„… nichts andres drückt uns, als daß wir hoffnungslos in Sehnsucht leben.“ (Dante: Die göttliche Komödie. Inferno. Die Hölle. Vierter Gesang)
Einige vorläufige Anmerkungen zur Stellungnahme des Comité Invisible ‚L’insurrection qui vient‘
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Schon 2007 – was auch heißt: vor den Finanzkrise genannten internationalen polit-ökonomischen Verschiebungen und Neujustierungen und ebenso vor den zuweilen als Aufstand bezeichneten Umtrieben griechischer Anarchisten im Dezember 2008 -, schon 2007 also erschien in Frankreich ein mit weniger als hundert Seiten im Umfang bescheidener Text, dessen weitere Karriere und Wirkung bislang noch als ungewiß einzuschätzen ist: ‚L’insurrection qui vient‘. Als Autorengruppe oder Herausgeber tritt dabei ein Comité Invisible auf, dem – wie man vernehmen kann – sich unter anderem ein Elitestudent des Fachs Philosophie und eine populäre junge Darstellerin einer Daily Soap angeschlossen haben, statt ihre jeweiligen Karrierewege weiterzuverfolgen. In Frankreich selbst waren das Comité und der Text recht bald Gegenstand medialen Interesses und staatlichen Zugriffs: Die mutmaßlichen Autoren wurden in Anwendung von vor nicht allzulanger Zeit per EU-Direktive eingeführter Anti-Terror-Gesetzgebung mit großem Aufwand von Spezialeinheiten verhaftet und sahen sich Drohungen von mehr als zehn Jahren Haft gegenüber. Bald griff auch der US-amerikanische Fernsehagitator in eigener und konterrevolutionärer Sache, Glenn Beck, das Büchlein auf, das mittlerweile unter anderem bei der University of California Press auf Englisch veröffentlicht worden war, und präsentierte es seinem von Sensationsgier und Angstlust getriebenen Publikum mehrfach als hervorstechendes und avantgardistisches Beispiel einer aufständischen und revolutionären Gewaltwelle, die sich international, aber vor allem auch in den USA selbst seit einiger Zeit aufbauen würde – weswegen Beck seinerseits wiederum versucht, Truppen zum Gegenangriff zusammenzurufen und zu mobilisieren.
In Deutschland waren die Reaktionen auf ‚L’insurrection qui vient‘ bislang weniger spektakulär, aber dennoch vorhanden – auf eher untergründige, vielleicht auch verunsicherte Weise: Hörte man sich ein wenig um bei denjenigen, die sich noch mit Begriffen wie Umwälzung oder Revolution assoziieren, erfuhr man, daß die allermeisten von dem Text aus Frankreich gehört hatten. Dennoch blieb dieser den Leuten etwas obskur, zumal sie ihn meist nicht gelesen hatten, auch wenn man in ihren Äußerungen zur selben Zeit Neugier an der Publikation wahrnehmen konnte. Einige von denen, die nur von dem Text gehört hatten, und beinahe alle, die ihn tatsächlich gelesen hatten, lehnten ihn im Ergebnis schließlich rundweg ab als unerheblich, auf die eine oder andere Weise mangelhaft, als nicht „auf der Höhe der Zeit“ befindlich. Die Vorwürfe, die gegen den Text im Detail erhoben worden sind, soweit sie bislang angesichts der eher noch zurückhaltenden Aufnahme des Textes hier vernehmbar sind, sollen in den folgenden Anmerkungen zu ‚L’insurrection qui vient‘ Berücksichtigung finden. Sicherlich werden in nächster Zeit zahlreiche weitere Äußerungen, Kommentare, Publikationen zu dem Text des Comité Invisible erscheinen, nachdem er nun mit schon bezeichnenden drei Jahren Verzögerung als „Der kommende Aufstand“ auf Deutsch erschienen ist – und das aber gleich zweimal: einmal in einer Ausgabe der Edition Nautilus, die sich bis heute gerne als Repräsentant einer oft französischen Polit- und Kulturavantgarde gibt; einmal in Form einer schmucklosen Broschüre von unbekannten Produzenten, die nicht nur den Vorteil hat, kostengünstiger zu sein, sondern auch den, ein recht unaufgeregtes Vorwort und eine ziemlich passable Übersetzung zu beinhalten – und deswegen hier für die Zitate herangezogen wird. Ob sich durch die nun zu erwartende weitere Auseinandersetzung mit ‚L’insurrection qui vient‘ in Deutschland neue Gesichtspunkte ergeben werden, die anderes sind, als die bislang vorwiegend zu erfahrenden Distanzierungen, bleibt abzuwarten. Immerhin betrifft das prinzipielle hiesige Interesse vermutlich meist Leute, die zum Beispiel angesichts der vielgestaltigen Vorgänge in den letzten paar Jahren in Griechenland mehr an einer behaupteten Welle der Anti-Griechen-Hetze hierzulande sich interessiert zeigten als an den Vorgängen selbst.
