von zwei bis höchstens drei Leuten, Sie können aber auch allein arbeiten. Eben so, daß es aufgeht. Bitte beeilen Sie sich, ich muß heute früher weg.“
Alle Studenten sprangen flugs von ihren Plätzen, um im Raum umherzustürzen. Markus blieb sitzen. Bilder von Männern in weißen Hemden und schwarzen Krawatten legten sich über die der herumwuselnden Studenten: die Männer reckten ihre Arme in die Luft und wedelten weiße Papierfetzen herum und schrien so laut, daß es unmöglich war, auch nur ein Wort zu verstehen; Zahlen und gezackte Kurven schwebten über ihren Köpfen. Und noch etwas, etwas, das viel größer war als sie alle zusammen.
Trotz des Lärms hörte Markus vornehmlich das Brummen in seinen Ohren. Teilnahmslos sah er zu, wie der Nerd zusah, wie auch die hübsche Frau davonflitzte. Als sie im vorderen Teil des Raumes angekommen war, bog sie nach links ab; etwa auf Höhe der Tafel begann sie, immerfort „Matze, Matze“ zu rufen.
Nach zwei, höchstens drei Minuten hatten sich alle in verschieden großen Grüppchen zusammengefunden; zufrieden sahen sie abwechselnd zueinander und zum Professor. Der Nerd wandte sich zu Markus, lächelte schüchtern und sagte: „Immer kippen mir Bits um. Übertragungsfehler sind eigentlich die Regel. Vielleicht sollte ich mal diesen Polynomalgorithmus in meinem Kopf implementieren.“ Dann, nach einer kurzen Pause: „Wollen wir beide eine Gruppe machen?“ Markus wußte nicht recht, ob er verstanden hatte, was der Nerd mit den Übertragungsfehlern meinte; gut hörte es sich jedenfalls nicht an. Zudem fand Markus, daß die Augen des Nerds glasig aussahen, vom vielen Computern, dachte Markus und erschauerte.
„Also na ja, ja“, sagte er – schob aber sogleich hinterher, daß er viel zu tun habe und daß er kaum Zeit, im Grunde eigentlich gar keine Zeit hätte, da er etwas zu erledigen habe, etwas sehr Wichtiges, weswegen er seine Zeit nicht mit informatischen Scheinproblemen verschwenden könne.
„Die Listen liegen bei Frau Henze in RUD 25/ 4.211 aus“, sagte der Professor. „Jeweils eine Woche vor Ihrem Termin geben Sie bitte den Praktikumsbericht auf Papier ab. Spätestens zum Termin müssen Praktikumsbericht sowie alle Quelltexte elektronisch bei mir vorliegen, also per e-mail. In der Vorführung erwarte ich die Demonstration der Funktionsweise der Transportschicht im Normalfall und im Fehlerfall in einem Demo-Netzwerk bestehend?aus mindestens drei Rechnern (Workstation/ Server) und drei Routern, sowie die automatische?Korrektur des Routingverhaltens des Netzwerks?beim Ausfall eines Routers während des Dateitransfers. Da Sie ja C, C++, Java, Python und Perl beherrschen, dürfte…“
Als Markus die Augen wieder öffnete, war der Nerd verschwunden, ebenso der Professor und alle anderen. Der Raum war leer.
Wusch-Wusch; Wusch-Wusch. Markus war eigentlich schon vor einer Weile aufgewacht, aber da der Wecker noch nicht geklingelt hatte, war er noch liegengeblieben. Dieses Geräusch hatte ihn aufgeweckt, wieder die Waschmaschine, immerzu dieses Wusch-Wusch, da war es wieder: Wusch-Wusch. Markus sah auf die Uhr: 17:53 stand da; die 3 flimmerte, als würde sie jeden Moment ganz erlöschen.
Gestern war Markus’ Magier-Character im Wald von Okloogogh von einigen Krukrags angegriffen worden, als er gerade Naaru-Kräuter pflückte, die er benötigte, um eine Mighty-Panacea-Potion brauen zu können. Die Krukrags waren mythische Zwitterwesen (halb Elfen, halb Paladine), die sich außerhalb von Schlachten eigentlich immer friedlich zu verhalten pflegten – aber Markus hatten sie mit ihren giftgetränkten Pfeilen so schwere Wunden zugefügt, daß er 6 Schnelligkeitsskillpunkte und über 8 Gesundheitspunkte eingebüßt hatte, bevor er sie mit einer eigentlich viel zu großen Menge Recrudescence-Radiation endlich in die Flucht schlagen konnte (eine hektisch ausgeführte Notaktion, die ihn zusätzlich 4 Manaskillpunkte und 3 Energieskillpunkte kostete). Der schwere Verlust machte seinen Erfolg von nahezu 125 Spieljahren so gut wie zunichte. Verärgert und frustriert war Markus gestern erst gegen halb zehn Uhr morgens ins Bett gegangen.
Jemand hatte eine halbe Kanne Kaffee in der Küche stehengelassen. Der Kaffee war zwar nur noch lauwarm, mit ein paar Löffeln Zucker schmeckte er jedoch immer noch ganz gut.
Eine Weile war es still gewesen, aber jetzt hörte Markus wieder das Wusch-Wusch. Komisch, dachte Markus, die Waschmaschine ist doch gar nicht an? Noch während er das dachte, hörte er, wie sich eine Tür öffnete. Peter kam aus seinem Zimmer, ging herüber zu Pjatiletka und sagte: Kannst Du mal aufhören damit, ich muß lernen. Peter schloß die Tür und ging zurück in sein eigenes Zimmer.
Es war also gar nicht die Waschmaschine, sondern Pjatiletka!, dachte Markus. Womit aufhören?
