Vom 21. Mai an: Der Aufstieg der Casseroles
Es sollte nun klar sein, dass die Bewegung nicht homogen ist und dass viele Fragen – über Strategie, über Ethik, darüber, worauf es ankommt – Uneinigkeit hervorgerufen haben. Aber in der Regel befinden sich Anarchist/inn/en, wenn es um Themen geht, mit denen sich jeder in der Bewegung herumschlagen muss, auf der gleichen Seite. Diesmal keine Bedenken bei der Verwendung der ersten Person Plural: Wir haben die Strategie des Pazifismus abgelehnt, wir haben „politische Lösungen“ und Appelle an den Nationalismus abgelehnt, wir bestehen auf Autonomie bei der Wahl der Aktion und auf Solidarität mit denjenigen, denen eine heftigere Taktik vorgeworfen wird, wie den Angeklagten im Rauch-Bomben-Fall. Es gibt aber mindestens eine Ausnahme von dieser Regel: wir stimmen bei den Casseroles nicht überein. Es gibt keinen Konsens darüber, inwiefern die Entstehung der Casseroles den Kampf gegen den Kapitalismus unterstützt oder behindert hat.
Anarchist/inn/en, die diese positiv sehen, neigen dazu, zu betonen, dass die Casseroles die gesellschaftlich am besten sichtbare Manifestation des allgemeinen Zorns gegen die Anti-Dissens-Gesetze von Charest und Tremblay sind. Sie haben es ermöglicht, dass die Bewegung sich in Gegenden und sozialen Kreisen ausgebreitet hat, in denen sie sich sonst nicht hätte verwurzeln können. Sie wurden auch als eine Solidaritätsgeste in Städten in ganz Kanada und der Welt vervielfältigt. Sie beförderten allgemeine Nachbarschaftsversammlungen, die den Keim einer anderen Art kollektiver Entscheidungen in sich tragen. An einigen Orten bezogen diese Versammlungen explizit antikapitalistische Positionen, und sie konnten Kämpfe gegen die spezifischen, lokalen Formen des Kapitals initiieren.
Anarchist/inn/en, die sie negativ sehen, neigen dazu, zu betonen, dass sie (die Casseroles) genau dann entstanden sind als es von entscheidender Bedeutung für die Nachtdemonstrationen in der Innenstadt war, eine hohe Beteiligung aufrechtzuerhalten. Die Situation während des Buchmessen-Wochenendes schien zur Explosion bereit, aber diese fand nicht statt – zum Teil wegen der Casseroles, die von einigen, die ursprünglich diese Idee verbreitet hatten, explizit dafür gedacht waren, „Spannungen zu verringern“ und die „Situation zu beruhigen“.
Offensichtlich gab es wertvolle Aspekte der Casserole-Demos, vor allem derjenigen, die zu einem frühen Zeitpunkt in den Vierteln stattfanden. Sie brachten den Streik in viele Teile der Stadt auf einmal, und weil eine große Anzahl von Personen beteiligt war und die Casseroles geografisch verteilt waren, waren sie schwer zu kontrollieren und im Zaum zu halten. Sie lieferten vielen Menschen eine gangbare Form der Beteiligung an der Bewegung, auf welche Weise auch immer; ansonsten hätten viele Menschen von ihr nur in der Zeitung gelesen oder Geschichten über sie von ihren Kindern, Enkeln oder älteren Geschwistern gehört. Die ursprüngliche Idee war, dass am 21. Mai Menschen Töpfe auf der Treppe, vor ihrem Haus, auf dem Balkon oder in ihrem Fenster schlagen sollten, und zwar genau um 20 Uhr, für 15 Minuten: nicht mehr, nicht weniger. Die Leute griffen die Idee auf und weiteten die Grenzen der ursprünglichen Konzeption eines ortsgebundenen Protests aus; in der Nacht von Mittwoch, dem 23. Mai, gab es umherschweifende Casserole-Demos in den Straßen von Verdun, Villeray, Centre-Sud, Hochelaga, Ville Saint-Laurent, dem Plateau, Saint-Henri und anderswo. Viele von ihnen begannen in ihrem Viertel, machten sich aber schließlich auf den Weg in die Innenstadtkerne, so dass die Situation dort umso unkontrollierbarer wurde.
