Aus unseren Gerichtssälen – N°1
Das große Gedrücke in der Skalitzer
A6-Booklet (Zum Falten, Schneiden und Tackern)
6. September 2019, neun Uhr morgens, Amtsgericht Tiergarten. Auf der Tagesordnung steht der zweite Prozess wegen »Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte« und Landfriedensbruch gegen Genossen, die bei der Kundgebung aus Anlass der Besetzung von leerstehenden Gewerberäumen in der Skalitzer Straße im letzten Oktober dabei waren. Die Leute wollten die Räume für irgendetwas mehr oder weniger Sinnvolles nutzen, einen Sportraum oder so.
Vor dem Gerichtsgebäude ein Werbeschild eines Anwalts: »STOP. Bevor Sie reingehen, rufen Sie an!« Aber der heute zu Richtende hat schon eine Anwältin und das ist auch besser so, denn er ist angeklagt wegen Widerstands nach dem 2017 reformulierten §113 und das auch noch in einem »besonders schweren Fall«, weil die Tat »gemeinschaftlich mit anderen« begangen worden sein soll. Rund ein Dutzend seiner Freunde und Bekannten, darunter wir, sind beim Prozess anwesend und bilden »die Öffentlichkeit« des Verfahrens. Damit ist die Besuchertribüne des kleinen, mit dunklem Holz getäfelten und äußerst prosaisch anmutenden Raumes mit der Nummer 370 in der Turmstraße auch schon halb voll. Vorne sitzt die Richterin hinter einem Pult mit derselben Holzverkleidung, sie wirkt die ganze Zeit über eher mäßig interessiert; neben ihr eine gelangweilte junge Frau, vermutlich eine Praktikantin, sowie die einer Behördensekretärin ähnelnde Protokollantin, die vor einem altertümlichen Bildschirmmonstrum seitlich zum Publikum sitzt. Davor – ebenfalls seitlich positioniert – links der Staatsanwalt, der immer wieder prüfende Blicke ins Auditorium wirft und ansonsten auf seinem Rechner nach weiteren Photos vom »Tatgeschehen« zu googeln scheint, und rechts die Verteidigerin. Besonders feierlich ist die Stimmung nicht. Richterin und Anwälte wirken, als hätten sie ihre Roben schnell über die Alltagsklamotten geworfen, was vermutlich auch so ist. Insgesamt wirkt das Ganze recht banal, es handelt sich eher um einen routinierten Behördenvorgang mit schlichten Angestellten, keine weihevolle Urteilsfindung und -verkündung. Dazu trägt auch bei, dass alle sehr leise reden, fast als handle es sich um ein Privatgespräch. Da kann der Staatsanwalt noch so lange das Gericht als »hohes Haus« anreden, die Atmosphäre kommt nicht recht zustande.
Auf dem vordersten der etwas seltsam hintereinander angeordneten Stühle in der Mitte zwischen den Anwälten sitzt der Angeklagte schräg vor der Richterin. Es gibt einen Zeugen; er sitzt versetzt etwa einen Meter hinter dem Angeklagten. Der Zeuge ist Polizeibeamter und gibt routiniert seine Personalien an und erklärt ohne Nachfrage, dass er mit dem Angeklagten »weder verwandt noch verschwägert« sei. Er trägt Dienstuniform und sitzt äußerst aufrecht, den breiten Rücken mit der Aufschrift POLIZEI dem Publikum zugewandt; die Jacke hat er salopp über die Stuhllehne gehängt. Er ist von den im Raum Anwesenden eindeutig am adrettesten gekleidet und bewahrt am meisten Haltung – im Übrigen spricht er auch am deutlichsten. Im Publikum ist von der Verhandlung vieles nur schwer zu verstehen, auch weil weiter hinten ein Fenster zum recht lauten Hof offensteht, was die Klassenzimmeratmosphäre noch verstärkt.