Wusch-Wusch, machte es in Pjatiletkas Zimmer, und noch einmal, trotzig: Wusch-Wusch – dann immer langsamer: Wusch … Wusch – Wusch … Wusch. Schließlich blieb es still.
Markus sah aus dem Fenster: Draußen war es schon dunkel. Ob es den Tag über wohl sonnig gewesen war? Das Licht aus den Fenstern der umliegenden Wohnungen fiel auf den großen Baum im Hof und verlieh ihm ein gespenstisches Aussehen. Er war zwar noch kahl; dennoch waren bereits einige Knospen an den Ästen zu sehen. In den letzten Wochen war es ungewöhnlich warm gewesen. Einer älteren Dame zufolge, deren Geschnatter Markus in der überfüllten S-Bahn zugehört hatte, war es jedoch so gut wie sicher, daß es noch einmal richtig kalt werden würde. Zu leiden hätten dann nicht so sehr die Menschen, die ja Heizungen zuhause hätten, sondern vor allem die Pflanzen, die bitterlich erfrieren müßten – „so wie die Deitscha nach ’em Krieg, wo die fei mit zwei Kardoffle auskomme gmießt hend, in der Woch und fier de gänze Femilie freili!“ Die Begleiterin der älteren Dame – eine zweite ältere Dame –, hatte eifrig zugestimmt und kichernd gesagt: „Wenns weida so warm is, könne mer in fuffzehn Jahre midde im Winnder Pfersische ernde, sacht mei Sohn imma.“ Eine Schwangere, die das Gespräch mitverfolgt hatte, rückte den fleckigen Jogginganzug über ihrem prallen Bauch zurecht, wandte sich zu den beiden älteren Damen und sagte: „…und weeßta, die Amis, die sich während dette die Ranzen mit Schweinebraten und Kaujummis volljehaut ham, wa, wie jetze in der Irak.“
Markus merkte, daß er Hunger hatte: Mal sehen, was im Kühlschrank ist.Aber im Kühlschrank waren außer Pjatiletkas fingerdicken Wurst-Scheibletten von Lidl nur Sachen, die man erst mühsam zubereiten mußte: Diverses Gemüse, eingeschweißte Minutensteaks, Fertigpizzen.
Ich könnte ja kochen, dachte Markus. Was soll ich kochen? Der Gedanke gefiel ihm umso besser, als er sich ganz sicher war, daß der Nerd sich bestimmt nie etwas kochte.
Da fiel Markus’ Blick auf etwas weiter hinten im Kühlschrank, etwas Leuchtendes, das er bisher übersehen hatte: Eine Zitrone!, dachte Markus. Er nahm die Zitrone heraus und besah sie sich eingehend: Die Schale war gelb, stellenweise leicht bräunlich, und wies kleine Vertiefungen auf, die wie Hautporen aussahen. Auf einem schwarzen Aufkleber stand in großen grünen Buchstaben: BIO. Markus wog die Zitrone in der Hand, fühlte ihr Gewicht und wie kühl sie war. Er führte sie zu seiner Nase und schnupperte an ihr. Ein sanfter, aber unverkennbarer Duft entstieg dem Fruchtkörper, und Markus fühlte sich auf einmal ganz merkwürdig – so, als hätte er gerade warm gebadet … ein köstliches Menü gegessen … so, als hätte ihn eine Frau geküßt.
Ohne daß er viel davon merkte, ging Markus mit der Zitrone in der Hand aus der Küche in sein Zimmer zurück, schloß die Tür, setzte sich an den Schreibtisch und schaltete den Computer ein. Windows riß Markus mit einem fröhlichen Begrüßungsglockenspiel aus seinen Gedanken; behutsam legte er die Zitrone neben die Tastatur.
Markus wollte sich gerade daranmachen, im Linux-Modus die Konfiguration einiger Treiber zu optimieren, da fiel ihm seine Niederlage von gestern wieder ein; die Krukrags, die seinen Magier-Character überfallen und verwundet hatten. Dieser Typ aus Duisburg mußte sie angestiftet haben: Dessen Ork war zwar immer noch außer Gefecht – es waren erst 5 Spieljahre vergangen –, aber es war denkbar, daß er die Krukrags im geschlossenen Chat bestochen hatte, vielleicht mit einer großen Summe Chikineas, oder sogar mit Orktrauben, auf die die Krukrags es immer besonders abgesehen hatten, weil es für sie die schnellste und zugleich komfortabelste Möglichkeit war, ihren Geschicklichkeitsskillfaktor zu erhöhen. Eine andere Erklärung gab es nicht – warum sollten die Krukrags sonst einen Magier angreifen, einen ihnen seit altersher Verbündeten? Markus würde sich darum kümmern müssen. Jetzt? Vielleicht besser erst das Übungsblatt vom Server laden, dachte Markus.
Markus ging ins Internet und rief die Seite der Informatikfakultät auf. Während er seinen Namen, die Matrikelnummer und das zum Zugang in den internen Userbereich notwendige persönliche Paßwort in die Maske eingab, roch er noch einmal an der Zitrone und dachte daran, daß der Nerd sicher keine Zitrone habe. Wenn doch, dann würde er sie gar nicht zu schätzen wissen, wo er doch sicher immer nur an Computer denke und daran, wie man sie konfiguriert, ans Programmieren, Python, C++, Java, all diese Fremdsprachen, in denen man eigentlich gar nichts ausdrücken konnte. Als das Übungsblatt heruntergeladen war, loggte er sich wieder aus dem Informatikserver aus.
