Karl Rauschenbach
Der erste Posaunenklang
Offensichtlich hat auf den Straßen ein neuer Zyklus der Auseinandersetzungen begonnen. Während bis vor kurzem die Eskalation meistens von kleineren politischen Gruppierungen ausging, die etwa von Regierungsgipfel zu Regierungsgipfel zogen, um dort stellvertretend einige Kämpfe zu führen, erfasst das Virus nun Teile der Bevölkerung, es gibt wieder lokale Aufstände in Europa. Seit in den Vorstädten Frankreichs Schulen, Fabriken und immer wieder Autos brannten, warnen die Politiker gerne vor sozialen Unruhen, und tatsächlich folgten in Frankreich heftige Studentenproteste, die sich gegen „Umstrukturierungen“ richteten und in denen die Protestierenden plötzlich das Maß verloren. In den von den Banlieues abgeguckten Scharmützeln mit der Polizei wurden ebenso viele Protestierende festgenommen wie dort ein Jahr vorher. Dabei ging es nur um ein neues Gesetz, wie es die Verwalter der alten Welt alle Tage verabschieden. Vereinzelt kam es in dieser Zeit auch schon zu konfuser Gewalt von Arbeitern: Korsische Hafenarbeiter versenkten kurzerhand ein kleines Schiff, „Bossnapping“ wurde zum stehenden Begriff und einige aufgebrachte Proleten drohten mit der Vergiftung eines Flusses.
Im Dezember 2008 brannte dann drei Wochen lang Griechenland. Ausgehend von dem auch von Anarchisten bewohnten Athener Stadtteil Exarchia schlossen sich Menschen vom Rand der Gesellschaft – Schüler, Migranten, Studenten – kurzfristig zusammen, das Polytechnikum wurde zum Versammlungsort, Molotow-Cocktails wurden in Serie produziert. Selbst hartgesottene Anarchisten erblassten teilweise angesichts der massenhaften Gewalt, die in zahlreichen Städten Griechenlands zum Ausbruch kam. All das fand noch vor den jüngeren Weltwirtschaftsturbulenzen statt, und Griechenland kam seither nicht mehr zur Ruhe. Als im Mai des vergangenen Jahres wütende Arbeiter versuchten, das Parlament zu stürmen, war man an solche Bilder schon gewöhnt. In Frankreich führten die Verlängerung der Lebensarbeitszeit und einige „Umstrukturierungen“ der Ölindustrie zu chaotischen Zuständen, bis das Militär die Arbeiter der Raffinerien zur Raison brachte. Griechenland und Frankreich, die Vorreiter des kommenden Aufstandes.
Nachdem von einigen Quatschköpfen in den Medien die Armut als Ursache der schüchtern-heftigen Revolten ausgemacht worden war, gerieten die Fluglotsen Spaniens in Aufregung – und diese Leute zählen zu den Spitzenverdienern. Sie verließen ihre Arbeitsplätze, legten den Flugverkehr lahm und mussten mit Waffengewalt wieder an ihren Arbeitsplatz gezwungen werden, indem sie kurzerhand unter Militärrecht gestellt wurden. Derweil fegte die griechische Aufstandspolizei einige streikende Arbeiter mit Tränengas von der Akropolis. In Großbritannien hatten ein paar Anarchisten die Zentrale der konservativen Partei für die anwesende Menge geöffnet, die dann fasziniert und sichtlich gutgelaunt den neuen Raum ausprobierte, während vor der Parteizentrale die im Winter nötige Wärme erzeugt wurde, indem die Protestierenden ihre reformistischen Plakate als Brennstoff verwendeten. Journalisten und Politiker versuchten noch, diesen Protest als die Sache einer Minderheit erscheinen zu lassen, aber ein paar Wochen später weiteten sich – aus Anlass der Abschaffung der Massenuniversität alten Stils – die Proteste aus, und London erlebte einige Ausschweifungen. Dabei wurden auch Mitglieder der Königsfamilie angegriffen und ein großer Weihnachtsbaum auf dem Trafalgar Square wurde angezündet. Gleichzeitig eskalierte in Griechenland Arbeiterdemonstrationen, ein Minister wurde heftig verprügelt und eine ganze Kommune, inklusive Bürgermeister, trat in den Bürgerkrieg – wegen einer Mülldeponie. In Italien schlagen nun die Demonstrationen gegen Berlusconi in heftige Krawalle um, und die dortige Presse erinnert sich an die Unruhen der Siebziger.
