17. Februar: Die Besetzung des Cégep du Vieux Montréal
Am 17. Februar 2012 stimmten die Studenten der Cégep du Vieux Montréal dafür, in den Streik zu treten und sich CLASSE anzuschließen. Die Schulleitung hatte bereits erklärt, dass sie im Falle einer erfolgreichen Urabstimmung das Gebäude schließen würde, um eine Universitätsbesetzung wie im Jahr 2005 und kurz im Jahr 2007 zu verhindern. Die Urabstimmung fand online statt, aber sobald die Ergebnisse bekannt gegeben wurden, stimmten die Studenten in einer in der Cégep Cafeteria abgehaltenen Vollversammlung dafür, das Gebäude zu besetzen. Es ist möglich, dass im Verlauf dieser Diskussion vereinbart wurde, dass Barrikaden errichtet werden sollten; es ist auch möglich, dass diese Möglichkeit lediglich diskutiert wurde. Jedenfalls begannen einige, sie zu bauen, während einige andere die Studenten der anderen Universitäten dazu aufriefen, ebenfalls zur dieser Cégep zu kommen und nochmal andere redeten immer noch in der Vollversammlung.
Die kurze Besetzung des Cégep du Vieux veranschaulicht den negativen Einfluss von Occupy in der Eröffnungsphase des Studentenstreiks. Die Vollversammlung hat in den meisten französischsprachigen Lehranstalten schon lange einen festen Platz. In diesem Fall behandelte ein beträchtlicher Teil der Teilnehmer sie als Selbstzweck statt als ein Mittel zum Zweck. Als mehr Aktivisten und Polizei an der Schule ankamen, fuhr die Versammlung fort, Fragen zu diskutieren, die für die unmittelbare Situation immer irrelevanter wurden. Ferner entpuppten sich die Teilnehmer als völlig weltfremd – versinnbildlicht dadurch, dass sie weiter diskutierten, ob man das Gebäude verbarrikadieren solle, als andere das längst taten.
Viele Studenten der Cégep, die gegen den Streik waren oder einfach der auswärtigen Hilfe gegenüber ablehnend, gingen herum und belästigten vorzugsweise anglophone Leute, vor allem wenn sie der französischen Sprache weniger mächtig waren, und fragten sie, was sie in „unserer Schule“ wollten. Die Barrikadenbauer wurden bedroht und provoziert, wenn auch keine wirklichen Kämpfe ausbrachen. Anderswo stritten sich einige heftig mit „Außenstehenden“ und „Unruhestiftern“, die sich mit Feuerlöschern ausgerüstet hatten, um sich auf eine spätere Polizeibelagerung vorzubereiten, und frustrierten diese schließlich so sehr, dass sie sich entschieden zu gehen. Wieder andere benutzten die Feuerlöscher trotzdem, aber da hatten viele die Lokalität bereits mit dem Gefühl verlassen, dass die Sache schlecht enden würde. Es hatte einen Aufruf zur allgemeinen Beteiligung gegeben, aber das war für eine aufgebrachte Minderheit unwesentlich, da sie wahrscheinlich nicht wollte, dass irgendwer aufsässig wurde und es am einfachsten fand, diejenigen zu anzugreifen, die kein Französisch sprechen konnten oder die nicht an genau dieser Institution studierten.
Es gab für die Besetzung keinen Plan, und wenn es auch unsicher bleibt, ob sie erfolgreich gehalten hätte werden können, sofern es einen Plan gegeben hätte, so half die mangelnde Vorbereitung nicht gerade. Viele Leute hatten kaum ein Bild von der Lage des Gebäudes, welches an der Seite eines großen Hügels liegt. Das gibt der Polizei die Möglichkeit, von einem der oberen Geschosse her eindringen zu können, um sich dann abwärts in die Lobby vorzuarbeiten, wohin sich die Vollversammlung und Masse der Besetzer irgendwann bewegt hätte. Bestimmte Aktivisten begannen, große Barrikaden auf den Eingangstreppen zu errichten und weitere auf höheren Etagen. Andere Leute tranken und feierten.
Während der Besetzung unternahm niemand Maßnahmen, um die Wachleute der Schule zu entfernen. Diesen wurde erlaubt, frei umherzustreifen und, ohne das sie das Geschehen unterbinden konnten, Beweise zu sammeln, die später in den Strafverfahren verwendet wurden. Im größten Teil wurden die Kameras weder sabotiert noch wenigstens verhängt. Eine beteiligte Person filmte alles, offensichtlich mit guten Absichten. Aber die Polizei konfiszierte später seine Kamera und benutzte sein Bildmaterial als zusätzlichen Beweis. Diese Versäumnisse im Handeln, dieses Versagen des Denkens und die Misserfolge, den Leuten zu sagen Hört mit der verfickten Filmerei auf, tabernak de câlisse! kamen ihnen sehr teuer zu stehen, als bei den anschließenden Polizeiuntersuchungen viele Beweise gegen jene auftauchten, die in dieser Nacht „Akte des Vandalismus“ begangen hatten.
Alles zusammengenommen, dauerte die Besetzung neun Stunden. Die letzten Aktivisten im Gebäude waren eine kleine Gruppe von Studenten, die sich in einem Vorlesungssaal eingesperrt hatten. Die kurze Besetzung des Cégep du Vieux war der einzige Versuch einer dauerhaften Besetzung eines Universitäts- oder Cégepgebäudes während des gesamten Streiks, und sein Misslingen hatte große Auswirkungen.
Im Gegensatz zu 2005, als viele der Hauptgebäude besetzt wurden, machten die Polizei und die Universitätsverwaltung von Anfang an klar, dass dauerhafte Besetzungen nicht toleriert würden. Das zwang die Leute, Tag für Tag auf die Straße zu gehen, was den Streik von 2012 sichtbarer und störender machte als den vorhergehenden.