Obwohl er den Server der Informatikfakultät schon Dutzende und Aberdutzende Male besucht hatte, fiel ihm jetzt zum ersten Mal auf, daß das benutzte System goya hieß. Markus rief eine Suchmaschine auf und gab goya ein, einfach so, aus Spaß. Dann las er:
Auch der große spanische Maler Francisco de Goya (1746-1828) verwarf die herkömmlichen Themen der Malerei. Goya war zutiefst in der besten Tradition der spanischen Malerei verwurzelt, die einen El Greco (Abb. 238) und einen Velázquez (Abb. 264) hervorgebracht hatte. Goyas Gruppe auf einem Balkon (Abb. 317) zeigt, dass er im Gegensatz zu David nicht auf die leuchtenden Farben seiner Vorgänger verzichtete. Der große venezianische Maler des achtzehnten Jahrhunderts, Giovanni Battista Tiepolo (Abb. 288) hatte seine Tage als Hofmaler in Madrid beschlossen, und etwas von seiner Strahlkraft ist in Goyas Malerei wieder zu finden. Und doch gehören Goyas Gestalten einer anderen Welt an. Auf den ersten Blick sehen Goyas Bildnisse (Abb. 318), die ihm eine geachtete Stellung am spanischen Hof einbrachten, den Repräsentationsbildern des van Dyck (Abb. 261) oder des Velázquez ähnlich. Aber nur auf den ersten Blick, denn sobald wir diesen Granden genauer ins Gesicht sehen, können wir uns des Gefühls nicht erwehren, dass Goya ihre anspruchsvolle Eleganz verachtet. Er maß diese Damen und Herren mit erbarmungslosem Blick und enthüllte ihre ganze Eitelkeit und Gemeinheit, ihre Brutalität und innere Leere (Abb. 319). Nie hatte ein Hofmaler seinen Auftraggebern ein solches Zeugnis ausgestellt.
Ein großer Mann, dachte Markus. Er hätte ihm gerne den Auftrag erteilt, ein Portrait der Informatik zu malen. Was für ein Zeugnis Goya ihr dann wohl ausgestellt hätte? Während er versuchte, es sich vorzustellen, scrollte Markus weiter nach unten. Dort war zu lesen:
Das Bemerkenswerteste an Goyas graphischen Arbeiten ist die Tatsache, dass sie keinerlei bestimmte Themen, seien es biblische, historische oder Genreszenen illustrieren. Die meisten stellen phantastische Traumbilder von Hexen und Gespenstern dar. Manche sind als Anklage gegen die Mächte der Dummheit und der Reaktion, gegen menschliche Grausamkeit und Unterdrückung gemeint, wie sie Goya in Spanien hatte mitansehen müssen, andere scheinen einfach Alpträumen des Künstlers Gestalt zu geben.
Der Text lief um ein Bild, das eine sitzende Gestalt zeigte. Der Kopf der Gestalt war auf einen Schreibtisch gesunken, das Gesicht von den Armen verborgen: offensichtlich schlief die Gestalt. Hinter dem Stuhl, auf dem der Schlafende saß, spähte eine Katze mit weitaufgerissenen Augen hervor, und aus der Düsternis hinter dem Rücken des Schlafenden weitere Tiere, Eulen und Fledermäuse, ebenfalls mit riesigen Augen, unheimlich. Am oberen Bildrand schwebte eine schwarze Fledermaus, die mit ihren ausgebreiteten Schwingen beinahe ebensogroß war wie die schlafende Gestalt im Vordergrund des Bildes. Auf dem Schreibtisch stand: El sueño de la razon produce monstruos.
Spanisch müßte man können, dachte Markus. Dann könnte ich etwas über Goya und seine Zeit lesen. Da klopfte es an der Tür.
Markus reagierte nicht.
Als es erneut klopfte, sah er sich jedoch gezwungen, Ja zu sagen – wobei er sich bemühte, es widerwillig hervorzustoßen, so wie jemand, der mit äußerst wichtigen Dingen beschäftigt ist und dabei auf keinen Fall gestört werden möchte. Im letzten Moment griff er noch schnell nach der Zitrone und legte sie auf die andere Seite der Tastatur, so daß der Eintretende sie nicht sehen konnte; erst dann drehte er sich nach der Türe um.
Mit hängenden Schultern stand Pjatiletka da und schaute Markus an. Markus erschrak: Pjatiletkas Gesicht sah ganz bleich aus. „W-Was ist los? Bist Du krank?“ Pjatiletka schwieg.
Erst nach einer ganzen Weile sagte er, unter großer Anstrengung: „Chabe ich Antwort bekommen. Sagen, war nicht kaputt, chabe ich kaputt gemacht, und deswegen ich bezahlen. Jetzt alles kaputt. Diät jetzt kaputt auch.“ Dann drehte er sich um 180 Grad, schlurfte wie ein Roboter, der so erschöpft ist, daß er unter seinem eigenen Gewicht zusammenzubrechen droht, zur Tür, machte sie auf und schloß sie wieder hinter sich, sehr leise. Er bemerkte nicht einmal, daß er einen seiner Hausschuhe verloren hatte.
Antwort? Kaputt? Was war kaputt? Die Diät? Markus wußte zwar, daß Pjatiletka schon länger erfolglos abzunehmen versuchte, aber von dem, was Pjatiletka gesagt hatte, hatte er dennoch kein Wort verstanden. Hätte ich mich bloß schlafend gestellt, dachte er.
Markus sah auf die Uhr: 19:24 stand da; die 4 flimmerte, als würde sie jeden Moment ganz erlöschen. Daran, den Übungszettel zu machen, war jetzt irgendwie auch nicht mehr zu denken. Also wandte er sich dem Computer zu und lud die Daten für das Onlinespiel.