Überall Revolution, nirgends Revolutionäre. Der jeweilige Anlass ist beinahe egal, das Niveau der Aktionen ist höher, die Reflexion der Akteure geringer. Sie greifen die alte Welt an, noch bevor sie wissen, worum es ihnen geht, und wenn man den Protestierenden ein Mikrophon unter die Nase hält, so wissen sie sich in der Regel nicht anders zu helfen, als Forderungen hineinzustammeln, die auch auf einem Parteitag der Sozialdemokraten erhoben werden könnten. In diesen Kontext der konfusen Gewalt, die sich durch die Gesellschaft zieht, fällt das Manifest „Der kommende Aufstand“, welches das Glück hatte, noch vor dem griechischen Winter 2008 erschienen zu sein, was der Schrift, die als prophetisch wahrgenommen wird, einen gewissen Glanz verleiht. Naturgemäß können Journalisten mit dem Buch nichts anfangen, auch wenn sie einigermaßen faszinierte Kommentare verfassen mussten, wohl merkend, dass sie selbst niemals Pamphlete verfassen könnten, die in zahlreiche Sprachen übersetzt und sogar gelesen und diskutiert werden. Auch die organisierten Linken, die das Buch weitgehend ignorierten, wissen nichts mit ihm anzufangen. Dazu muss man etwas wissen, das den meisten Kommentatoren entgangen ist: nämlich dass dieses Buch starke Anleihen am kommunistischen Anarchismus eines Kropotkin und dessen Kommune-Utopie nimmt. In Deutschland gibt es kaum eine anarchistische Tradition.
Ein Gesellschaftszustand, in dem sich die Gattung friedlich reproduziert, ohne dafür Profit, Geld, Politik und Polizei zu brauchen, ja sogar ohne die ominösen radikaldemokratischen Räte und das imperative Mandat, ist hierzulande nicht leicht vorstellbar. Daher findet man darüber auch nur selten etwas in den Schriften der verschiedenen Grüppchen, auf ihren Veranstaltungen und in ihren Kampagnen. Das Unsichtbare Komitee kommentierte den kleinen deutschen Medienhype und die abwesende linke Debatte mit den Worten: „Verwaltet weiter, verschweigt!“ Die Verfasser der Schrift hatten sowieso vorgeschlagen, alle (linken) Milieus zu fliehen: „Es gibt keinen Grund, sich in diesem oder jenem Bürgerkollektiv zu engagieren, in dieser oder jener Sackgasse der radikalen Linken, in der letzten vereinten Hochstapelei. Alle Organisationen, die vorgeben, die gegenwärtige Ordnung anzufechten, haben selbst die Form, die Sitten und die Sprache von Miniaturstaaten. Alle Anwandlungen, ‚Politik anders zu machen‘, haben bis zum heutigen Tag nur zur unbestimmten Ausdehnung des staatlichen biomechanischen Apparats beigetragen.“ Es gehe vielmehr darum, die revolutionäre Bewegung vollständig neu zu erfinden. Wahrscheinlich macht das die Schwierigkeit des Textes aus. Er lässt einem keine Wahl. Die alte Ordnung zu verteidigen, das bekommen nur einige Zyniker hin, die vorgeben, gerade in unserer Welt die beste aller möglichen zu erkennen. Demgegenüber erzeugt die Schrift „Der kommende Aufstand“ den Eindruck, dass die Welt einer radikalen Revision bedarf und dass diese nicht vom Himmel fällt, dass also jede Leserin und jeder Leser gefragt ist, was sie oder er zu tun gedenke. Um der Klemme zu entgehen, gebrauchen die offiziellen Linken irgendwelche Ausflüchte.
