Die Repression
In Tarragona, einer anderen Stadt in Katalonien, nutzten die antisistemas die Tatsache aus, dass sich die gesamte Bereitschaftspolizei in Barcelona befand, und machten Randale: Sie brannten die Geschäftsstellen mehrerer politischer Parteien nieder und griffen Polizeiautos an. Am nächsten Tag nahm die Polizei neun bekannte Radikale fest, von indepes bis hin zu Anarchisten; der Mangel an Beweisen wurde dabei von ihrem Verlangen nach Rache wettgemacht.
Insgesamt gab es am 29. März in ganz Katalonien 79 Festnahmen, davon 56 in Barcelona. Viele der Festgenommenen wurden auf den Polizeiwachen geschlagen und verletzt. Zweien musste infolge der Schläge die Milz herausoperiert werden. Bei einer Solidaritätskundgebung vor dem Modelo-Gefängnis einige Tage nach dem Streik nahm die Polizei eine willkürliche und besonders grausame Festnahme eines Demonstranten vor, den sie aus seinem Rollstuhl herausholten und diesen auf der Straße stehen ließen, während Bereitschaftspolizisten eine Gasse für den Gefangenentransporter durch die wütende Menge freischlugen, wobei sie mindestens einem Demonstranten einen Knochenbruch zufügten.
Die meisten Festgenommenen sind mittlerweile gegen Kaution oder unter Auflagen auf freiem Fuß und warten auf Prozesse mit schwerwiegenden Anklagen, die sich wohl zwei Jahre oder länger hinziehen werden. Drei der Verhafteten wurde die Freilassung gegen Kaution verweigert: zwei indepes, die am Morgen mit belastendem Material festgenommen worden waren und einem der Streikposten, die man früh am Tage in Clot verhaftet hatte. Gegen Letzteren läuft bereits ein Prozess wegen der Belästigung von Politikern während der Belagerung des Parlament im Juni. Während der intensivsten Momente der Kämpfe war die Polizei kaum in der Lage, Festnahmen zu machen, und es gibt wenig Beweise, um die Verhafteten mit den ungeheuerlichsten Verbrechen des Tages in Verbindung zu bringen. Nichtsdestoweniger begreifen die Gerichte die politische Notwendigkeit exemplarischer Strafen – und sie werden die erforderlichen Vorkehrungen treffen.
Die Politiker suchen währenddessen nach neuen Repressionsinstrumenten, um einer rebellischer werdenden Zukunft zu trotzen. Die spanische Regierung in Madrid treibt Änderungen des Strafrechts voran und die Generalitat (8) in Katalonien ruft nach scharfen neuen Maßnahmen. Die Grundmerkmale werden jedem vertraut sein, der Repression kennt und sie wurden vom katalanischen Innenminister Felip Puig zusammengefasst, der sich beschwerte, dass das Gesetz zu tolerant gegenüber den „Gewalttätern“ sei und der an die braven Bürger Kataloniens appelliert, zu helfen, diese zu isolieren. In erster Linie soll das Strafrecht geändert werden, voraussichtlich mit den folgenden Ergebnissen: Das Versammlungsrecht wird durch ein Vermummungsverbot eingeschränkt; der Tatbestand der „Störung der öffentlichen Ordnung“ soll künftig auch auf Personen angewendet werden, die eine öffentliche Einrichtung betreten, um dort zu protestieren beziehungsweise den Eingang einer solchen blockieren; die Mindeststrafe für dieses Vergehen wird auf zwei Jahre erhöht, wobei es möglich sein wird, den Angeklagten für die Dauer dieser zwei Jahre im Gefängnis auf seinen Prozess warten zu lassen; der Tatbestand „Bildung einer kriminellen Vereinigung“ wird flexibler gehandhabt; „Widerstand gegen die Staatsgewalt“ schließt künftig auch passiven Widerstand gegen die Polizei ein; wegen des Werfens von Objekten auf die Polizei werden viel schärfere Anklagen erhoben und die Strafen für Vandalismus werden denen für vergleichbare Vergehen angeglichen, die unter die Antiterror-Gesetze (9) fallen. Als besondere Maßnahmen in Katalonien sollen die Anzahl der Beamten der Bereitschaftspolizei um ein Viertel erhöht sowie ein spezieller Staatsanwalt ernannt werden, der sich ausschließlich um „städtische Gewalt“ kümmert. Mehr Überwachungskameras auf öffentlichen Plätzen werden installiert und die Polizei intensiviert das Filmen von Demonstranten.