Markus’ Magier war durch den Angriff der Krukrags sehr geschwächt, und das Gift, in dem die Krukrags ihre Pfeile getränkt hatten, wirkte langsam, aber sicher. Die Krukrags würden das Gegengift natürlich nie freiwillig herausgeben, und auf einen Kampf würde er sich jetzt auf keinen Fall mehr einlassen können. Außer den Krugrags könnten nur noch Draghaneii-Witches im Besitz des Gegengiftes sein. Aber wo hielten sich Draghaneii-Witches auf; wo würden sie zu finden sein? Am Rande der Landstraße, über die Markus seinen Magier gerade ohne ein bestimmtes Ziel lenkte, kauerte ein Zwerg; der Magier sprach ihn an. Der Zwerg war aus unersichtlichen Gründen schwer verletzt und konnte deswegen kaum antworten. Mit letzter Kraft stieß er hervor, daß einige Draghaneii-Witches zur Zeit in den dunklen Höhlen der Astragarde zu Gast seien; dann starb er. Markus stöhnte auf. Die dunklen Höhlen der Astragarde lagen in dem Gebirge, das Okloogogh vom Land der Riesenklöger trennte, dem Schattenmond-Gebirge. Um überhaupt zum Fuß des Schattenmond-Gebirges zu kommen, mußte man ein weitläufiges Sumpfgebiet durchqueren, die Sümpfe von Suukohr, in denen es von Werwölfen und feuerschnaubenden Orgoquallen nur so wimmelte. Doch das war noch nicht alles: Die dunklen Höhlen der Astragarde lagen lose verteilt um die Große Zinne, dem höchsten Punkt des Schattenmond-Gebirges. Und selbst wenn er die dunklen Höhlen fände und es schaffte, sich an den Wachen der Astragarde vorbeizuschleichen, wäre es immer noch fraglich, ob ihm die Draghaneii-Witches überhaupt helfen würden. Und was würden sie als Gegenleistung für ihre Hilfe von ihm fordern? Aber Markus hatte keine Wahl: Wenn er das Gegengift nicht bekäme, würde es keine 7 Spieljahre mehr dauern, bis Markus’ Magier stürbe. Markus war so besorgt um das, was ihm bevorstand, daß er nicht bemerkte, wie im Unterholz des Waldes, den er gerade durchquerte, zwei rote Augen aufglühten und sich auf ihn richteten.
Am Computer schaltete sich die Lüftung ein. Das Summen des Laufwerks ging in einen sonoren Brummton über.
Draußen in der Küche rumorte jemand: Markus hörte, wie der Wasserhahn betätigt wurde, Geschirr und Besteck klirrte und Töpfe aneinanderschlugen. Jemand macht den Abwasch, dachte Markus und überlegte kurz, ob er hinausgehen und die schmutzigen Tassen und Teller, die er noch in seinem Zimmer hatte, dazustellen sollte. Dann verwarf er den Gedanken wieder.
Nach einiger Zeit hörte Markus, wie der Schrank geöffnet und Geschirr und Töpfe hineingestellt wurden: der Abwasch war also fertig. Markus hatte immer noch Hunger; er hatte lediglich zwei Scheiben Weißbrot mit Streichkäse gegessen. Vielleicht würde jetzt jemand etwas Feines kochen?
Als Markus die Küche betrat, kniete Peter gerade vor dem Kühlschrank. Markus schaute sich verwundert um: Alles sah ganz anders aus. Peter hatte nicht nur das Geschirr abgewaschen, sondern auch den Eßtisch freigeräumt und abgewischt und den Boden gekehrt. Wahrscheinlich erwartete er Besuch?
Da fiel Markus etwas ein. „Kennst Du den Fourier-Satz?“, fragte er eine grüne Paprika, die neben einer gelben und einer roten in einem Netz von der Decke hing.
Peter rückte Dinge im Kühlschrank umher.
Markus wollte die Küche gerade wieder verlassen, da sagte Peter auf einmal mit verstellter Stimme in den Kühlschrank hinein: „‚Ungeachtet der imponierenden Effektivität von angewandter Mathematik sind die Grundlagen der Wissenschaft unsicher und undurchsichtig. Die bloße Anwendung von entlehnten Formeln ist ein äußerliches Verhalten; der Anwendung selbst müßte ein Bewußtsein über ihren Wert wie über ihre Bedeutung vorangehen. Ein solches Bewußtsein aber gibt nur die denkende Betrachtung, nicht die Autorität derselben aus der Mathematik.‘“ Dann, nach einer kurzen Pause: „Komisch.“
Peter richtete sich auf, schloß die Kühlschranktür und ging zum Vorratsregal, wo er die Cornflakes-Schachtel nach links schob, dahinterschaute, dann nach rechts schob, wieder dahinterschaute.
Das war keine Antwort auf die Frage gewesen. Markus war sich nicht sicher, ob er sich verarscht fühlen sollte. Kurzzeitig verspürte er eine Art präventive Beleidigung.
Peter nahm den Toaster und ein paar andere Sachen vom Regal und stellte sie auf den Boden. Dann kicherte er und sagte, wieder mit derselben verstellten, hohlen Stimme: „‚In den mathematischen Beweisen fehlt das Moment des Selbstbewußtseins, indem der Inhalt der benutzten Begriffe nicht gewußt wird und so auch die Schlüsse daraus kaum verstanden werden können.‘ Aber sag mal, hast Du irgendwo eine Zitrone gesehen?“
„Nein“, sagte Markus.
