Einige Bemerkungen zum vorliegenden Buch
Abgesehen von der spektakulären Behandlung in der Tagesberichterstattung der konventionellen Medien sind die Ausschreitungen, die im August 2011 einige Tage, oder besser, Nächte lang England in einige Unruhe stürzten, hierzulande kaum zur Kenntnis genommen worden. Auch die „radikale Linke“, dieses Sammelsurium von zueinander oft antagonistischen Gruppen und Publikationen auf der wenig erfolgreichen Suche nach dem Besseren, kümmerte sich zum Beispiel lieber um die angeblich freiheitlichen und demokratischen „Revolutionen“ in Nordafrika und machte wenig Aufhebens um die Vorgänge auf der britischen Insel, die am 8. August, einige Tage, nachdem Mark Duggan von der Polizei erschossen worden war, in London ihren Ausgang nahmen und schnell zahlreiche andere Städte erfassten: Hunderte und Tausende meist junger Menschen, die durch die urbanen Einkaufsmeilen zogen, Geschäfte zerstörten, Brände legten und die Gelegenheit beim Schopfe griffen, sich plötzlich unbewachte Konsumgüter mittels Plünderungen anzueignen. Und die sich währenddessen vor allem heftige Auseinandersetzungen mit der Polizei lieferten, deren sonst widerwillig oder stillschweigend hingenommene Autorität sie offenbar nicht mehr akzeptieren wollten. Zunächst einige Tage in die Defensive gedrängt, gewann die Staatsmacht allerdings bald wieder die Oberhand, der Spuk war vorbei – und eine immense Welle der Repression traf mit reichlich Willkür mehrere Tausend Menschen, die der Beteiligung an den Ausschreitungen in welcher Form auch immer bezichtigt wurden; begleitet wurde das Ganze durch einen von Politikern, Prominenten und Medien inszenierten Volkszorn des „echten Englands“ – ein auto-suggestiver Versuch, die beunruhigende Tatsache zu exorzieren, dass offenbar ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung bereit ist, Moral, Recht und Gesetz zu verachten und entsprechend zu handeln – zumal, wenn sich eine geeignete Gelegenheit bietet.
Mit diesem Band soll nun durch die Übersetzung einiger Texte, die mehrheitlich aus England selbst stammen, wenigstens ein begrenzter Einblick in diese Ereignisse gewährt und damit die erwähnte hiesige Wahrnehmungslücke ein Stückchen verkleinert werden, die ja hierzulande mit einer ebenso auffälligen Lücke hinsichtlich des Vorkommens artverwandter Phänomene korrespondiert: Hierzulande wird nicht geplündert, die Polizei kann ihre Funktion weitgehend ungestört erfüllen, und die Massen leben zwar in einem asozialen Verhältnis zueinander, sind jedoch auf eine Weise integriert, die eine reibungslose Verwaltung des studierenden, arbeitenden oder arbeitslosen Menschenmaterials erlaubt. Geschichtslose, ideologiefreie Zeiten, könnte man meinen. Da aber, so die Überzeugung hier, das Ende der Geschichte keinesfalls erreicht wurde und irgendein Maulwurf immer am Wühlen ist, sollen die hier versammelten Texte ein Beispiel vorstellen, wie es aussehen kann und welche Fragen sich stellen mögen, wenn auch im 21. Jahrhundert in Europa die Verhältnisse zu tanzen beginnen – auch wenn die englischen Ereignisse vielleicht eher einem Totentanz ähneln, jedenfalls wohl nicht die Schrittfolge des Wegs zur Assoziation freier Individuen vorgeben.
Der Leser wird sehen, dass die Sammlung in verschiedene Abschnitte eingeteilt ist. Nach einem einleitenden Teil, zu dem eine kurze Chronik der behandelten Ereignisse und der Versuch eines der Herausgeber, das Geschehen in einen größeren Zusammenhang zu stellen, gehören, folgen Kapitel, die ein Licht auf folgende Aspekte werfen sollen: Wie sahen einige unmittelbare Reaktionen auf die Ausschreitungen aus? Was ist vom gesetzeswidrigen Charakter der Ereignisse zu halten? Was lässt sich anlässlich der Ausschreitungen über die Linke sagen? Wie verhält sich das Geschehen 2011 zu ähnlichen geschichtlichen Ereignissen in England? Was sind die allgemeinen Ursachen dieses Ausbruchs von Chaos und Gewalt? Was folgte auf den August 2011?
Die Auswahl ist nicht willkürlich, aber subjektiv. Die Herausgeber wissen, dass sie auch andere Texte in anderer Zusammenstellung hätten versammeln können, haben sich aber für diese entschieden – inklusive der Widersprüche, die es zwischen den eben keine Generallinie abbildenden Beiträgen gibt.
Et al., Dezember 2011