Als weitere Maßnahme wird die Generalitat eine Webiste einrichten, um das Denunziantentum anzuregen und zu erleichtern und vielleicht auch eine Technik bereitstellen, um die Bevölkerung an der Identifizierung von Krawallmachern auf Fotos zu beteiligen, wie dies in anderen Ländern bereits gemacht wird. Sie wird auch versuchen, Websites, Blogs und Twitter-Accounts zu schließen, die zu gewalttätigen Protesten aufrufen, und sie wird die Bürger auffordern, solche Gewalt nicht zu fördern, indem sie persönliches Filmmaterial auf ihren Blogs oder auf Facebook teilen. (10) Die Medien wiederum werden fortfahren, die „Gewalttäter“ zu dämonisieren, in der Hoffnung, sie dadurch zu isolieren. Und das neue Strafgesetz wird es der Staatsanwaltschaft erlauben, jede Organisation eines schweren Verbrechens anzuklagen, die zu einem Protest aufruft, der in Gewalt endet.
Die Anarchisten verloren keine Zeit, auf all dies zu reagieren. An den beiden Tagen nach dem Streik gab es Solidaritätskundgebungen vor dem Gefängnis und den Gerichten. Am 2. April zog eine Solidaritätsdemonstration mit vielleicht fünfhundert Teilnehmern von Platz der Universität zum Modelo-Gefängnis. Weniger als eine Woche nach dem Streik tauchten an den Wänden der Stadt Tausende Exemplare von mindestens zwei verschiedenen anarchistischen Plakaten auf, die die Krawalle rechtfertigten. Das eine fragte: „Was habt ihr den erwartet?“, während das andere „Das Ende des Gehorsams“ verkündete. Es wird darüber gesprochen, diese Repressionsfälle mit anderen neueren Beispielen der Repression in Verbindung zu bringen, für die bereits Proteste und Unterstützungsaktionen geplant sind – den Verhaftungen während des Streiks im September 2010, der Räumung des Plaça Catalunya am 1. Mai, der Schlacht gegen die Räumung in Clot im July 2011, den Verhaftungen vor dem Parlament. Koordinierte Versuche, die neuen Gesetze bekannt zu machen und zurückzuweisen, sind ebenfalls in Arbeit.
Es gibt auch Versuche der Kritik und des gemeinsamen Lernens, da einige Verhaftungen vermeidbar gewesen wären und in einigen Momenten Leute Konfrontationen herbeiführten, als es nicht klug war, dies zu tun oder andere eine sicherere Atmosphäre wünschten. Auf dem Plaça Catalunya konnten diejenigen, die sich in Sicherheit bringen wollten, leicht auf die Seite des Platzes und weg von den Straßenkämpfen gehen und tatsächlich gab es dort viele Familien mit Kindern oder ältere Leute, die die gegen die Polizei Kämpfenden symbolisch unterstützten. Dies war jedoch an anderen Orten nicht möglich, genausowenig gab es dort vielversprechende Möglichkeiten, die Polizei anzugreifen, selbst wenn alle es gewollt hätten.
Es ist viel leichter, solche Kritik zu verstehen und ihr gemäß zu handeln, nachdem die pazifistische Heimtücke überwunden ist, die mit der 15M-Bewegung aufgekommen war. Und es scheint, als ob Anarchisten, anstatt solche Bedenken im unbeirrten Streben nach ständiger Konfrontation zu denunzieren – eine Strategie, die hier schon versucht und wieder aufgegeben wurde –, bereit sind, zuzuhören und ihr Verhalten zu ändern, da sie gute Erfahrungen dabei gemacht haben, mit den Leuten zusammenzuarbeiten, die derartige Kritik äußern. Alle Änderungen wären keine in Richtung Befriedung, sondern hin zur Vermischung verschiedener Räume und Formen des Kampfes, um in einer Weise in die Offensive zu gehen, die andere nicht gefährdet und sich ausbreiten kann.
Anmerkungen:
(8) Die katalanische Regierung, die eine „autonome Gemeinschaft“ innerhalb des spanischen Staates bildet.
(9) Der spanische Staat war einer der ersten, die eine innerstaatliche Antiterrorpolitik entwickelten. Diese war gegen den Unabhängigkeitskampf im Baskenland gerichtet, welcher auch vom Francoregime als ein zentraler innerer Feind betrachtet wurde. Viele Opfer der Antiterrorgesetze waren Jugendliche, die an militanten Straßenprotesten gegen die spanischen Behörden beteiligt waren. Im Rahmen dieser Gesetze konnten sie genau wie die Mitglieder der ETA verhaftet, gefoltert und zu langen Gefängnisstrafen verurteilt werden. Die Anwendung von Antiterrrorgesetzen war in Spanien also bereits vorher von bewaffneten Guerillagruppen auf horizontal organisierte Straßenproteste oder autonome Sabotageakte übertragen worden.
(10) Es ist bemerkenswert, dass sowohl Anarchisten als auch die Regierenden sich durch die wachsende Verbreitung von riot porn durch Blogs, Facebook und ähnliche Medien bedroht fühlen. Die Anarchisten warnen vor einer Spektakularisierung der Konfrontation und befürchten, dass die Veröffentlichung von Bildern zu Festnahmen führen könnte, während der Staat fürchtet, dass die autonome, selbstorganisierte Verbreitung von Bildmaterial die Medienkontrolle unterminieren könnte.