„Hm, komisch, was ist mit der Zitrone passiert? Ich hab sie gestern gekauft und zusammen mit den anderen Sachen in den Kühlschrank gelegt.“ Peter schien zu überlegen. Dann sagte er: „Ich hab Pjatiletka extra gesagt, daß er für seinen Wodka was anderes nehmen soll. Übrigens, hast Du das gehört, dieses komische Geräusch? Ich dachte zuerst, er hätte neuerdings eine Waschmaschine in seinem Zimmer stehen. Hätte ja sein können, immerhin hat er auch sein eigenes Klo. Nein: einen Hometrainer! Aus dem Internet bestellt und zusammengebaut nach einer Montageanleitung, die zwar auf Deutsch, aber dennoch völlig unlesbar ist. Resultat: ein Fitnessfahrrad, das wie nasse Wäsche klingt.“
Also das hat Pjatiletka mir sagen wollen, dachte Markus. Dann ging er in sein Zimmer.
Nach einer Weile kam er zurück. An der Zitrone schnuppernd, die in seiner Hand lag, sagte er verträumt: „Sie riecht so gut.“ Im selben Moment fiel Peter ein Topfdeckel herunter. „Was hast Du gesagt? … He, da ist sie ja!“ Mißtrauisch sah er Markus einen Moment an; dann nahm er ihm die Zitrone aus der Hand und legte sie auf den Tisch, wo sie ein paar Zentimeter kullerte und liegenblieb. „Dann kann ich ja jetzt endlich anfangen.“
Peter holte einen großen und einen kleinen Topf aus dem Schrank, füllte den großen Topf mit Wasser, den kleinen mit Sahne und stellte beide auf den Herd. Er wusch die Zitrone gründlich mit heißem Wasser und trocknete sie wieder. Während er mit einem Schäler die Schale abrieb, pfiff er eine Melodie, die Markus zwar irgendwie bekannt vorkam, aber dennoch nicht zuordnen konnte. Schließlich preßte er den Saft aus.
Was macht er?, dachte Markus und schlurfte zu Peter, um ihm über die Schulter zu schauen.
Peter gab den Zitronensaft und die Zitronenschalenstreifen in die Sahne, die inzwischen kochte, würzte sie mit Salz; Pfeffer; Gemüsebrühe – ein paar Spritzer Sherry! Da klingelte es an der Tür.
Peter reduzierte die Hitze und ging hinaus, um zu öffnen; Markus blieb allein in der Küche zurück.
So gebraucht man also eine Zitrone!, dachte er. Er dachte daran, was für Gerichte man mit einer solchen Zitrone zaubern konnte: Einmal hatte Markus ein Hähnchen gegessen, dessen knusprige Haut mit Salz, Pfeffer, Knoblauch, Olivenöl und Zitronensaft bestrichen war; ein Wiener Schnitzel schmeckte überhaupt erst richtig gut, wenn man es mit Zitronensaft beträufelte; ebenso Fischfilets, Scampis, frittierte Sardellen oder panierter Ziegenkäse; man konnte Zitronenkuchen backen und mit Zitronenguß glasieren; ein luftiges Zitronenmousse zubereiten oder Zitronencrème schlagen und eine Biskuitroulade damit füllen; in Frankreich gab es Tarte au citron. Jetzt erinnerte er sich plötzlich auch, was das für eine Melodie gewesen war, die Peter da gepfiffen hatte: das Thema aus dem ersten Satz der Eroica! Ob Beethoven wohl auch Zitronensauce gegessen habe? Goya? Bestimmt!, dachte Markus. Der Nerd; die Informatik? Bestimmt nicht!, dachte Markus.
Die Haustür wurde geöffnet; Markus hörte leise Schritte, Flüstern, Gekicher; dann wurde die Tür zu Peters Zimmer geschlossen. Die Sauce köchelte nur noch leicht vor sich hin. Als Markus daran roch, spürte er etwas in der Brust, ein jähes Ziehen, ein Stechen, einen ganz unbestimmten Schmerz.
Nach einigen Minuten kam Peter in die Küche zurück, zerschlug zwei Eier und hob das Eigelb unter die Sauce. Dann verteilte er Spaghetti auf zwei Teller, goß die Sauce darüber, nahm die Teller und verschwand in seinem Zimmer.
Im großen Topf waren nur drei einzelne Spaghetti übriggeblieben, an den Rändern etwas Sauce. Markus nahm die Spaghetti mit den Fingern, zog sie durch die Sauce; legte den Kopf in den Nacken und ließ sie sich in den Mund fallen. Köstlich, dachte er kauend.
Dann machte er drei Schritte, langsam; auf der Schwelle zum Flur blieb er stehen. Leise Stimmen drangen durch die Tür zu Peters Zimmer, Lachen; kurz darauf das Ploppen eines Korkens. Wenn ich mir das Rezept merken kann…, dachte Markus – und dann nichts mehr; der Gedanke brach ab. Markus wußte nicht, was geschehen könnte, wenn es ihm gelänge, sich das Rezept zu merken.
Markus legte seinen Finger auf den Lichtschalter. Mit einem leisen Klicken erlosch das Licht. Reglos blieb er in der Dunkelheit stehen. Aus dem Hof drang gelbes Licht durchs Fenster und warf den Schatten eines Astes auf den Küchenboden. Auch der Schatten bewegte sich nicht.
Dieses Mal kam Markus zu spät. Zwar hatte er den Wecker klingeln gehört, ihn aber noch im Schlaf ausgeschaltet und einfach weitergeschlafen – bis er plötzlich hochgefahren und aus dem Bett gesprungen war. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Wecker 17:0.. angezeigt; die letzte Ziffer war erloschen. Die durch das Verschlafen verursachte Verspätung allein wäre schon groß genug gewesen, aber sie vergrößerte sich noch, weil Markus aus Versehen in die S-Bahn nach Spindlersfeld eingestiegen war und die Bahn in die Gegenrichtung erst nach einer Viertelstunde kam.