Die Casseroles starteten auch Viertelversammlungen, die Potenzial für die Leute schufen, Entscheidungen mit ihren Nachbarn zu treffen, die den Charakter des Ortes, an dem sie leben, verändern. Die Versammlungen sind noch ziemlich neu, es wäre nicht überraschend, wenn einige von ihnen wieder verschwänden oder sich in sogar noch farcenhaftere Wiederholungen der schlimmsten Aspekte von Occupy Montréal verwandeln – obwohl viele Versammlungen Maßnahmen getroffen haben, um solche Unzulänglichkeiten zu vermeiden. In vielen Stadtteilen haben Anarchist/inn/en viel Energie in ihre lokalen Versammlungen gesteckt, die zu explizit antikapitalistischen Projekten geworden sind, mit Ausschüssen, welche die Streiks per direkter Aktion fortsetzen wollen. Dies verheißt Gutes für den Beginn des Sondersemesters am 13. August.
So machten also die Casserole-Demos die Bewegung sichtbarer und zugänglicher für Menschen in den Stadtteilen. Was die Casseroles jedoch in der Innenstadt machten, ist eine andere Sache. Im Wesentlichen befriedeten sie die Nachtdemos zum zweiten Mal. Die Nachtdemos hatten sich Ende April als raue und unkontrollierbare Reaktion auf den durch Studentenanführer und ohne Zustimmung der Mitglieder, vereinbarten Waffenstillstand entwickelt; es dauerte fast eine Woche, bis die Polizei und ihre de-facto-Verbündeten, die pazifistische Bürgerwehr, eine gewisse Ordnung in sie brachten. Am Wochenende der Buchmesse überschritten die Militanten die Ordnung mit härteren Straßenkämpfen, wilder als bei den Nachtdemos von Ende April. Die Verabschiedung der neuen Gesetze, die weithin von Teilnehmern der Bewegung und aller politischer Richtungen als faschistisch beschrieben wurde, hielten diejenigen, die physische Konfrontation mit der Polizei verhindern wollten, davon ab, ihr Verhalten mit pazifistischen Sprüchen rechtfertigen zu können. Es wird in Québec allgemein verstanden, dass der Faschismus bekämpft werden muss, vielleicht sogar mit gewaltsamen Mitteln. Es wäre nutzlos für diejenigen, die alles beruhigen wollen, zu argumentieren, dass die neuen Gesetze nicht faschistisch wären, weil – den in Québec beliebten, übertreibenden politischen Diskurs vorausgesetzt – Faschismus nicht vermittels objektiver Kriterien erkannt wird, sondern durch populäre Rhetorik. Die Parteigänger der Befriedung brauchten eine neue Strategie.
Dies war natürlich die Casserole. Das Wort ist eine Frankifizierung des spanischen Wortes cacerolazo, was so viel bedeutet wie „das Schlagen eines Eintopfes“, und bezieht sich auf eine rebellische Tradition, die sich zum ersten Mal während der Diktatur von Augusto Pinochet in Chile während der 1980er Jahre ausbreitete; eine andere Situation, die viele Menschen in Québec, aber auch viele anderswo, als faschistisch charakterisieren würden. Zu einer Zeit, als andere Formen des Widerstands zu Tod oder Folter von Militanten oder ihrer Familienangehörigen führen konnten, stellte die cacerolazo eine relativ sichere Art dar, eine sichtbare Kultur der Opposition in Chile zu schaffen – wenn auch immer noch eine, für die sie hart bestraft werden konnten.
Die Situation in Québec heute kann nicht mit dem Pinochet-Regime verglichen werden. Kein Zweifel, die Dinge sind schlecht und werden schlechter, aber die Leute hier müssen für ein Engagement in militanten Auseinandersetzungen mit der Polizei nicht das Risiko einer außergerichtlichen Hinrichtung fürchten, sie müssen sich auch keine Sorgen machen, dass ihre Verwandten in Regierungsgefängnissen gefoltert werden. Einige möchten behaupten, dass die Casserole-Demos die konfrontativen Nacht-Demos als bevorzugte Taktik der Bewegung ersetzt haben, weil die Situation nichts anderes mehr erlaubte, aber das ist einfach falsch. Sie sind entstanden, weil gewisse Leute diese Art von Demo statt einer anderen Art von Demo wollten. Das heißt, dass diese Menschen Dissens mit weniger Risiko für sich selbst ausdrücken wollen.
