Der Weltgeist in Tönen
Seminar zum vierten Satz der sechsten Mahler-Sinfonie
„Auf Mahler allein“, erkannte einmal Adorno, „paßte das Wort sozialistischer Realismus“. Von seinen Werken aber, auf die es paßt, ist die ein Jahr vor der ersten russischen Revolution fertiggestellte sechste Sinfonie sicher die erste Wahl. Vollends der Finalsatz besteht in einer epischen Darstellung einer revolutionären Erhebung; Mahler erwies sich hier als komponierender Weltgeist.
Dieser Satz wird daher in einem Zweitagesseminar analysiert, indem die einzelnen Teile getrennt gehört und besprochen werden. Seine gewaltige Form – der Satz dauert knapp eine halbe Stunde – wird dadurch kenntlich. Man darf sich auf gewaltige Durchbruchversuche der sich aus Motivtrümmern formierenden Märsche freuen und bekommt am Ende ein Gespür für vollständige Niederlagen. Dabei wird ein wenig die Partitur bemüht, aber nur, soweit auch ein Laie mitkommt. Insbesondere wird auf Harmonieanalyse weitgehend verzichtet und musikalische Vorbildung ist daher kaum erforderlich, aber natürlich erlaubt. Gegebenenfalls werden einige Texte gelesen.
Zweitagesseminar mit Franz Hahn.
27. und 28. Juli 2024, 14 bis ca. 18 Uhr im West Germany,
Skalitzer Straße 133, Berlin Kreuzberg
Anmeldungen per E-Mail an mahler-seminar@gmx.de.
Partitur und Reader werden vorab als pdf verschickt.
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„Der Satz ist lang und dicht, aber da Exposition, Durchführung und Reprise durch eine leicht erkennbare Einleitung getrennt werden, die jeweils in einer Variation wiederkehrt, und sich außerdem die Durchführung durch sehr markante Orchestermittel (Hammerschläge und Generalpause) übersichtlich gliedert, ist er trotzdem überschaubar. Mahler gönnt seinem Material in der wiederkehrenden Einleitung einige Zeit zum Sammeln. Das Stück geht durch eine längere Periode der schüchternen Assoziation zunächst nur für sich daseiender Fetzen hindurch. Inmitten dieser Einleitung ertönt ein Choral zunächst nur der Holzbläser, dann aber immerhin vom Blech erhört. Nach ihm setzt die Sammlungsbewegung von neuem an, um sich aber diesmal sukzessive zu einem Marsch zusammenzusetzen, als dessen Teile sich im Resultat einige der Fetzen erweisen. Durch diese Kompositionsweise ist das Hauptthema quasi schon bekannt, wenn es zum ersten Mal gespielt wird. Diese Introduktion ist – im Gegensatz zum oben behandelten Kopfsatz der Dritten – sehr individuell gehalten. Hier ist kein Mythos komponiert, wie der des erwachenden Pan, sondern bereits ein musikalisches Abbild wirklicher Menschen. Anders als im Kopfsatz der Dritten scheinen die Akteure außerdem bereits zu wissen, was ihnen blüht. Der schließlich die Exposition eröffnende Hauptmarsch ist kein fröhlicher Maiumzug, sondern aggressiv und bereits zielgerichtet, es kommt einem eher der Begriff Bolschewisierung in den Sinn als der des Frühlings. Die erste Schlacht wird dann auch schon in der Exposition angedeutet, welche von einem kurzen Seitensatz abgeschlossen wird. Die Durchführung wird, wie gesagt, wieder durch eine Variante der Einleitung vorbereitet. Die Revolution bekommt ihre kleinen Ruhephasen, wenn es auch kaum Momente der Suspension gibt. In drei Wellen werden danach die Schlachtformationen losgelassen. Dazwischen gibt es wieder ruhige Passagen des Schmerzes und Abschieds, aber sehr kurz gehalten und die Entwicklung kaum bremsend. Zweimal wird das gesamte Orchester von einem Hammerschlag getroffen und bäumt sich auf (erste und dritte Welle). Im Klimax (zweite Welle) entlädt sich nach einer Generalpause die aufgebaute Spannung in einem verzweifelten durch Ruten und Trommeln angetriebenen Marsch. Es hilft aber alles nichts, die Reihen halten dem Druck nicht stand und die Einleitung mit ihren isolierten Glocken und dumpfen Motiven bricht schließlich wieder herein; die Scheiße geht von vorne los. Statt aber daß die Sache gelaufen wäre, taucht aus dem Nichts eine Sologeige auf, macht der Menge wieder Mut. Der Choral erklingt von neuem, mit gesteigerter Kraft und es kommt urplötzlich zu einer letzten verzweifelten Eruption in der Reprise, die wie eine zweite Durchführung klingt und endgültig alle Kraft verbraucht. Folgerichtig ist die Coda knapp gehalten: Die Sinfonie verklingt.“ (Aus Franz Hahn: Der komponierende Weltgeist, Magazin No 5)
Disclaimer: Mahler war skeptisch, was Programme zu seiner Musik angeht. Er hatte den frühen Sinfonien manchmal welche verpaßt und dann erleben müssen, „auf welch falsche Wege hierdurch das Publikum geriet.“ Allerdings hat er sich nie grundsätzlich gegen den Versuch von Programmen ausgesprochen: „Es wäre auch nichts weiter gegen ein Programm einzuwenden (wenn es auch nicht grade die höchste Staffel der Leiter ist)“. Überhaupt gäbe es „von Beethoven angefangen, keine moderne Musik, die nicht ihr inneres Programm hat.“ Er schiebt aber gleich nach: „Keine Musik ist etwas wert, von der man dem Hörer zuerst berichten muß, was darin erlebt ist – respektive was er zu erleben hat. – Und so nochmals: pereat – jedes Programm! – Man muß eben Ohren und ein Herz mitbringen und – nicht zuletzt – sich willig den Rhapsodien hingeben. Ein Rest Mysterium bleibt immer – selbst für den Schöpfer!“ – Aber das Seminar ist eben für Laien gedacht und so helfen wir uns mit einem Programm. Wenn es auch nicht die höchste Stufenleiter sein mag, so ist ein fiktiver Revolutionsversuch der Arbeiter doch immerhin das richtige Programm. (Worüber zu diskutieren ist. Andere von der Interpretation angegebene Programme sind das Völkerschlachten im 1. Weltkrieg oder gar die Aufmärsche der SA. Zartere Seelen behelfen sich mit wahlweise Wahnsinn oder Tod, aber je individuell gedacht. Wieder andere hören die Strenge von Mahlers Vaters heraus.)