Als er mit zerzausten Haaren und schief geknöpfter Jacke die Universität betrat, zeigte die riesige Uhr im Foyer kurz nach sechs an: Markus war also nicht nur zu spät – vielmehr hatte er schon die Hälfte der Vorlesung verpaßt. Er hastete in den zweiten Stock, drückte, am Hörsaal angelangt, die Klinke herunter und zog umso vorsichtiger daran, als ihm ein Ziehen im Magen sagte, daß der Professor diesmal die Tür abgeschlossen haben würde. Aber die Tür schwang ohne Widerstand auf und gab den Blick in den Raum frei.
Nichts hat sich verändert, schoß es Markus durch den Kopf, während er hinter dem Professor an der Tafel entlang quer durch den Raum ging, da auf der rechten Seite keine freien Plätze zu entdecken waren. „…die allermeisten Studenten erstaunlich dumm sind. Das Niveau ist grauenhaft“, sagte der Professor gerade und bedachte Markus lediglich mit einem müden Blick. Der Professor hatte denselben Anzug an wie schon in der letzten Vorlesung, dasselbe Neonlicht beleuchtete dieselben Studenten, die dieselben Gesichter machten. „Aber das Schlimmste ist, daß sie daran nicht einmal selber schuld sind. Es beginnt schon in den Schulen: eine ‚reformierte Oberstufe‘, ‚fächerübergreifender Unterricht‘ hier, ‚Projekttage‘ da, und alle haben ihre 68er-Pädagogik intus und sind überzeugt, den Kinderchen etwas Fürchterliches anzutun, wenn sie sie zum Lernen anhalten, ihnen nur einmal sagen, daß der Gameboy jetzt eben mal für ein paar Stunden ausgeschaltet wird, damit die Hausarbeiten gemacht werden können. Aber nein. Und die Lehrer? Dieselben Windeier. Weil: Was kommt denn von den Schulen? Studenten, die nicht einmal Logarithmus-Operationen sauber beherrschen! Nicht mal das! Es will ja keiner hören, aber die einzige Lösung wäre ein Schulsystem, das den Schülern sagt, ganz klar sagt, wo es langgeht. So wie in der DDR. Studien haben gezeigt, daß…“
Inzwischen war Markus im hinteren Teil des Raumes angekommen; er drückte sich auf einen Platz in einer der letzten Reihen und holte seinen Block und einen Bleistiftstummel aus dem Rucksack. Die Spitze des Bleistiftes war mittlerweile so stumpf, daß es unmöglich war, noch damit zu schreiben. Als Markus sich zu seinem Nebensitzer wandte, um ihn nach einem Anspitzer zu fragen, bemerkte er, daß er sich aus Versehen neben den Nerd gesetzt hatte. Der Nerd schaute nur unverwandt nach vorne; es war nicht auszumachen, ob er mit offenen Augen schlief oder konzentriert zuhörte. Den frage ich nicht, dachte Markus.
Nach einem mühevollen Weg durch die Sümpfe von Suukohr, in denen er nur einige Male von zwei Zyklopen angegriffen worden war, die ihn längere Zeit verfolgt hatten, um ihm seinen Druidenstab zu rauben, aber bei den Kämpfen dank einem Witchcraft-Bluecircle – einer Art Schutzglocke, die einen Gutteil der Manaskillpunkte verschlang, da sie aus magischer Strahlung bestand – keine weiteren Verletzungen davongetragen hatte, war Markus’ Magier nach 2 Spieljahren gestern endlich am Fuß des Schattenmond-Gebirges angekommen. Dort hatte er mehrere Blaubrotbüsche und einen kristallklaren Quell entdeckt, an dem er sich so lange gelabt hatte, bis sein Magier laut „AAAH!“ gemacht hatte, das Signal dafür, daß er 20 Gesundheitspunkte dazugewonnen hatte. Dann hatte er sich darangemacht, das Schattenmond-Gebirge zu besteigen.
„…wenn auch nicht erschöpfend und in alle Details, so bisher doch wenigstens überblicksweise die Bitübertragungs- und Sicherungsschicht behandelt. Zum gegebenen Zeitpunkt werde ich in Bezug auf die Bitübertragungsschicht noch etwas zu den hardwaretechnischen Lösungen nachtragen, da hier bereits viele Eigenschaften und Einschränkungen des Netzwerkes festgelegt werden, die sich später nicht mehr ändern lassen. Auch wenn Sie sich nicht im Detail für die mechanischen und elektrotechnischen Probleme in diesem Gebiet interessieren, ist es doch wichtig, hier wenigstens Grundkenntnisse zu haben, denn falsche Entscheidungen verschlingen Unsummen von Geld, wenn dann ein großer Teil der Hardware durch anderes Material ersetzt werden muß, was in der Praxis häufiger vorkommt, als man denkt. Schon bei der Spezifikation der Übertragungsmedien, also Kupferkabel, Lichtwellenleiter, Stromnetz, Luft etc., gilt es…“
Beim Besteigen des Schattenmond-Gebirges war Markus’ Magier gut vorangekommen, auch deswegen, weil ihn manchmal Riesenkletterechsen ein Stück auf ihrem Rücken mitgenommen hatten. Markus hatte sich gerade entschlossen, seinem Magier eine kurze Rast auf einem Felsvorsprung zu gönnen, um wieder Energieskillpunkte gutzumachen, und dabei die exzellente Grafik genossen, in der der Ausblick über die Sümpfe von Suukohr bis nach Okloogogh dargestellt war, da hatte er weit über sich die Flugsaurierherde entdeckt. Flugsaurier! Nur die Draghaneii-Witches verfügten über die schwarzmagische Kraft, die man benötigte, um sich die starken und stolzen Flugsaurier dienstbar zu machen. Also hielten sich die Draghaneii-Witches nicht mehr bei den Astragarden auf – jetzt war es völlig ungewiß, wohin sie fliegen würden! Die Flugsaurier hatten sich über das Tal der Knochen in Richtung Norden bewegt, wo sich Ustuorrahkk bis zum nördlichen Rande der Welt erstreckte. Wenn die Draghaneii-Witches wirklich in dieses von unheilvollen Sagen umwobene Land flögen, das angeblich keine der drei Sonnen jemals beschien, wäre es zweifelhaft, ob Markus sie überhaupt je rechtzeitig finden könnte, bevor das Gift aus den Krukrag-Pfeilen ihm alle Gesundheits- und Energieskillpunkte entzogen haben würde.