„Der laufende Krieg“ [S. 63]
Mit der in der Überschrift dieses Textes verwendeten Bezeichnung ‚Stellungnahme‘ für ‚Der kommende Aufstand‘ soll gleich zu Beginn auf einen beim Unsichtbaren Komitee zentralen Aspekt hingewiesen und dadurch eine Art Mißverständnis ausgeräumt werden, das in der Beschäftigung mit dieser Publikation häufig auftritt: Auch wenn Stellungnahme heute meistens ‚Erklärung‘, ‚Mitteilung‘, also eine Form der Kommunikation, bedeuten soll, ist ‚Der kommende Aufstand‘ nicht nur das, sondern repräsentiert den Begriff im Sinne seiner Herkunft, im militärischen Sinne. Die Mitglieder des Unsichtbaren Komitees beziehen mit ihrem Text Stellung in einer von ihnen als kriegerisch wahrgenommenen Situation, nämlich in der Verfaßtheit der heutigen Welt, in der sie in revolutionärer Absicht leben und sich bewegen wollen.
Diesen Kriegszustand muß man sich, abgesehen von den zahlreichen erklärtermaßen polizeilichen und militärischen Neuerungen, die im Inneren der heutigen Staaten eingeführt wurden und werden, beispielsweise so vor Augen führen – um ein einigermaßen aktuelles Beispiel zu wählen -, wie es bei der Berichterstattung anläßlich der letzten Fußball-Weltmeisterschaft zu beobachten war, wenn Moderatorinnen vor Ort von der Fanmeile in Berlin in Frontberichterstattungston stramm festhielten, daß „alles in Ordnung“ sei, nur ein paar Betrunkene habe man entfernen müssen, während im Hintergrund die „Fans“ zu sehen waren, die nicht wie Fanatiker, sondern mehr wie müde Krieger wirkten und denen anzusehen war, daß sie dem Heer der Überflüssigen, das längst nicht mehr nur von den Arbeitslosen gebildet wird, angehören und dies auch ahnen. Auf Anweisung der Moderatorin brachen sie denn auch pflichtgemäß in lauen Jubel und Fahnenschwenken aus. Solche Arten von alltäglichen Mobilisierungen, die manchmal gesteuert vor sich gehen, oft aber – um ein Wort ironisch zu gebrauchen – spontan, nimmt das Autorenkollektiv als die Gesellschaft und die in ihr gefangenen Menschen grundlegend durchziehend wahr. Weitere Beispiele, teilweise vom Unsichtbaren Komitee genannt, sind die wiederkehrenden Kampagnen anläßlich von Krankheiten, Kriminalität, Terrorismus, Gewalt, Drogen oder die Alertheit in Permanenz, die in sogenannten ‚sozialen Netzwerken‘ aufrechterhalten wird.
