Bernd Volkert
Manischer Inländerfeind und außer Rand und Band geratener Utopist
Wenn in Deutschland einerseits anläßlich der Planungen für einen Bahnhofsneubau wieder einmal das bislang angeblich schmählich betrogene Volk sich selbst entdeckt und dafür von oben, also von den mutmaßlichen Betrügern, beinahe ausnahmslos gelobt wird und es bei den Protestierenden sich um Menschen handelt, die Stuttgart bislang offenbar für eine besonders schöne und lebenswerte Stadt hielten; wenn andererseits die Verfallsprodukte dessen, was sich vielleicht früher und vielleicht auch nur in anderen Ländern einmal mit Recht ‚politische Klasse‘ nennen konnte, wenn also Menschen, die ihr Einkommen unter der Berufsbezeichnung ‚Politiker‘ erzielen und dafür sich unter anderem täglich um die möglichst reibungslose Organisierung der Abwehr von Flüchtlingen und der Abschiebung der Elendsgestalten, die es dann doch hierher geschafft haben, und ähnliche nicht gerade fremdenfreundliche Aufgaben zu kümmern haben und dies auch zuverlässig tun, wenn diese Menschen öffentlich in Empörungszustände moralischer Art geraten, um einen Thilo Sarrazin, Sachbuchautor, SPD-Mitglied und – so wurschtig ist der Betrieb, daß sie auch dort nun Quereinsteiger nehmen – vormals Vorstandsmitglied bei der Bundesbank, der in aktualisierter Form das erklärte und auch umgesetzte Programm der rot-grünen Regierung von 1998ff als Bestseller nochmal auflegt, als Rassisten zu beschimpfen – wenn also die moralische Selbstgerechtigkeit der deutschen Bürger, verbunden mit einer aggressiven Realitätsabwehr, aufs Neue penetrante Urständ feiert, dann denkt man sich: „Schon schade, daß der Pohrt nicht mehr schreibt.“
Gerade aber wenn man liest, was Wolfgang Pohrt immerhin alles geschrieben hat, zum Beispiel in dem Sammelband seiner Reden und Schriften aus den Jahren 1980 bis 1997, den Klaus Bittermann 2010 in der edition tiamat veröffentlicht hat, läßt sich Pohrts Entscheidung, die Publizistik seinzulassen, nachvollziehen, die in den Worten Bittermanns sich so begründet: „Nachdem die Linke spätestens mit der Wiedervereinigung zum bloßen Gegenstand ‚anthropologischer Betrachtung‘ wurde, gaben für Pohrt nun auch die Verhältnisse nichts mehr her, das sich noch zu analysieren und zu kommentieren lohnte, jedenfalls nicht, um einen Verein oder eine Gemeinde damit zu erfreuen, die die Linke bestenfalls noch ist.“ Etwas anders ausgedrückt: Pohrt fand einfach nichts relevant Neues, was er zur Betrachtung der Welt in aufklärerischer Absicht beitragen hätte können, geschweige denn, daß er noch jemanden gewußt hätte, der sich’s mit Interesse und Aufmerksamkeit angehört hätte. Und tatsächlich: Kennt man einige Texte von Pohrt aus den 80er Jahren, gibt es keinerlei Grund mehr, heute überrascht zu sein, wenn man zum Beispiel erfährt, daß nunmehr der dem Vater gegenüber immer loyale Sohn des NS-Marinerichters und baden-württembergischen Ministerpräsidenten Filbinger aus der CDU aus- und bei den Grünen eingetreten ist. Das war spätestens seit der Pohrtschen Charakterisierung der deutschen ‚Friedensbewegung‘ als deutschnationale Erweckungsbewegung absehbar. Auch daß dieses späte Beispiel für die Eheschließung einstmals angeblich unversöhnlicher Gegner schon niemand mehr richtig bemerkenswert finden mag, hat Pohrt vor mehr als zwanzig Jahren schon präventiv erklärt, indem er den Schwindel der sogenannten Fundamentalopposition damals schon auffliegen ließ. Eher wundert man sich, daß es so lange gedauert hat, bis auch hier endlich zusammenkam, was so lange schon erkennbar zusammengehörte, und bis auch der Nazi-Sprößling erkannte, daß die Volksgemeinschaft, von der Papi vermutlich zuhause immer so nostalgisch erzählt hatte, doch ihren modernen Ausdruck am ehesten in dem vor gutem Willen zur Weltverbesserung strotzenden und elitären Milieu gefunden hat, das sich nun auch schon lange nicht einmal mehr alternativ nennt, sondern drauf und dran ist, federführend die Staatsgeschäfte zu übernehmen.
Damit allerdings nicht der Eindruck entsteht, Pohrts Wirkung sei nur zu schätzen, weil er die deutsche Linke immer gepiesackt und geärgert hat, weswegen er manchmal auch leicht irreführend als eigentlicher ‚Godfather der Antideutschen‘ gehandelt wird, sei auch noch Reinhard Mohr zitiert, der, offenbar in starker Aufregung, Pohrt 1994 in der taz ja nicht nur als „manischen Inländerfeind“ bezeichnen mußte, weil er sich als Deutscher von Pohrts Kritiken offenbar angesprochen fühlte, sondern doch auch andere Dinge mitzuteilen hatte, die ihn an Pohrt störten und die Mohr wohl unter Bann stellen will: Pohrt sei nämlich dreisterweise auch ein „Apokalyptiker“ und ein „außer Rand und Band geratener Utopist“. So und ähnlich bezeichnet man – nicht nur in der taz – für gewöhnlich Kommunisten und anders sich nennende, zwar seltene, aber immer für Gemütsaufwallungen sorgende Typen, denen es um mehr in der Welt geht, als zum Beispiel in der Redaktion einer linken Zeitschrift als anständig und angemessen betrachtet wird, also um so etwas wie die tatsächliche Aufhebung von Verhältnissen, in denen der Mensch ein geknechtetes und verächtliches Wesen ist, um einen Autor zu paraphrasieren, den Pohrt vermutlich bis heute schätzt. Dieser in allen Schriften Pohrts vorhandene Aspekt tritt bei der Auswahl der Texte in dem neuen edition-tiamat-Band nicht so sehr in den Vordergrund, am stärksten noch in den Texten, in denen sich Pohrt als vernünftigster Kritiker der RAF zeigt und zwar dadurch, daß er der zersetzende Kritiker der Kritiker und Verteidiger der RAF ist. Ansonsten kommt Pohrt in dem Sammelband ein wenig als eben ‚kritischer Intellektueller‘ im deutschen Kulturbetrieb rüber (was ja nicht ganz falsch ist, aber auch kein schwerer Vorwurf sein muß, zumal Pohrt beinahe der einzige Vertreter dieser Gattung war – zusammen mit seinen Freunden, so eng ist die Welt, Eike Geisel oder Christian Schultz-Gerstein. Die starben allerdings beide vor ihm, was bei Pohrt einen begründeten Eindruck von Isoliertheit oder Einsamkeit nochmal bestärkt haben mag). Aber man kann sich ja außer diesen Band auch noch die anderen Veröffentlichungen Pohrts besorgen, die ebenfalls, wie dies bei guten Autoren ja gerne vorkommt, bei der edition tiamat auf Halde liegen und still auf Interessenten warten, die gerade auch nicht so viele aktuelle Schriften finden, die zu den heutigen Verhältnissen zum Zwecke ihrer Abschaffung was zu sagen haben.
Erschienen in Testcard #20, November 2010