Immer wieder ist davon die Rede, dass „das Buch ja gut geschrieben“ sei, aber es „fehle doch die Analyse“. Die Arbeiter werden vermisst oder die Zivilgesellschaft. Man misstraut der schönen Sprache und liebt die verdinglichte Denkform Theorie. Auch heißt es, in dem Manifest werde ein autoritäres, identitäres Wir-Gefühl propagiert und so ein seltsamer Optimismus verbreitet. Das alles hat nichts mit dem Inhalt des Buches zu tun. Dort nämlich ist, was den Optimismus angeht, zu lesen: „Wir gehen aus von einem Punkt der extremen Isolation, der extremen Ohnmacht. Alles ist aufzubauen im aufständischen Prozess. Nichts scheint unwahrscheinlicher als ein Aufstand, aber nichts ist notwendiger.“ Und was die neue kollektive Nestwärme angeht, empfiehlt dieses Buch erst mal die beschleunigte Spaltung aller nur temporären Vereinigungen: „Die Kommune zieht es vor, sich aufzuspalten und sich auf diese Weise auszudehnen, wodurch sie gleichzeitig einem unglücklichen Ende zuvorkommt.“ Bleibt die eingangs exemplarisch angeführte wirkliche Bewegung, die um Deutschland bislang weitgehend einen Bogen schlägt. Hier kommt viel darauf an, dass die Praxis eine Idee von dem bekommt, was möglich würde, wenn man ernst machte. Zunächst sieht man nur die destruktive Seite: Die Polizei wird bekämpft, dieses oder jenes Geschäft geht in Flammen auf, die Schüler zerstören ihre Schule und dergleichen mehr, was bei lokalen Aufständen passiert. Dann muss sich aber natürlich herausstellen, was die Sache eigentlich soll, die verschiedenen Aufstände müssen nach ihrem Inhalt suchen oder wieder enden. Erst ein sich bildendes, akzeptiertes gesellschaftliches Ziel kann die in ihrer Negativität vorbildliche Praxis verallgemeinern.
Die Schrift „Der kommende Aufstand“ ist ein Beitrag zu diesem Prozess, sie markiert den Beginn einer revolutionären Literatur unserer Zeit. Sie ist natürlich nicht „das wichtigste linke Theoriebuch unserer Zeit“, wie die FAZ meinte, sondern der erste Posaunenklang im Präludium einer großen Sinfonie, der es sicher noch an Musikern fehlt, die aber schon jetzt weder eine Partitur noch einen Dirigenten will. Es geht zum Glück weiter.
Mit „Wir sind ein Bild der Zukunft“ ist beispielsweise eine umfangreiche Sammlung von Texten aus der anarchistischen Bewegung Griechenlands erschienen. Auch dieses Buch hat es geschafft, in mehrere Sprachen übersetzt zu werden, und tatsächlich sucht hier die Partei der Aufständischen nach „Konsistenz“, gerade so, wie es das Unsichtbare Komitee in seinem Vorwort zur englischen Ausgabe beschreibt. Anders als noch in den Banlieues, wo man ausschließlich destruktiv blieb, anders auch als bei den Protesten in Frankreich oder den Studentenprotesten in London, bei denen noch die politischen Forderungen überwogen, und anders schließlich als bei den zahlreicher werdenden Arbeiterstreiks ging man in Griechenland zu einer explizit staatsverneinenden Revolte über und stellte keine Forderungen. Man stand zu seiner Praxis und schob keine politische Rationalisierung vor. Dadurch trat auch der Mangel an alternativen Phantasien deutlicher hervor, es wurde darüber diskutiert, was man eigentlich an Stelle der alten Welt wolle, und immerhin eines ist dabei schon jetzt klar: „Der Weg zu einer Ausweitung des Aufstandes führt über die Produktion – über die Okkupation der Produktionsmittel dieser Welt, die uns zernichtet“ (Flugschrift von 2008 der Gruppe Ego Te Provoco aus der besetzten Athener Wirtschaftsfakultät).
Quelle: https://jungle.world/artikel/2011/02/schoenes-sperrholz-abzugeben