Das Unsichtbare Komitee versteht all dies, könnte man sagen, als Teil einer Variation des ‚Staatskapitalismus‘: „Der gegenwärtige Produktionsapparat ist […] einerseits diese gigantische Maschine zur physischen und psychischen Mobilisierung zum Abpumpen von Energie der überflüssig gewordenen Menschen und andererseits diese Sortiermaschine, die den konformen Subjektivitäten das Überleben gewährt und all die ‚Risiko-Individuen‘ fallen läßt, all jene, die einen anderen Gebrauch des Lebens verkörpern und ihr somit Widerstand leisten. So ruft man einerseits die Gespenster ins Leben und läßt andererseits die Lebendigen sterben. Dies ist die eigentliche politische Funktion des gegenwärtigen Produktionskapitals.“ [S. 31] Die Darstellung der Arbeit und ihrer Funktion heute in „Der kommende Aufstand“ – dies sei an dieser Stelle kurz angemerkt – hat ohnehin ein eigenes starkes Potential, Empörung hervorzurufen, macht sie doch, sofern als richtig akzeptiert, zahllose linke Akademiker arbeitslos, die Sozial- und Ökonomiekritik „auf marxistischer [oder auch: ‚kritischer‘] Grundlage“ betreiben, und zahllose andere, die dies in der Freizeit als Teil sozialrevolutionärer oder kommunistisch sich nennender Gesprächsverbände erledigen, beschäftigungslos. Diese Wirkung wird verschärft, indem sie zudem an den kritischen, individuellen Kern der heutigen Arbeitsformen geht, die eine Identifikation mit der jeweiligen Lohn- oder Unternehmerbeschäftigung nur unter der Gefahr der fatalen Selbstbeschädigung zulassen. Die Ich-bin-wie-ich-bin-Haltung, die nicht nur von der Werbemaschine propagiert wird, sondern sich als Identitätssuche, die immer in der Gegenwart fündig wird und in ihr verharrt, auch auf den privatesten Ebenen wiederfindet, steht ohnehin am Anfang und im Zentrum des Angriffs des Unsichtbaren Komitees: „‚I AM WHAT I AM.‘ Niemals hatte eine Herrschaft ein unverdächtigeres Motto gefunden. Das Erhalten des Ichs in einem permanenten Zustand des Halbverfalls, chronischer Halb-Ohnmacht ist das bestgehütete Geheimnis der aktuellen Ordnung der Dinge. Das schwache, deprimierte, selbstkritische, virtuelle Ich ist im Wesentlichen dieses unendlich anpassbare Subjekt, das von einer Produktion gefordert wird, die auf Innovation beruht, auf dem beschleunigten Veralten der Technologien, dem stetigen Umbruch der sozialen Normen und der verallgemeinerten Flexibilität. Es ist gleichzeitig der gefräßigste Konsument und, paradoxerweise, das produktivste Ich, welches sich mit einem Maximum an Energie und Gier auf das kleinste Projekt stürzt, um später wieder in seinen larvenartigen Originalzustand zurückzukehren.“ [S. 16]
Vor diesem Hintergrund gehen viele der Einwände, denen die Franzosen ausgesetzt sind und weiter und nach der deutschen Veröffentlichung auch hier wohl zunehmend ausgesetzt sein werden, ins Leere, solange diese vom Unsichtbaren Komitee behauptete allumfassende Grundkonstellation einer permanenten Mobilisierung, die das Verhältnis der Individuen zur Gesellschaft ausmache, nicht zur Kenntnis genommen wird. Die Frage ist also: Teilt man die Haltung des Unsichtbaren Komitees, daß jede Absicht, diese Gesellschaftsordnung umzustürzen, unmittelbar bedeutet, die in der Funktionsweise eben dieser Gesellschaftsordnung bestehende Kriegserklärung an- und ernstzunehmen? Oder, mit Verwendung einer der Formulierungen der Franzosen: Ist der Vorschlag, „nicht mehr zu warten […], auf die eine oder andere Weise in die aufständische Logik einzutreten“ [S. 64], anzunehmen oder abzuweisen?
Unabhängig davon, wie man diese Frage jeweils beantwortet, kann sie dennoch gleich eine recht heilsame Wirkung auf potentielle und wirkliche Kritiker haben, nimmt sie ihnen doch die Möglichkeit, sich mit den Ausführungen der Franzosen in gewohnter und routinierter Weise auseinanderzusetzen, indem dieser oder jener Einzelpunkt bemängelt und mit ihm aber auch gleich das ganze Pamphlet verworfen wird oder wenigstens in den völlige Irrelevanz garantierenden und den grassierenden Relativismus abbildenden Pool der Textproduktion einer sich selbst nicht mehr kennenden Linken aufgenommen wird, in dem alles, was dort zu finden ist, seinen Sinn einzig in der gegenseitigen distanzierenden Bezugnahme und der rotierenden Kritik und Positionierung findet, ohne daß es darüber hinaus anderes gäbe, das den Text- und Gruppenhaufen zusammenhielte.