Der Zeuge schildert ausführlich und fast ohne unterbrochen zu werden – nur einmal stellt die Richterin eine Nachfrage –, sichtlich bemüht um eine amtlich korrekte und dem demokratischen Kodex entsprechende Ausdrucksweise, aber doch auch mit einem Anstrich von Authentizität, »die Situation«. Die war nämlich so: Es habe auf der Skalitzer Straße eine Kundgebung wegen der »Mietensache usw.« gegeben. Er stand mit, wie er zuerst sagt, nur etwa 8 bis 10 – später wurden es dann doch eher 16 – Kollegen vor der Eingangstür zu dem Haus, in dem sich die besetzten Räume befanden, und hatte den Auftrag, die Demo-Auflage durchzusetzen, dass diese Tür, eine »Doppeltür«, wie er mehrfach hervorhebt, frei bliebe, »damit die Anwohner aus- und eingehen« können und nicht belästigt werden. Bei dieser noblen Aufgabe im Dienste des öffentlichen Landesfriedens bzw. der Sicherheit und Ordnung für die Anwohner sei er allerdings durch eine Gruppe von, wie er angibt, etwa 30 bis 40 Kundgebungsteilnehmern behindert worden, die einen »großen Druck« auf die im Halbkreis vor der Tür stehende Polizeikette ausgeübt habe. Dabei sei es zu »direkten polizeilichen Zwangshandlungen« gekommen. – Hier fragt die Richterin nach, was er damit meine. Der Polizist bleibt etwas vage und meint, es habe Körperkontakt zu den Demonstranten gegeben. – In dieser Gruppe habe sich jedenfalls auch der Angeklagte befunden. Laut Angaben des Polizisten stand er wenige Meter von ihm entfernt, so dass dieser ihn »hätte schlagen können«, was er aber nicht getan habe. Er sei wechselnd in der ersten oder zweiten Reihe, vielleicht auch weiter hinten gestanden, aber jedenfalls in seinem »direkten Nahbereich«, wie er wiederholt aussagt. Es klingt, als hätten sie sich die ganze Zeit fest in die Augen geblickt. Er erinnert sich denn auch genau, der Angeklagte habe ein »helles T-Shirt mit einem Muster aus Ananas oder Palmen« und einen »Jutebeutel« getragen. Das stimmte zwar nicht, war aber eine verzeihliche und geradezu authentische Fehlerinnerung. Die Polizei hatte es schließlich bei diesem Einsatz insgesamt gar schwer, bei dem »großen Druck« den die Demonstranten auf sie ausgeübt hätten. Der zwar nicht besonders groß gewachsene, aber durchaus kräftige Beamte schildert jedenfalls anschaulich, wie er seine »gesamte Kraft« habe einsetzen müssen und sogar ein Bein nach hinten gestellt habe (!), um besseren Stand zu haben, um dem »Drücken« standhalten zu können und die Tür – die für kurze Zeit geöffnet worden war, weil eine Anwohnerin mit Fahrrad das Haus betreten habe – vor den andrängenden drei oder vier Reihen von »Kundgebungsteilnehmerinnen« zu schützen. Diese hätten dabei noch zu allem Überfluss die ganze Zeit lautstark gerufen – »ACAB« und »Haut ab«, jedoch alles »unterhalb der Schwelle der Beleidigung«, wie er selbst hinzufügt – und das hätte den Beamten einen ganz schönen Stress verursacht, zumal ja alles ein großes Durcheinander gewesen sei. Auch die Tür sei nur schwer wieder zu schließen gewesen, nachdem die Anwohnerin hindurch gegangen sei, sie hätten es »versucht«, diese sei jedoch sehr schwergängig gewesen (auf dem Video ist später zu sehen, wie die Tür nahezu sanft ins Schloss fällt). Die Demonstranten hätten dann auch noch direkte körperliche Gewalt angewendet, indem er sie ihm an der Kleidung gerupft und »auf die Arme geschlagen« hätten, die er ohnehin nur angewinkelt habe halten können, so dicht seien die Demonstranten gestanden – durch den »hohen Druck«, den sie ausgeübt hätten, er erwähnt es noch einmal. Allerdings muss er zugeben, dass er dadurch nicht verletzt wurde. Die Distanz zu seinem Gegenüber reichte aber aus, um selbst einige Fußtritte gegen Demonstrantenschienbeine ausführen zu können – auch dazu diente das nach hinten gestellte Standbein, wie er brav erläutert –, er nennt sie »Stöße« mit der Fußspitze, die aber »wirkungslos« geblieben seien. Alles in allem also eine sehr missliche Lage und man bekommt beim Zuhören beinahe Mitleid. Denn zuletzt kam auch noch hinzu, dass er und seine Kollegen keine Zeit gehabt hätten, Schutzkleidung anzulegen. Auf Nachfrage der Verteidigerin wird dann aber deutlich, dass sie lediglich keinen Helm aufgehabt hatten, aber durchaus Arm- und Beinschützer und gepolsterte Jacken