Es war etwa sechs Uhr morgens gewesen, als Markus einige Schritte auf den Felsvorsprung zu gemacht hatte und knapp am Rand stehengeblieben war. Dann hatte er lange überlegt, ob er sich nicht einfach hinunterstürzen sollte. Was brachte es, wenn er mit seinem Magier durch den virtuellen Konfigurationsraum des Onlinespiels rannte und Quests löste, die mit dem real life rein gar nichts zu tun hatten? Er hatte sich Kopfhörer aufgesetzt, um sich den Auftaktchor aus Bachs Johannesevangelium anzuhören. Die Musik hatte sich von Tonart zu Tonart geschraubt und so die frohe Botschaft verkündet. Das letzte Mal, als er den Auftaktchor gehört hatte, hatte sie ihn tief ergriffen, eine regelrechte Euphorie in ihm ausgelöst. Aber diesmal war sie nur an ihm vorbeigerauscht. Als er den Computer ausgeschaltet hatte und zu Bett gegangen war, hatte der Wecker 7:2.. angezeigt.
Markus bemerkte eine Bewegung im Augenwinkel: Es war der Nerd. Er sah Markus mit einer seltsamen Miene an; Markus konnte diesen Gesichtsausdruck nicht einordnen. Dann sagte er: „Hallo. Der Übungszettel war gar nicht ohne, oder?“
„Nein“, sagte Markus trocken. Unglaublich – dieser Nerd schien wirklich ein Gespräch anfangen zu wollen.
„…dieser Schritt gemäß des OSI-Modells erst ab der dritten Schicht, der sogenannten Vermittlungsschicht (Network Layer) vollzogen wird. Bislang haben wir den Horizont unseres Nachbarrechners nicht überschritten. Aber in den seltensten Fällen wollen wir in einem Netzwerk tatsächlich nur mit unserem physischen Nachbarrechner kommunizieren. Um genau zu sein, wissen wir häufig gar nicht, wo der Rechner, auf dem unsere Nachricht landen wird oder von dem wir unsere Daten beziehen, überhaupt lokalisiert ist. Automatisch stellt sich die Frage, wie unser Datenpaket seinen Weg zum eigentlichen Bestimmungsort finden soll. Die Problematik wird nicht einfacher, wenn wir uns klarmachen, daß ein Paket auf seinem Weg in den meisten Fällen durch viele verschiedene Teilnetze hindurchgeleitet werden muss. Diese Netze gehören uns nicht, und wir können auch nicht ahnen, ob es gerade sinnvoll ist, das eine oder das andere Teilnetz zu bevorzugen, weil dort vielleicht gerade weniger Verkehr ist. Im Routing können beim Durchqueren von fremden Teilnetzen allerlei Probleme entstehen, deren bestimmende Faktoren…“
„Bei Aufgabe 2.a) hab ich wirklich länger überlegen müssen“, sagte der Nerd. „Zuerst hab ich gar nicht weiter gewußt. Aber dann hab ich nochmal 1.d) angeschaut und gemerkt, daß da die Lösung eigentlich schon fast drinsteht. Oder zumindest der Weg, wie man zur Lösung kommt. Wie hast Dus gemacht? Gings Dir auch so?“ Markus glaubte, den Anflug eines Lächelns auf dem mißgeformten Kiefer des Nerds erkennen zu können. Wollte der Nerd ihn testen? Überprüfen, ob er das Übungsblatt gemacht habe? Oder wollte er ihn etwa verarschen?
„Weiß nicht“, sagte Markus mit einer bewußt gesetzten Verzögerung; dann sah er wieder nach vorne.
„…das Internet doch einfach toll: da kann man alles nachlesen. Einmal zum Beispiel war der Gameboy meines Sohnes kaputt. Natürlich war gerade die Garantiezeit abgelaufen, man hätte ihn also einschicken oder gleich einen neuen kaufen müssen. Aber dann bin ich darauf gekommen, den entsprechenden Anschluß im Internet nachzuschauen. Ich las den Schaltplan und dachte: Du mußt einfach diesen Pin anlöten, dann sollte es gehen. Ich lötete also den Pin an – und tatsächlich, das wars, das Ding funktionierte wieder. Aber mein Sohn hat einfach weitergespielt, gerade so, als ob nichts gewesen wäre, und hat sich gar nicht dafür interessiert, was der Vati da gerade gemacht hat. Überhaupt interessiert sich keiner in meiner Familie für meine Arbeit. Auch meine Frau nicht. Na ja.“ Der Professor nestelte an den Knöpfen seines Hemdes; öffnete den obersten Knopf und schloß ihn wieder; unter seinen Achseln hatten sich Schweißflecken gebildet. Plötzlich klatschte er in die Hände und sagte schnell: „Na ja. Gut. Schluß für heute. Ich habe noch nicht alle Übungszettel. Also für die, die ihn noch nicht vor der Stunde bei Gerald abgegeben haben, bitte jetzt. Ich weiß, daß es dieses Mal deutlich schwieriger war als sonst, aber machen Sie sich keine Sorgen: Das habe ich absichtlich gemacht. Damit Sie schon mal einen Schritt voraus sind, sozusagen. Oder hinterher. Je nachdem eben. Haha.“
Die Studenten ballten ihre Hände zu Fäusten und klopften enthusiastisch mit den Knöcheln auf die Bank. Dann erstarb das Klopfen; die Studenten erhoben sich, packten ihre Sachen zusammen, zogen ihre Jacken an, gingen nach vorn, gaben ihre Übungsblätter ab und verließen einzeln oder in Grüppchen lachend und schwatzend den Raum. Einige stellten sich in eine Reihe, um den Professor noch etwas zu fragen, darunter auch der Nerd.
