Die Leidenschaft der Unschuldigen – eine Lesung mit Ulrike Heider

Haben Kinder Sex? Können Kinder lieben? Sigmund Freud hatte die ebenso einfache wie skandalöse Erkenntnis, dass „das Kind lange vor der Pubertät ein bis auf die Fortpflanzungsfähigkeit fertiges Liebeswesen“ sei, eine Wahrheit, die dann im Zuge der 68er-Revolte durch eine größere Minderheit in der Kinder- und Jugenderziehung praktisch thematisiert wurde.

Die bürgerliche Gesellschaft will von derartigem allerdings nichts wissen. Das auch in sexuellen Fragen liberale Selbstbild der heutigen Gesellschaft ändert nichts daran, dass allein schon die Erwähnung kindlicher Erotik sie bis heute daran erinnert, dass mit ihrer eigenen Sexualität etwas im Argen liegt. Kein Wunder, dass der gegenaufklärerische Mythos von der kindlichen »Unschuld« kaum jemals angetastet wurde und heute im Rahmen einer allgemeinen autoritären Formierung der Gesellschaft ideologisch zementiert wird, etwa indem die zarten Versuche eines weniger verkrampften Umgangs mit kindlicher Sexualität in den 70ern und 80ern nach dem Niedergang dieser Opposition pauschal in die Nähe von Pädophilie und Kindesmissbrauch gerückt werden. Damit will man sich letztlich der mit Freud verbundenen Aufklärung über die Herausbildung der erwachsenen Sexualität entledigen – und einmal mehr den Kindern die Freuden nehmen, die man sich selbst versagt.

In »Die Leidenschaft der Unschuldigen« teilten dreizehn Frauen und Männer zwischen 30 und 80 Jahren ihre Erinnerungen an romantische Schwärmereien, erotische Phantasien und sexuelle Abenteuer in ihrer Kindheit mit der Autorin. Die unschuldig daherkommende Sammlung von biographischen Erzählungen ist im gegenwärtigen Kontext durchaus politisch: sie steht dem sexualfeindlichen Trend entgegen und stößt Eltern auf die praktische Frage, wie sie denn eigentlich mit sexuellen Regungen ihrer Kinder umgehen sollten. Dementsprechend fand Ulrike Heider für das Buch lange keinen Verleger und es wurde kaum rezensiert.

Außerdem: Gespräch von Theodora Becker mit Ulrike Heider über dieses Buch. (Aus HUch #84)

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