Demgegenüber stellt ‚Der kommende Aufstand‘ eine Distanzierung eigenwilliger Art dar, indem sich die Autoren tatsächlich von diesem Treiben entfernen (genau genommen auch geographisch, was später noch kommentiert werden soll), mit diesem nichts Relevantes oder Essentielles zu tun haben und dadurch in vorteilhaftem Unterschied zum in der Linken üblichen Verfahren zwar einen Kriegszustand in der herrschenden Gesellschaft sehen, aber auf eine eigene bornierte und unerhebliche Kriegserklärung gegen diese oder jene Linken verzichten. Auf diese Weise eben führt ihr unmetaphorischer Umgang mit der Vokabel Krieg beispielsweise dazu, daß sie, obwohl anonym auftretend, erkennbar als Individuen, Einzelne, Subjekte in Erscheinung treten, die sich ja – wie alle anderen auch – erstmal genau als solche der Totalität gegenüberstehen – und eben nicht als Mitglied von dem und dem, Vertreter der Position XY und so weiter und so fort. Vor diesem Hintergrund also bleiben die Vorwürfe des ‚Subjektivismus‘ und des ‚Vitalismus‘, die in recht vorderen Positionen unter all den Vorwürfen, die gegen die Franzosen erhoben worden sind, rangieren, kraftlos, solange sie nicht die eben beschriebene Verortung des Unsichtbaren Komitees in der Gesellschaft – und dadurch vermittelt dann auch ihr Verhältnis zur Linken, das für sie, was von Seiten ‚der Linken‘ erschwerend hinzukommt, keines mehr der Konkurrenz sein will – ins Visier nehmen wollen.
Magie der Worte
Mit diesem ersten Mißverständnis, es handle sich bei ‚Der kommende Aufstand‘ um eine ‚Position‘, die im Wettstreit der Ideen innerhalb der Linken bestehen und sich als die bessere Alternative durchsetzen wolle, mithin gar durch den ‚zwanglosen Zwang des besseren Arguments‘ überzeugen wolle, ist ein zweites eng verbunden, das, soblad es auftritt, die Lektüre des Textes unnütz macht. Ironischerweise entsteht dieses Mißverständnis vor allem genau in Bezug zu den Passagen im ersten Abschnitt von ‚Der kommende Aufstand‘, die von ‚der Kritik‘ eher schonend oder gar lobend behandelt werden: Das Büchlein zerfällt, grob gesagt, in zwei Teile, von denen der zweite sich zu Fragen äußert, die wohl in einer verbreiteten Sprachregelung zur ‚Organisationsfrage‘ gezählt werden. Der erste Abschnitt wiederum, seinerseits aufgeteilt in sieben (Dantesche Höllen-)Kreise, behandelt die Welt, wie sie ist, zumindest wie das Unsichtbare Komitee sie sieht. Das Mißverständnis entsteht, indem der Leser glauben kann, hier sei nun die Gesellschaftsanalyse zu finden, die es erlauben würde, ‚Der kommende Aufstand‘ in Gruppentreffen, Theoriekreisen, kritischen Seminaren oder verwandten Zusammenkünften zu behandeln, um den einen oder anderen Punkt des Textes oder die Gesamtkonzeption abzuwägen, Theorietraditionen aufzuspüren, denen die Franzosen zweifellos folgen und dabei wahlweise ihre Vorgänger produktiv weiterentwickeln oder von diesen verwerflicherweise abweichen oder die ohnehin bekannten Fehler der Alten wiederholen oder fortsetzen würden. Für solche Spielereien eignet sich auch dieser Textabschnitt sicherlich – kein Text der Welt ist vor derartigen unzüchtigen Annäherungen gefeit. Allerdings wird dies das französische Autorenkollektiv keineswegs anfechten, da eben genau dieser Abschnitt von ‚Der kommende Aufstand‘ in einer Weise formuliert und geformt ist, die ein vollständiges Desinteresse an solch textinterpretativen Verfahren mitteilt. Das – zumindest behauptete – Interesse des Unsichtbaren Komitees liegt vielmehr in der auf gewisse Weise viel bescheideneren Aufgabe der Darstellung und Beschreibung der Welt und nicht in der akribischen Analyse, über die man sich nicht hinauswähnt, sondern der, so steht zu vermuten, man als separate Beschäftigung ohnehin prinzipiell wenig in der Auseinandersetzung mit der Welt zutraut.
