1. Mai: Kreative Zerstörung in Montréal
In Québec sehen die großen Gewerkschaften den 1. Mai immer noch als den Internationalen Tag der Arbeit, und das ist immer noch ein Nachteil für alle, die den 1. Mai zu einem Tag der Konfrontation mit dem Kapitalismus und dem Staat machen wollen. Viele Jahre lang gab es keine gesonderte antikapitalistische Demonstration. Stattdessen nahmen Anarchisten und Parteikommunisten an der Gewerkschaftsdemo teil, sie kollaborierten bei ihrer eigenen Marginalisierung, selbst wenn sie ihre Propaganda mit der Hoffnung verbreiteten, „das Bewusstsein der Arbeiter zu verändern“ oder etwas mit ähnlichem Effekt.
2009 wurde eine separate Demonstration im Stadtzentrum organisiert, größtenteils von Maoisten und Anarchisten, welche den Weg zum Finanzdistrikt nahm. Es gab keine Konfrontation, weil jeder darauf wartete, dass irgendjemand anders beginnen würde. 2010 organisierte die kürzlich wiedergegründete CLAC eine Demonstration, im Rahmen ihrer Kampagne, die Bewohner von Montréal zur Teilnahme am Widerstand gegen den G20-Gipfel in Toronto zu mobilisieren. Bei dieser wurden einige Transparente aufgehängt und ein paar Graffiti gesprüht. Heißer wurde es 2011, als es zu erheblicheren Konfrontationen mit der Polizei kam.
2012 befürwortete CLAC einen Aufruf von Occupy Oakland zu einem weltweiten Generalstreik am 1. Mai und rief explizit zu „direkter Aktion“ und „kreativer Zerstörung“ auf. Vielleicht weil CLAC eine nicht rein anarchistische Organisation ist, gab es ebenso einen Aufruf zu einem anarchistischen Block auf der Demonstration, der die Konfrontation sogar noch mehr betonte: „Achtet darauf, dass ihr dicht zusammensteht und nur aus dem Frontbereich heraus werft“, lautete er und wandte sich so den Problemen zu, die Straßenaktionen in Montréal immer noch plagen. Es wurde außerdem dazu aufgerufen, sich schwarz zu kleiden.
Die Demonstration begann auf den Champ de Mars, direkt vor der Montréal City Hall, und bewegte sich schnell zum Innenstadtkern. Sie mochte den größten schwarzen Block gehabt haben, der je auf den Straßen Montréals gewesen war – vielleicht 300 Leute. Unglücklicherweise resultierte dies nicht im durchschlagenden Erfolg des 20. April.
Die Polizei war auf die Konfrontation gut vorbereitet und agierte entschiedener dahingehend, die Demonstration abzubrechen, als sie dies zu irgendeinem anderen Zeitpunkt während des Streiks getan hatte. Bevor irgendeine Eigentumszerstörung hätte stattfinden können, erklärte die Polizei die Demonstration für illegal. Eine taktische Polizeieinheit, die parallel zum mittleren Teil des Demozuges gelaufen war, griff beinahe unmittelbar nach dieser Erklärung an und brach so den Demozug in zwei Teile. An der Kreuzung der Rue University und der Rue Sainte-Catherine und in der Nähe davon konfrontierten Straßenkämpfer die vorher erwähnte Riot-Police und schafften es, sich dabei einige Zeit zu halten.
Dennoch stürmte bald mehr Polizei von Süden heran und jagte die Demonstration einige Blocks weit. Sie tat dies durch eine Art Bockspringspiel. Wenn Demonstranten vor einer Reihe der Riot-Police wegrannten, bestiegen die langsameren Polizeieinheiten eine Flotte von (Riot-)Transportern, welche dann an einer anderen bereits vorne aufgestellten Reihe der Riot-Police vorbei fuhren, schnell entladen wurden, um die Anarchisten wieder eine kurze Distanz lang zu jagen, bevor das Ganze wiederholt wurde.