trugen. Über den Angeklagten kann er nicht viel mehr sagen, als dass dieser in der Gruppe dabei gewesen sei und folglich »Druck ausgeübt« habe, konkrete Handlungen kann er ihm nicht nachsagen. Aber immerhin hätte die erste Reihe schließlich nicht so stark auf ihn eindrängen können – er musste, wir erinnern uns, seine »gesamte Kraft« aufwenden –, wenn nicht hinter ihnen noch weitere Reihen sich befunden hätten. Am Ende der Aussage, die durchaus ein wenig verworren ist, aber um äußerste Detailgenauigkeit bemüht und ganz offensichtlich eingeübt, will der Staatsanwalt nochmal genau hören, ob denn der Angeklagte die Möglichkeit gehabt habe, die Situation zu verlassen. – Ja, dies sei der Fall gewesen, auch andere seien weggegangen. Diese Feststellung wird im Plädoyer das Hauptbelastungsargument der Staatsanwaltschaft abgeben. Auch die Verteidigerin stellt noch einige Nachfragen, will nochmal genau wissen, wo der Beamte sich befunden habe, wie weit die Demonstranten entfernt gewesen seien etc.
Die ganze sicher 20minütige Aussage des Beamten erweist sich dann im Fortgang als irgendwie überflüssig, denn die Verteidigerin schlägt vor, dass man noch einmal gemeinsam das vorhandene Videomaterial sichten solle, um besseren Überblick über die Standorte der beteiligten Personen zu gewinnen. Die Richterin stimmt zu und kniet sich vor ihrem Pult auf den Boden, um den dort stehenden Laptop zu bedienen. Das dauert einige Zeit und bei der Gelegenheit sieht man die weißen Turnschuhe unter ihrer Robe. Im Publikum kann man von den Aufzeichnungen, die aus einer Polizeikamera stammen, nur wenig sehen, sie scheinen aber recht scharf zu sein. Zeuge, Anwältin und Staatsanwalt, die um den Bildschirm stehen, zeigen mehrfach darauf: »Das sind also Sie« – an den Polizeizeugen gewandt –, »hier sehen wir den Angeklagten« – anscheinend doch eher in der dritten oder vierten Reihe, nicht ganz so deutlich »im Nahbereich« des Zeugen –, »da geht die Tür zu«, »hier, da gehen Leute weg. Da, schon wieder!« – letzteres sagt der Staatsanwalt, der daraufhin befriedigt zu seinem Platz zurückkehrt und meint, er habe »genug gesehen«. Die Verhandlung wird nun unterbrochen, der Zeuge, der Angeklagte und das Publikum vor die Tür geschickt. Es erfolgt von Seiten der Richterin eine Ermahnung an die Öffentlichkeit, dass sie die Hüte und Kappen abzunehmen habe. Wegen dem, dass man sich in einem geschlossenen Raum befinde. Jemand kichert. »Das gilt auch für die Dame« sagt der werte Staatsanwalt. Draußen gibt es verhaltenes Geflüster, Überlegungen, ob man wohl noch eine rauchen könne, nur der an sich sympathisch wirkende Polizist steht einsam an der Wand. Nach wenigen Minuten werden »der Angeklagte und die Öffentlichkeit«, zu der nun auch der Zeuge gehört, wieder in den Raum gerufen. Die »Beweisaufnahme« ist beendet, nun werden die Plädoyers gehalten. Der Staatsanwalt spricht recht schludrig und fordert 8 Monate Freiheitsstrafe, ausgesetzt auf Bewährung, wegen »Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte« nach § 113 in einem »besonders schweren Fall«, nämlich »gemeinschaftlich« begangen. Der Strafrahmen dafür ist 6 Monate bis 5 Jahre Haft. Strafmildernd wirke sich aus, dass der Angeklagte bisher nicht polizeilich in Erscheinung getreten sei. Der Staatsanwalt versucht trotz mangelnden Publikums noch ein wenig Dramatik und psychologische Bedeutung in die Verhandlung zu bringen, indem er ein wenig übertrieben theatralisch vorführt, wie der Angeklagte hätte sagen können: »Ich gehe jetzt, ich verlasse die Situation!« Dabei hält er die Hände unschuldig-abwehrend vor sich in die Höhe. Dies aber habe der Angeklagte nicht getan! Frevel! Schuldig! Die Richterin wirkt betont desinteressiert an dem Gehampel und der aufgesetzten Showeinlage. Ende des Plädoyers. Dem Publikum – und vermutlich dem Angeklagten – wird nun doch etwas mulmig. Man konnte bei dem ganzen Palaver um eine offensichtliche Bagatelle leicht vergessen, dass dabei doch über einen gehörigen Freiheitsentzug verhandelt wurde, wenn dieser auch nur vollstreckt worden wäre, so der Angeklagte sich nicht bewährte, er etwa neuerlich in einem möglicherweise gemeinschaftlichen Gedrücke mit der vollziehenden Gewalt erwischt und für schuldig befunden worden wäre.
