Wer vom Kapitalismus nicht reden will, sollte von der AFD schweigen!
Ein Aufruf und Transparent der DGB-Jugend Neukölln zur Spaltung des DGB & Photos
Auf der offiziellen Demonstration zum ersten Mai wurde dieses Jahr in Berlin ein Massenflugblatt verteilt, dass die Spaltung des DGB vorschlägt. Es wurde in großer Zahl verteilt und dazu ein Transparent getragen und einige Bratwürste gegessen.
Liebe Genossinnen und Genossen,
wie alle Gewerkschafterinnen betrachten wir das Erstarken der AFD sowie den weltweiten Erfolg rechter Parteien mit großer Sorge. Und sicherlich zählen wir zu jenen Menschen, die den Eindruck haben, „dass in der EU die Interessen der Märkte oft Vorrang haben vor sozialen Belangen“, wie es im diesjährigen Aufruf des DGB zur 1. Mai Demonstration heißt. Allerdings sind wir, im Gegensatz zu der im DGB-Papier vertretenen Erklärung, der Ansicht, dass sich der Rückfall der bürgerlichen Gesellschaft in den Faschismus nicht durch leere Phraseologie und ein wenig Makulatur in der Sozialpolitik, sondern – wenn überhaupt – nur durch die Abschaffung des Kapitalverhältnisses und die dafür notwendige Aufkündigung der Sozialpartnerschaft verhindern lässt. Angesichts der historischen Umstände sehen wir uns erneut vor die Alternative von „Sozialismus oder Barbarei“ gestellt, in der wir – im Gegensatz zur gegenwärtigen Ausrichtung des DGB – klar Stellung beziehen. Die Gründe möchten wir im Folgenden darlegen.
Die Sozialpartnerschaft des heutigen DGB geht historisch zurück auf das Bündnis, das die deutsche Großindustrie unter dem Druck des untergehenden Kaiserreichs mit der Gewerkschaftsführung schloss. Bereits während des ersten Weltkrieges wurden einige Gewerkschaften legalisiert. Diese halfen dann bei der Organisation der Rüstungsindustrie, wofür insbesondere Frauen eingesetzt wurden, da ein Großteil der Männer an der Front kämpfte. Doch die Kooperation endete nach dem verlorenen Krieg keineswegs. Am 9. November 1918, also am Tag der Novemberrevolution, trafen sich im Berliner Hotel Continental Gewerkschaftsfunktionäre und Großindustrielle. Der Konzernchef Karl Friedrich von Siemens berichtet darüber: „Im Geknatter der von draußen hereintönenden Gewehrschüsse bietet Hugo Stinnes als Sprecher der Großindustriellen den Gewerkschaftsführern den ohnehin unvermeidlich gewordenen Achtstundentag und Arbeitsgemeinschaft zwischen Unternehmern und Gewerkschaftsführern an.“ Auf der Seite der Gewerkschaften nimmt Carl Legien das großzügig wirkende, nach den Möglichkeiten der Stunde aber bereits überholte Angebot der Wirtschaftsbosse an. Die Vereinbarung ging als Stinnes-Legien-Abkommen in die Geschichtsbücher ein.