Aus dieser Haltung, die bedeutet, daß vor allen Dingen in der Form und mit dem Mittel der Sprache ein Bild der Welt geschaffen werden soll, das den Adressaten einen Eindruck davon vermittelt, oder besser: in Erinnerung ruft, wo sie sich befinden, bevor im zweiten Teil des Textes ausgeführt wird, was denn in dieser Welt zum Zwecke ihrer revolutionären Aufhebung zu tun sei, aus dieser Haltung also, die die Autoren treu durchhalten, rührt nun der im Prinzip berechtigte Vorwurf, bei „Der kommende Aufstand“ handle es sich um „Revolutionspoesie“. Wie schon der kleine Verweis auf Dante, den das Unsichtbare Komitee in diesen Abschnitt prominent eingeführt hat, zeigt, geht es hier tatsächlich um Poesie und durchaus mit Absicht um einen poetischen Effekt, der bei der Lektüre hervorgerufen werden soll. Man kann das auch als ein gewisses Vertrauen in eine Magie der Worte bezeichnen, das mit Poesie schon immer verbunden gewesen ist. So ein Vertrauen drückt sich in den Worten des „imaginären Kollektivs“ zum Beispiel so aus: „Dieses Buch ist mit dem Namen eines imaginären Kollektivs unterzeichnet. Seine Redakteure sind nicht seine Autoren. […] Sie haben sich zu den Schreibern der Situation gemacht. […] Es reicht aus, das zu benennen, was einem unter die Augen kommt, und dabei nicht der Schlußfolgerung auszuweichen.“ [S. 7]
Es nimmt nicht Wunder, wenn an eben diesem Sach- oder auch Sprachverhalt sich die gröbste Kritik entzündet. Um einmal aus einem der bislang wenigen deutschsprachigen Artikel über das Unsichtbare Komitee und „Der kommende Aufstand“ zu zitieren: „Mit ihrem Kult der Unmittelbarkeit sind diese Publikationen Anleitungen zur Regression in eine vielleicht verführerische, aber letztlich klaustrophobische Politidylle.“ Und an anderer Stelle: „Mit derartigen Grobschnitzereien bedient dieser Diskurs das grassierende Ressentiment gegen repräsentative Demokratien und ihre Institutionen. Nichteinverstandensein einfach gemacht.“ Das zusammenfassende Urteil des Journalisten: „Das Buch ist der aktuellste Versuch, ultralinker Politik ein glamouröses Antlitz zu verpassen. Situationismus, Autonomen-Anarchismus und Punkpoesie werden darin zu einem knackig formulierten Pamphlet gemixt. Es gibt herrlich resignierende Sätze wie diesen: ‚Das Paar ist die letzte Phase des großen sozialen Debakels.‘ Überhaupt gefallen sich die Autoren in der Pose der heroischen Melancholiker.“ – Daß diese Zeilen in der taz erschienen sind und der Schreiber Aram Linzel selbst durch diese Beschreibung markiert ist: „Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Bundestagsfraktion der Grünen und freier Publizist in Berlin.“, gereicht zwar einerseits dem Unsichtbaren Komitee wohl zur Ehre. Andererseits steht dieser Vertreter derjenigen, die sich das Nichteinverstandensein sicherlich nicht einfach machen, dann doch nicht alleine und nicht nur für die im politischen Spektakel repräsentativste und tendenziell relevanteste Schicht der „neuen Bürger“ aus dem rot-grünen Milieu, sondern fügt sich ein in eine lange Reihe von „Realisten“, denen Melancholie, Poesie, Unmittelbarkeit (weniger abwertend: „Primärerfahrung“), Resignation nie ein realitätsgemäßes Verhalten sein durften, sondern schon immer nur Grund zum Verdacht waren, da könnte vielleicht jemand nicht mitmachen (oder, in älterer Diktion: Bestandteil einer „großen Verweigerung“ sein) und ihre konstruktive und nach vorne gewandte Beteiligung an der wirklichen Welt stören. Der Wunsch, „daß der Bann der Gesellschaft endlich sich löse“, verursachte nicht nur in diesem Land schon lange meist Mißtrauen und Unbehagen – in der Mehrheit der Bevölkerung, sobald sie sich zur Masse formierte; in sozialistischen, kommunistischen oder linken Kreisen oft aus Rationalitäts- oder Produktivitäts-Prinzip.
Ein anderer Grund für eine solche „von ganz innen“ kommende Verurteilung mag an der Ahnung liegen, hier könne jemand den oben schon einmal erwähnten und weitgehend aus dem Gebrauch gekommenen Begriff der „Totalität“ ernst nehmen und tatsächlich versuchen, aus einer Ablehnung des schlechten Ganzen seine Haltung und Verhalten in der Welt zu entwickeln. Dies entspricht so gar nicht dem sonst üblichen Verfahren, mit der Welt und den Fragen von Umsturz, Revolution, Emanzipation umzugehen. In der Regel ist dieses Verfahren ja eher eines, das wie eine Art Karikatur der Negativen Dialektik für den Hausgebrauch funktionieren soll: Indem man das Schlechte in Einzelheiten der Welt und am liebsten an anderen aus der Linken stammenden Publikationen oder Positionen kritisiert, soll irgendwann das Gute dabei herauskommen. Insofern verwundert es nicht, wenn solche „totalitären“ Vorstöße wie der des Komitees, die sich für Einzelheiten der Linken kaum, für Einzelheiten der Welt sehr viel, aber immer nur in Bezug aufs Ganze der Gesellschaftsordnung und deren Abschaffung interessieren, auf wenig Gegenliebe und Begeisterung bei solchen Anhängern der Abspaltungen stoßen.