Markus saß noch. Unsicher, ob er so tun sollte, als hätte er das Übungsblatt schon abgegeben und einfach hinausgehen sollte, oder ob er bleiben und, wenn man ihn anspräche, behaupten sollte, er hätte es zwar gemacht, finde es aber gerade nicht, fingerte Markus nervös an seinem Rucksack herum. Plötzlich war er sich sicher: Alle wußten, daß er bisher kein einziges der Übungsblätter gemacht hatte.
Es gab keinen anderen Weg: Er würde abwarten müssen, bis alle den Raum verlassen hatten. Bis dahin würde er einfach weiter so tun, als suche er etwas. Markus ließ seinen Bleistift fallen und bückte sich so weit als möglich unter die Bank, strich seine Hose zurecht, öffnete die Schnürsenkel und band sie sich wieder.
Nach einiger Zeit hörte Markus nur noch die Stimme des Professors und eine zweite, die er nicht kannte; Schritte; jemand schob den Overhead-Projektor beiseite – schließlich wurde das Licht gelöscht und die Tür geschlossen. Markus wartete noch einen Augenblick, dann richtete er sich vorsichtig auf, nahm seinen Rucksack und ging, die Arme in der Dunkelheit vor sich gestreckt wie ein Blinder, durch die leeren Reihen zum Ausgang. Endlich, dachte er, als er die Klinke ertastet hatte. Er drückte sie herunter – aber nichts tat sich. Er drückte noch einmal und zog und drückte und rüttelte – aber die Tür blieb, wo sie war. Markus war eingeschlossen.
Es war fast 23 Uhr, als Markus zuhause ankam. Alles schien normal zu sein: Pjatiletka saß in der Küche und schaute sich einen Krimi im Fernsehen an; aus Peters Zimmer drangen laute Stimmen. Markus ging ins Bad und betrachtete sich eine Zeitlang im Spiegel: Nichts zu sehen, dachte er. Dann ging er in sein Zimmer, verschloß die Tür, zog alle seine Kleider aus; setzte sich splitternackt an den Schreibtisch und schaltete den Computer ein.
Während er noch auf das Hochfahren von Windows wartete, glitt seine Hand von der Tastatur auf etwas Glattes, Kühles: Was ist denn das?, dachte Markus und sah einen Briefumschlag auf dem Tisch liegen. Es konnte weder eine Wurfsendung noch eine Rechnung sein, denn in einer schönen, gestochen scharfen Handschrift standen da auf dickem Papier sein Name und seine Adresse geschrieben; in der rechten oberen Ecke klebte eine Briefmarke, die einen rotweißen Leuchtturm vor leuchtendblauem Himmel zeigte. Jemand hat mir geschrieben!, dachte Markus. Kein Absender, auch auf der Rückseite nicht.
Mit zitternden Fingern öffnete er das Kuvert und zog einen mehrfach gefalteten, cremefarbenen Papierbogen heraus. Darauf stand, maschinengeschrieben:
Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn,
Im dunkeln Laub die Gold-Orangen glühn,
Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,
Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht,
Kennst du es wohl?
Dahin! Dahin
Möcht ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn!
Kennst du das Haus? Auf Säulen ruht sein Dach,
Es glänzt der Saal, es schimmert das Gemach,
Und Marmorbilder stehn und sehn mich an:
Was hat man dir, du armes Kind, getan?
Kennst du es wohl?
Dahin! Dahin
Möcht ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn!
Kennst du den Berg und seinen Wolkensteg?
Das Maultier sucht im Nebel seinen Weg,
In Höhlen wohnt der Drachen alte Brut,
Es stürzt der Fels und über ihn die Flut:
Kennst du ihn wohl?v Dahin! Dahin
Geht unser Weg! o Geliebter, laß uns ziehn!
Markus verstand den Text nicht gleich; er las ihn ein zweites Mal. Zuerst durchlief es ihn heiß, ein Gefühl wie das, als er einmal als Kind beim Stehlen ertappt worden war. Dann flackerte etwas in ihm auf, das er für Empörung hielt, Zorn: Wie konnte ihm jemand etwas so Böses antun? Er spürte ein Stechen in der Brust; in seinem Kopf pochte es und sein Mund war ganz trocken.
Er stand auf, ging zum Fenster und schaute hinaus. Die meisten Fenster im Vorder- und Nebenhaus waren dunkel; nur unten im Hof bei den Mülleimern brannte eine helle Laterne.
Da bemerkte er ein Gesicht im Fenster direkt gegenüber. Obzwar er es nur verschwommen und undeutlich sah, kam es ihm irgendwie bekannt vor: er schaute es an, und das Gesicht schaute unverwandt zurück. Neben dem Gesicht erschien eine Hand, die ihm winkte – aber da hatte auch Markus schon seine Hand erhoben und winkte zurück.
EMIL FUCHS