Was nach einem Friedensvertrag klingt, war in Wirklichkeit ein Angriff auf die soziale Revolution. Ohne Not ergab sich die Gewerkschaftsführung vorauseilend, um den draußen tobenden Klassenkampf abzuwürgen. Unterstützt wurde sie dabei von der Politik der SPD. Die Sozialdemokratie gab auf dem politischen Feld ihr Bestes, um es der Gewerkschaftsführung gleichzutun und die Revolution, die in Berlin maßgeblich eine Revolution der gewerkschaftlichen Obleute gewesen ist, niederzudrücken. Der Carl Legien der SPD hieß Friedrich Ebert. Dieser schloss den nicht minder verräterischen Pakt mit dem Generalleutnant Wilhelm Groener von der Obersten Heeresleitung des deutschen Kaiserreichs. Die offensive Seite solcher vermeintlichen Friedensverträge wird am Ebert-Groener-Bündnis besonders deutlich. Auf ihm basierte die gewaltsame Niederschlagung der Novemberrevolution durch Freikorpsverbände, die erstmals auch das Hakenkreuz als ihr Symbol verwendeten. Die Abkommen zwischen der Sozialdemokratie und dem Militär sowie zwischen der Gewerkschaftsführung und der deutschen Großindustrie stehen damit wie sonst nichts für eine arbeiterfeindliche Politik, der auch zahlreiche Gewerkschaftsmitglieder zum Opfer gefallen sind. Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht sind zum Symbol für die widervernünftige Wahrheit geworden, dass in Deutschland die Sache der Arbeiter von deren Organisationen zu Tode geschlagen wurde.
Der Übergang vom Klassenkampf zur Sozialpartnerschaft klingt nach einem Schritt zu einer friedlicheren Welt, doch dient er in Wirklichkeit dazu, den Fortbestand der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, die täglich Armut, Krieg und Vertreibung erzeugt, zu sichern. Der Ausgang des Kampfes zwischen den Interessen von Arbeiterschaft und Unternehmen ist durch die Sozialpartnerschaft vorab entschieden, wilde und politische Streiks sind verboten. Sie ist der institutionalisierte Sieg der herrschenden Klasse. Entsprechend wenig konnte dem größten Kahlschlag in der deutschen Sozialpolitik durch Hartz IV und Agenda 2010 unter einer rot-grünen Regierung damals entgegengesetzt werden. Und während die politischen Führer dieser Reformen, Schröder und Fischer, heute tatsächlich sehr partnerschaftlich mit der Führungsetage deutscher Unternehmen – deren Gewinne regelmäßig neue Rekorde erzielen – zusammenarbeiten, leiden Millionen von Menschen unter den Folgen ihrer Entscheidungen: sinkende Einkommen, Ausweitung der Zeit- und Leiharbeit, Alters- und Erwerbsarmut, der Gängelung durchs Jobcenter, sozialer Isolation und einer unzureichenden Rente. Die Reformen erzeugten ebenjenes Klima aus Sozialchauvinismus, Ignoranz und Feindseligkeit, von dem Parteien wie die AFD heute zehren.
Doch nicht nur innerhalb Deutschlands, sondern auch in der ganzen EU spielt das deutsche Kapital samt seiner politischen Vertreter eine entscheidende Rolle bei der neoliberalen Umstrukturierung der Gesellschaft, wie sie exemplarisch in Form der Austeritätspolitik gegenüber Griechenland betrieben wurde. Nicht zuletzt um den Absatz deutscher Produkte und die Profite deutscher Banken zu sichern, wurde das Land einem Spardiktat unterworfen, das große Teile der Bevölkerung ruiniert hat. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 20%, unter Jugendlichen bei 40%. Nach einem Jahr ohne Job verlieren die Menschen den Anspruch auf Arbeitslosengeld sowie ihre Krankenversicherung. Sie leben auf der Straße und müssen durch Suppenküchen ernährt werden. Die Ausgaben im Gesundheitswesen wurden seit 2009 fast um ein Drittel gekürzt. Tausende Krebspatienten erhalten daher keine Behandlung, wenn sie sich die teuren Privatkliniken nicht leisten können.
Begleitet wurde das Spardiktat der Troika durch eine von Springer initiierte Hetzkampagne, die die Einheit von deutschem Kapital und deutscher Arbeit beschwor, um gegen die „faulen Griechen“ mobil zu machen. Es war zentrales Anliegen des deutschen Kapitals sich selbst in Unschuld zu waschen, über Ausbeutung nicht zu sprechen und jene, denen alles genommen wurde, für ihre Misere verantwortlich zu machen. Und statt dieses Manöver zu durchschauen und sich mit den Ausgebeuteten des europäischen Südens zu solidarisieren, reagierte der deutsche Michel wie es ihm seit jeher durch seine Oberen aufgetragen wird: für diese zu buckeln, um nach unten zu treten.