„Die Metropole ist der gleichzeitige Tod der Stadt und des Landes“ [S. 34]
Wenn, was bei „Der kommende Aufstand“ der Fall ist, eine solche Darstellung sich noch mit allerlei praktischen Beispielen, Hinweisen und Konsequenzen verbindet – so schreiben die Autoren an gegen eine „neutrale Idee der Freundschaft“ und setzen ihr eine „Affinität in einer gemeinsamen Wahrheit“ [S. 66] entgegen; an einer anderen Stelle empfehlen sie „Kommunen, die sich nicht fürchten würden, sich neben ihren rein politischen Aktivitäten für das materielle und emotionale Überleben eines jeden ihrer Mitglieder zu organisieren und für all die Verlorenen, die sie umgeben. Kommunen, die sich – anders als es Kollektive im Allgemeinen tun – nicht über ein Drinnen und Draußen definieren, sondern über die Dichte der Beziehungen in ihrem Inneren.“ [S. 68] -, ist für viele Leser vermutlich eine letzte Grenze überschritten, zumal so konkrete Angaben darüber, was denn nun aus ihrer Sicht und Wahrnehmung der Welt für die Art, ihr Leben zu führen, folge, wie sie die Autoren geben, einem Kämpfen mit offenen Visier oder gleich ganz ohne Rüstung ähnelt, das zum Angriff geradezu einlädt, weil man meint, hier mit dem geringsten Kraftaufwand, gleichsam als Fingerübung, das Unsichtbare Komitee erwischen und erledigen zu können. Dann wird schon mal die Entscheidung der am Unsichtbaren Komitee Beteiligten, sich in der französischen Provinz ein Haus zu besorgen, um dort zu leben und von dort zu wirken, als Primitivismus denunziert und auf deren angeblich reaktionäre Auffassung der Natur und des Verhältnisses von Stadt und Land zurückgeführt. Daß in „Der kommende Aufstand“ eben diesem Verhältnis von Stadt und Land zentrale Passagen gewidmet sind, in denen diese einstmals sich ergänzenden Gegensätze als aufgelöst in der „Metropole“ betrachtet und die Städte selbst als – wenigstens zum Zwecke der Verfolgung revolutionärer Absichten – unbewohnbar beschrieben werden, wird dabei genauso geflissentlich übersehen wie die doch recht ungewöhnliche Auffassung der Begriffe Umwelt und Ökologie, die faktisch eine Generalabrechnung mit allen Aspekten der ökologischen Bewegung darstellt, die als Ideologie nicht mehr irgendwelchen „Alternativen“ oder Randgruppen exklusiv eigen, sondern Bestandteil auch des Elitebewußtseins und von Regierungspraktiken ist. In pointierter Formulierung liest sich das in „Der kommende Aufstand“ so: „Es gibt keine ‚Umweltkatastrophe‘. Jene Katastrophe ist die Umwelt.“ [S. 47] Die trockene und in der Kürze gründliche Denunziation der neuesten Spielart einer angeblich radikalen Ökologie, die sich den Namen décroissance oder auf deutsch „Wachstumsrücknahme“ gegeben hat, durch die Autoren von „Der kommende Aufstand“ mag hier als Lektürehinweis für die genannt werden, die das Büchlein als Pamphlet fürs „einfache Leben“ und für ein Beispiel von Antimodernismus und romantischer Naturverfallenheit halten.