Die Verteidigerin spricht noch leiser als die Gegenseite, formuliert vorsichtig und abwägend klingende Einwände und fordert am Ende Freispruch, weil dem Angeklagten keine Widerstandshandlung nachgewiesen werden konnte, auf dem Video sei lediglich zu sehen, wie er in der Gruppe stehe und eigentlich nichts tue. Sowieso könne schon gar nicht von einem besonders schweren Fall die Rede sein, der Gesetzgeber habe mit »gemeinschaftlich« sicher nicht derartige Demo-Situationen gemeint, dies sei eine fehlerhafte Anwendung, fügt sie in Richtung des Staatsanwalts hinzu. Eine Besonderheit des Prozesses besteht tatsächlich darin, dass es zu der neuen Formulierung des §113 noch keine einschlägigen Gerichtsurteile gibt, die die Auslegung vorgeben würden.
Wieder ist Pause, dann folgt die Urteilsverkündung. Die Richterin verkündet »im Namen des Volkes«, aber recht prosaisch: 50 Tagessätze Strafe festgesetzt auf 15 Euro, plus Kosten für das ehrwürdige Gericht und natürlich für die latenten Bemühungen der Anwältin. Man bewege sich damit zwar im unteren Bereich der Strafzumessung für eine einfache Widerstandshandlung, ein »besonders schwerer Fall« liege nicht vor, jedoch habe man doch nicht die allerunterste Grenze nehmen können, da der Angeklagte auf eine Einlassung und ein Geständnis verzichtet habe. Dann fühlt sie sich noch zu einer Moralpredigt veranlasst: Die Einwirkung auf die Beamten sei verwerflich und falsch gewesen, da doch die Polizei schließlich dazu da sei, die Meinungs- und Versammlungsfreiheit der Demonstrationsteilnehmer zu schützen und zu verteidigen, und zu nichts anderem: »Und gerade die greifen Sie an!« (Es fehlte noch, dass sie hinzufügte: »Schämen Sie sich!«) Das sei nun wirklich nicht zu rechtfertigen. Eine allzu milde Verurteilung sei daher »ein falsches Signal«.
Damit ist die Verhandlung geschlossen und zumindest wir, die Öffentlichkeit, und vor allem der Angeklagte sind erleichtert und froh und trinken warmes Bier im Park. – Allerdings könnte die Staatsanwaltschaft Berufung einlegen, da ihr das alberne Gedrücke rund um eine genehmigte Kundgebung – aber immerhin vor einer friedensrelevanten Tür und im Rahmen einer weniger genehmigten Ladenaneignung – doch etwas gemeinschaftlicher und somit schwerer vorzukommen scheint als dem gemeinen Menschenverstand. Und auch der nun Verurteilte könnte in Berufung gehen, weil es doch etwas teuer ist, so ein Gedrücke. Und dann hat eigentlich niemand behauptet, er hätte selbst besonders gedrückt. Es war ja eine kleine drückende Masse und er mittendrin. Und wenn er sich auch nicht unmittelbar mit erhobenen Händen und feige, äh unschuldig davongeschlichen hat, so gilt hier ein wenig das Impulsgesetz oder in manchen Fällen gar das Impulsivgesetz. Es ist ja doch alles nur eine kleine Rempelei zwischen Staatsgewalt und Protestierern auf allerunterstem Eskalationsniveau.
Anfang September 2019.