Wenn die Innenstadt von Montreal von Straßenkämpfen erfüllt wird, erscheinen Signale der Unordnung. Graffiti, zerbrochene Fenster, offene Hydranten, Sirenen, Aufstandsbekämpfungs-Polizei… All diese Dinge machen den sozialen Krieg sichtbar, der in diesem Gebiet immer stattfindet, und sie unterbrechen die Aura der Stabilität, die Montréal braucht, um ausländische Investitionen, Touristen und internationale Unternehmen wie Konferenzen anzuziehen. Wenn auch laute Demos, die den Verkehr blockieren und die Straßen mit Roten-Quadrat-Aufklebern schmücken, dies auch schaffen können, ist doch klar, dass sie es in einem geringerem Ausmaß tun; sie sind auch weniger in der Lage, ihre Position zu halten, wenn die Polizei sie aus bestimmten Bereichen der Stadt heraushalten möchte, und sie sind leichter in ein unternehmerfreundliches Bild eines demokratischen, den Dissens begrüßenden Québec einzuverleiben. Raymond Bachand, der Finanzminister, zieht die Casseroles den casseurs (Randalierern) vor. Er sagt, er begrüßt diese neue Art von Demonstration als eine gute Nachricht. Vielleicht mag er die Botschaft, die sie senden: dass die Bewegung müde und nicht mehr in der Lage ist, die wirtschaftlichen Störungen zu bewirken, die die Regierung zwingen, Zugeständnisse anzubieten, um den sozialen Frieden wiederherzustellen.
Es sei noch einmal betont, dass weniger konfrontative Demos nicht per se schlecht sind. Sie sind zugänglicher für Menschen mit Angst oder mit eingeschränkter Beweglichkeit und auch für Leute, die ihre Kinder ohne Angst vor chemischen Waffen auf die Straßen bringen wollen. Casserole-Demos, die am Berri-Square starten und in die Innenstadt ziehen, werden aber nie so sicher sein wie Demos in den nachbarschaftlichen Stadtteilen – und die anfänglich großen Nachbarschafts-Demonstrationen schrumpften deutlich, als die Demos auf dem Berri-Platz anfingen, eine große Zahl von Menschen anzuziehen, die sonst vielleicht näher bei ihren Häusern demonstriert hätten.
Um die Revolte auszubreiten und zu siegen, wie auch immer dies aussehen mag, brauchen wir verschiedene Taktiken, die einander ergänzen. Riots in der Innenstadt können gut mit verallgemeinertem fröhlichen Widerstand zusammengehen [12], weil sie diesen fröhlichen Widerstand, der auch dem Austeritätsprogramm der Regierung entgegengesetzte Forderungen stellt, attraktiv macht. Aber die Monopolisierung der Bewegung durch die Casseroles hat die Macht sowohl der konfrontativen wie der fröhlichen Formen des Widerstands verringert.
Wissend, dass die Pazifisten ihr Bestes tun, um ihre bevorzugte Taktik in jedem Bereich der Bewegung durchzusetzen, ist es eine Herausforderung an den Rest von uns, Wege zu finden, verschiedene Arten von Demonstrationen getrennt zu halten und dabei klar zu machen, welche Arten von Aktivitäten wo willkommen sind. Es ist schwierig, grüne Zonen und rote Zonen zu definieren, zum Beispiel, wenn Demos jede Nacht stattfinden, doch im Juni – als leider das Chaos in den Straßen abzusterben begann – wurden Anstrengungen unternommen, bestimmte Nächte mit bestimmten Arten von Demos zu assoziieren. In manchen Vierteln veranlasste der Mangel an Energie in den nächtlichen Casseroles Menschen, an bestimmten Abenden der Woche kraftvoll herauszukommen – am Mittwoch in Saint-Henri, am Sonntag und Mittwoch in Hochelaga – und gleichzeitig die Innenstadt zu ignorieren. Anfang Juni versuchten Anarchist/inn/en und andere in CLAC jeden Samstagabend spezifisch antikapitalistische Demonstrationen vom Berri-Platz in der Innenstadt aus zu organisieren. Diese sollten nicht nur eine Vielfalt von Taktiken begrüßen, sondern auch die Fleur-de-lysé Flagge ausschließen und jene an den Rand drängen, die sie schwenkten. Ähnliche Bemühungen könnten bald Dynamik gewinnen.
In Bezug auf Anarchist/inn/en an anderen Orten ist es wichtig, den Mythos auszuräumen, bloßes Töpfe-Zusammenzuschlagen in den Straßen könnte eine revolutionäre Situation schaffen. Dies ist offensichtlich, doch Töpfe-Zusammenschlagen scheint immer noch der häufigste Ausdruck von Solidarität mit dem Kampf in Montréal sein. Das ist toll, für das Feedback sind wir dankbar, aber wir würden es viel lieber sehen, wenn Menschen dort ihre Angelegenheiten angreifen würden, wo sie sind, als das zu fetischisieren, was für uns in vielerlei Hinsicht ein sehr frustrierendes Element des Kampfes ist. Wenn Ihr etwas fetischisieren wollt, warum schaut ihr nicht auf die Schlagzeilen ein paar Wochen vor den Casseroles, als „Manif-actions“ oft die Innenstadt gelähmt hatten und die Polizei deshalb mit ihrem Latein am Ende war?
[12] Der Autor will damit nicht unterstellen, dass Ausschreitung nicht fröhlich sein können.