Zumindest in der Idee und Darstellung der Mitglieder des Unsichtbaren Komitees folgt der Rückzug aus den Großstädten, den sie selbst vollzogen haben (den sie aber – dies auch noch nebenbei erwähnt – anderen keineswegs alternativlos vorschlagen, geschweige denn vorschreiben wollen), aus strategischen Überlegungen, die wieder einmal in Zusammenhang stehen mit der hier anfangs betrachteten Auffassung der Welt als einer, die sich im Kriegszustand befindet. Ebenso gilt dies, wenigstens partiell, für das in „Der kommende Aufstand“ recht zentrale Konzept der Kommune: Auch dies mißversteht man, wenn man ignoriert, daß damit Handlungseinheiten gemeint sind, mit denen Einzelne mittels Assoziierung sich Möglichkeiten verschaffen, in der Welt verändernd tätig zu sein – nicht nach der Art von Erlebnis- oder Selbsterfahrungsgruppen, sondern durchaus mit dem Ziel, sich die Mittel zur Produktion des menschlichen Lebens (sei es Technik oder Wissen) selbstbewußt anzueignen. Dabei ist das Konzept gerade diffus und locker genug gefaßt und meint sowohl permanente wie auch nur vorübergehende Verbindungen, die zu zahlreichen verschiedenen Zwecken geschlossen werden, so daß sehr klar ist: Eine vor allem vielleicht in Deutschland naheliegende Identifizierung dieser Kommunen mit Klischees über diverse Wohnformen in den 1960er und 1970er Jahren geht in die Irre. Stattdessen, wie es vom Unsichtbaren Komitee allgemein formuliert ist: „Eine Kommune bildet sich jedes Mal, wenn einige, befreit von der individuellen Zwangsjacke, sich entscheiden, nur auf sich selbst zu zählen und ihre Kraft an der Realität zu messen.“ [S. 68] Und als herrschendes Gegenmodell zu den so verstandenen Kommunen: „Umgekehrt hat sich eine Feststellung, die uns gleichgültig läßt, die zu nichts verpflichtet, noch nicht den Namen Wahrheit verdient. In jeder Geste gibt es eine unterschwellige Wahrheit, in jeder Praxis, in jeder Beziehung und in jeder Situation. Die Gewohnheit ist, dem auszuweichen, das zu verwalten, was die charakteristische Verwirrung der Allermeisten in dieser Epoche produziert.“ [S. 65] Und diese „Allermeisten“ leben dieses Modell in „Organisationen […] – politischen, gewerkschaftlichen, humanitären […] etc. […] [Man trifft] dort manchmal schätzenswerte Wesen. Aber das in der Begegnung erhaltene Versprechen kann nur außerhalb der Organisation verwirklicht werden und, notwendigerweise, gegen sie.“ [S. 66f] Oder sie leben es – „viel fürchterlicher noch“ – in „Milieus“: „Alle Milieus sind zu fliehen. Jedes einzelne von ihnen ist beauftragt, eine Wahrheit zu neutralisieren. […] Insbesondere zu fliehen sind die kulturellen und politischen Milieus. Sie sind die zwei Hospize, in denen traditionellerweise alles revolutionäre Verlangen zerschellt. […] So wie es vergeblich ist, von ihnen etwas zu erhoffen, ist es dumm, von ihrer Sklerose enttäuscht zu sein.“ [S. 67]
„Vom Ende der Zivilisation haben wir nichts zu erwarten.“ [S. 61]
Dies mag alles recht überheblich und arrogant klingen – und den Franzosen en passant das Wohlwollen aller Fraktionen und Strömungen der real existierenden Linken verscherzen -, folgt aber der durchaus traditionellen Methode, die Schmach noch schmachvoller zu machen, indem man sie publiziert. Jedenfalls fruchtet es an dieser Stelle wenig, dem Unsichtbaren Komitee vorzuhalten, was sie vorgelegt haben, sei ja auch nicht besser oder gar schlechter, sei beispielsweise kruder Dezisionismus oder romantischer Existentialismus. Sicherlich ist die Wahrscheinlichkeit recht hoch – die Schrift bietet in ihrer Allgemeinheit, die sich mit dem Blick aufs Detail paart, und in der zu ihrer Strenge gleichzeitigen Unverbindlichkeit dafür genügend Anschlußpunkte -, daß „Der kommende Aufstand“ allerlei Phänomene narzisstischer Militanz, gedankenfernen und denkfaulen Tatendrangs nach sich zieht, selbst ein wenig sympathisches „Milieu“ hervorbringt. „Romantische Revolutionäre“ werden sich sicherlich in ihren destruktiven und nihilistischen Neigungen vom Comité Invisible inspiriert fühlen können und die Anregungen der Franzosen – zum Beispiel zur Sabotage – zwar mit einiger Konsequenz, aber vielleicht eher spektakulär umsetzen. Auch die gegenteilige Entwicklung von tatenarmer Radikalität als Lifestyle oder Habitus, wodurch die Zeit bis zum Eintritt ins Erwerbsleben „intellektuell“ mit Distinktionsgewinn „spannend“ und „interessant“ gestaltet wird, ist als eine Folge der Schrift vorstellbar.