Die Beschwörung nationaler Einheit, bei der die Sozialpartnerschaft eine zentrale Rolle einnimmt, ist ein Element des deutschen Faschismus gewesen und wird es in einem zukünftigen sein. Es hat einen Beigeschmack, wenn sich die Gewerkschaften auf ihre antifaschistische Tradition berufen, da sie der Machtübertragung an Hitler keinen organisierten Widerstand entgegengesetzt und sich in Teilen auch am „Tag der nationalen Arbeit“ beteiligt haben. Wir dürfen nicht vergessen, dass der ADGB, die Vorgängerorganisation des DGB, die folgenden Sätze in seinem Aufruf zum 1. Mai 1933 stehen hatte, die implizit gegen das „raffende“ jüdische Kapital gerichtet waren: „Der Bundesausschuß des ADGB begrüßt den 1. Mai 1933 als gesetzlichen Feiertag der nationalen Arbeit und fordert die Mitglieder der Gewerkschaften auf, im vollen Bewußtsein ihrer Pionierdienste für den Maigedanken, für die Ehrung der schaffenden Arbeit und für die vollberechtigte Eingliederung der Arbeiterschaft in den Staat sich allerorts an der von der Regierung veranlaßten Feier festlich zu beteiligen“.
Wir sind der Ansicht, dass die Systemfrage wieder in den Mittelpunkt gewerkschaftlicher Politik gestellt werden muss. Wem das naiv und utopisch erscheint, dem können wir nur entgegnen, dass es naiver und ein Widerspruch in sich ist, unter Beibehalt der kapitalistischen Produktionsweise eine Welt zu fordern, in der „die sozialen Interessen der Bürgerinnen und Bürger, der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer […] Vorrang haben vor den Interessen der Unternehmen“ (DGB). Aus der scheinbaren Sackgasse, die nur noch zwischen neoliberalem „Weiter so“ und faschistischem Backlash wählen lässt, kann nur der international vernetzte Klassenkampf zur Errichtung einer wirklich solidarischen Gesellschaft herausführen. Seit der Finanzkrise 2007 kam es in Griechenland, Spanien und Frankreich zu heftigen Revolten gegen die europäische Austeritätspolitik, die sich, da sie zeitlich versetzt waren, nicht nachhaltig miteinander verbinden konnten. Dennoch zeugen sie von der Existenz einer antikapitalistischen Opposition, die sich nicht einfach in die Geschichtsbücher verbannen lässt. Sich auf europäischer Ebene für die Interessen der Arbeitnehmerinnen einzusetzen hieße beispielsweise konkret, sich mit den sozialen Kämpfen der Gilets Jaunes gegen die neoliberale Regierung Macrons zu solidarisieren und diese bestmöglich in Deutschland fortzuführen. Dort ist es der Linken mittlerweile gelungen, die Hegemonie innerhalb der Protestbewegung zu gewinnen. Nicht durch eine belehrende Kritik an möglichen Unzulänglichkeiten und Irrwegen des Protestes, sondern durch aktive Partizipation ergreift man Partei für ein solidarisches Europa. Die Genossinnen in Frankreich haben verstanden: Wer den Erfolg von Le Pen bei der nächsten Wahl verhindern will, muss den Protest gegen Macron in antikapitalistischer Absicht vorantreiben.