Die unnachgiebige Jagdstrategie hatte drei Effekte:
1. Sie machte es sehr schwer, zum Gegenangriff überzugehen, obwohl einige heroische Anstrengungen in diese Richtung unternahmen.
2. Sie machte es für die Demonstranten viel schwieriger, strategisch zu bestimmen, in welche Richtung sie sich bewegen sollten.
3. Sie erschöpfte viele Leute und zwang sie so, in Seitenstraßen Deckung zu suchen, um wieder zu Atem zu kommen.
Während der Jagd versuchte eine kleine Gruppe von Militanten – der Teil, der blockiert worden war – die Polizei zu bekämpfen, indem sie nach vorne rannte, Wurfgeschosse sammelte und dann entweder wieder zurückfiel oder auf einen Zeitpunkt wartete, an dem die Beteiligten das werfen konnten, was sie in der Hand hatten, bevor sie wieder nach vorne rannten. Möglicherweise wären die Dinge anders gelaufen, wenn mehr Leute die Polizei angegriffen hätten, statt wegzurennen. Bei diesem Ereignis gab es jedenfalls keine großen Bemühungen in diese Richtung.
Ein Bild des 1. Mai 2012, an das man sich besonders gut erinnert, war eine Gruppe maskierter Militanter, welche die Polizei mit Donuts, die an Schnüren von Stöcken herabhingen, verhöhnte. Diese Bullen waren in der taktischen Einheit, die es schaffte, die Demo so entscheidend zu teilen. Der Donut-Gag war witzig und ist immer noch witzig. Wenn aber auch nur ein Teil der Leute auf den Straßen an diesem Tag bereit gewesen wäre, zuerst zuzuschlagen, hätten sich diese Cops zurückziehen müssen und wir hätten einen haushohen Sieg errungen und nicht nur billige Lacher.
Wenn die Vollversammlungen, die später aus den weiter unten behandelten Casserole-Demos heraus entstanden, schon vor dem ersten Mai existiert hätten, wäre es interessant gewesen, ob der Versuch eines Generalstreiks organisiert werden hätte können, der dem Geschehen in Barcelona am 29. März geähnelt hätte, mit umherziehenden Streikposten in den Vierteln und umfangreichen Schließungen vieler Arbeitsstätten. Es ist bedauerlich, dass arbeitsplatzorientierte Gruppen wie die Industrial Workers of the World in Montréal den Aufruf nicht ernst nahmen, trotz der Anfragen anderer Anarchisten. CLAC selbst sah sich unfähig, einen Generalstreik zu organisieren.
2012 markierte eine weitere Marginalisierung der passiven Gewerkschaftsdemo. Während im vorhergehenden Jahr die beiden Demonstrationen aus etwa gleichvielen Teilnehmern bestanden hatten, nahmen dieses Jahr doppelt so viele Leute an der antikapitalistischen Demo teil.
In der Auseinandersetzung mit dem 1. Mai ist es erwähnenswert, dass der anarchistische Aufruf unter den Anarchisten selbst umstritten war. Viele sahen ihn als reine Pose an, die nichts weiter erreichen würde, als die 1. Mai-Demonstration aufzuheizen und so die Repression gegen sie zu erleichtern. Diese Kritik nimmt an, dass die Menge der Polizeikräfte – oder ihre Vorbereitung oder die Bereitschaft, die Demonstration anzugreifen – ohne den Aufruf deutlich geringer gewesen wäre, während die Anzahl der gut auf die Konfrontation vorbereiteten Militanten nicht nennenswert geringer gewesen wäre. Es ist unmöglich zu wissen, was passiert wäre, aber wenn man die jüngere Geschichte des 1. Mai und den Ärger bereitenden Ursprung von CLAC betrachtet, erscheint es unwahrscheinlich, dass die Polizeipräsenz nicht überwältigend gewesen wäre.