Statt sich allerdings gleich auf die Geister, die sie eventuell rufen, zu werfen, sollte man zunächst den französischen Zauberlehrlingen auf der Ebene begegnen, von der sie selbst ausgehen und die in wiederum apodiktisch klingenden Sätzen wie den folgenden benannt wird: „Aus welcher Sicht man sie auch betrachtet, die Gegenwart ist ohne Ausweg.“ [Direkt gefolgt übrigens von dem Satz: „Das ist nicht die geringste ihrer Tugenden.“] [S. 11] „Wir gehen aus von einem Punkt der extremen Isolation, der extremen Ohnmacht. Alles ist aufzubauen im aufständischen Prozess. Nichts scheint unwahrscheinlicher als ein Aufstand, aber nichts ist notwendiger.“ [S. 64] Und abschließend etwas ausführlicher zitiert: „Selbstverständlich findet der Imperialismus des Relativen in irgendeinem leeren Dogmatismus, in irgendeinem Marxismus-Leninismus, irgendeiner Salafiyya, in irgendeinem Neo-Nazismus einen angemessenen Gegner, jemand, der, wie die Abendländler, Behauptung mit Provokation verwechselt. – In diesem Stadium macht sich jeder ausschließlich soziale Protest, der sich weigert anzuerkennen, daß das, was uns gegenübersteht, nicht die Krise einer Gesellschaft, sondern der Untergang einer Zivilisation, zum Komplizen ihres Fortbestehens. Es ist nunmehr sogar eine verbreitete Strategie, diese Gesellschaft zu kritisieren in der vergeblichen Hoffnung, diese Zivilisation zu retten.“ [S. 61] Diese Aussagen also muß, wer das mit „Organisationen“ und „Milieus“ Gemeinte verteidigen will, entweder zurückweisen – zum Beispiel mit dem Verweis, mit solchen befremdlichen selbstgefällig pauschalisierenden und apokalyptischen Anschauungen habe man nichts zu tun. [Wobei auch dann sich vielleicht noch die Frage stellt, ob „Der kommende Aufstand“ nicht mit ähnlichem, möglicherweise diagnostischem Gewinn zu lesen wäre wie zum Beispiel das private Manifest des Amokläufers von Emsdetten.] Oder, lehnt man die Darstellungen des Comité Invisible nicht rundweg ab, wären die eigenen „Organisationen“ und „Milieus“, darauf zu prüfen, ob sie eine geeignete Entgegnung auf eben diese Aussagen darstellen. Sonst wird die behauptete Kritik zum müßigen Geschäft von Professionellen oder Verdrängungskünstlern, die als solche bei dem im Folgenden zitierten Auszug beschriebenen möglichen Prozess nicht teilhaben werden: „Gerade in dieser desolaten Situation muß man vielleicht doch den Mut haben, nicht nach Organisationsformen zu suchen, sondern sich gewissermaßen um Inhalte herum organisieren. Wir können uns denken, daß in der heutigen Situation lose miteinander verbundene, aber inhaltlich wirklich geklärte und vernunftbegabte Kollektive den ersten Schritt darstellen. Nicht etwa in den alten Fehler verfallen: Zuerst schaffen wir ein Zentralkomitee, die Massen werden dann kommen. Offensichtlich ist das der falsche Weg. Es ist viel wichtiger, an der Basis zu arbeiten und kleine, in sich konsistente Gruppierungen zu schaffen. Wie sie dann miteinander in Verbindung kommen, das hängt zum Teil auch von der gesellschaftlichen Entwicklung ab. – Wir sind da keineswegs Pessimisten. Die Wissenschaft beweist, daß es zu keiner Revolution mehr kommen wird. Und wir sagen eben: Die Menschheit ist viel flexibler, als es die Wissenschaft manchmal glaubt. Auf einmal ist eine Explosion da. Und wenn eine Explosion da ist, so ist die Möglichkeit dieser Kollektive, miteinander in Verbindung zu treten und tatsächlich etwas gemeinsam zu schaffen, durchaus gegeben.“ Dies war allerdings nicht aus „Der kommende Aufstand“, sondern, dort in der Ich-Form, aus einem etwas älteren Text, der von einem etwas isolierten deutsch-italienischen Vertreter des erweiterten informellen Komitees verfaßt wurde.
Lionel Vico
13/10/2010