Die Gewerkschaftsbürokratie wird gegen Organisationsversuche von unten immer widerwillig reagieren, und zwar mit dem Argument, die Einheit der Werktätigen und die Stabilität der von ihnen geschaffenen Institutionen seien das Wichtigste im Kampf für bessere Löhne; autonome Organisationen hingegen sorgten hingegen für Zersplitterung. Im Prinzip ist das richtig. In der Praxis aber nützt ein großer Verband wie der DGB nur dann, wenn er auch nützliche Forderungen stellt. Die Einheit der Arbeiterklasse ist nicht an sich selbst wünschenswert, sondern nur unter der Voraussetzung, dass diese auch die richtigen Ziele verfolgt. Einheit der Arbeiterklasse ist, wenn ein wilder Streik in einer Fabrik durch eine Solidaritätsaktion an anderer Stelle unterstützt wird. Einheit der Arbeiterklasse ist nicht, wenn eine große Organisation denselben Streik im Namen der Einheit der Arbeiterklasse als eine egoistische Aktion denunziert. Das ist auch eine Frage des Verhältnisses von Ökonomie und Politik, die sich nicht voneinander trennen lassen – Karl Marx sprach nicht umsonst von politischer Ökonomie. Die Gewerkschaftsoberen werden immer fordern, den Lohnkampf nicht mit politischen Parolen zu vermischen. Diese Argumentation hat Tradition: selbst ein aus heutiger Perspektive wenig radikal erscheinender Ferdinand Lassalle hatte mit dem Vorwurf des Politizismus zu kämpfen. Auch darin steckt eine halbe Wahrheit: Nicht jeder Kampf ist ein Kampf ums Ganze. Das heißt aber nicht, dass man nicht um das Ganze kämpfen kann. Realpolitik ist die richtige Losung, darf aber nicht vergessen, dass die Realität, auf die sie sich bezieht, als ganze falsch ist. Wer gute Tarifabschlüsse als absolute Zwecke betrachtet und nicht als relative Mittel im Kampf für eine bessere Einrichtung der gesamten Gesellschaft, ignoriert die Geschichte der Gewerkschaftsbewegung, in der es schon einmal anders war, und verrät letztlich die Sache der Arbeiter, die er zu verteidigen behauptet. Rosa Luxemburg brachte das ihrerzeit auf die Formel der radikalen Realpolitik: Es ist kein Widerspruch, sowohl innerhalb der Grenzen des Systems zu agieren, als auch gegen die Begrenzungen, die das System uns derzeit noch auferlegt.
Die Spaltung, die wir daher fordern, ist in erster Linie eine ideelle Spaltung. Es ist das Gebot der Stunde, sich gedanklich von der Sozialpartnerschaft zu lösen, die zur Gründungsdoktrin des DGB gehört. Die Theorie der Einheit von Kapitalisten und Arbeitern unter kapitalistischen Bedingungen ist präskriptiv und deskriptiv falsch. Es gibt keine Einheit der Interessen zwischen den Profiteuren und den Ausgebeuteten dieses Systems und wenn es sie gibt, dann nur im negativen Sinne, dass der Klassenantagonismus verdeckt wird. Da, wo es Einigkeit gibt, im de facto nationalistischen Kampf des Standortes Deutschland etwa gegen den Standort Griechenland, ist die deutsche Einheit von Kapital und Arbeit zu bekämpfen. Jeder Gewerkschafter und jede Gewerkschafterin steht hier vor der Frage, wem er oder sie die Treue hält – dem Burgfrieden der Nation oder der internationalen Solidarität.
Dass der DGB der Lehre von der Sozialpartnerschaft folgt, bedeutet aber nicht, dass man direkt neue Organisationen schaffen muss, weil diese Lehre falsch ist. Man kann auch innerhalb des DGB und innerhalb der Einzelgewerkschaften um unsere derzeit reformistischen Organisationen kämpfen. Hier propagieren wir die Abspaltung einer internen Opposition, die sich auf die Tradition der Revolutionären Gewerkschaftsopposition (RGO) bezieht. Die Gewerkschafter und Gewerkschafterinnen, die sich wirklich für die Interessen der Werktätigen interessieren, werden sich außerdem nach Möglichkeiten außerhalb des etablierten Rahmens umschauen. Die Freie Arbeiterinnen- und Arbeiter-Union (FAU) kann hier eine Perspektive bieten.
Um das Erstarken rechter Parteien zu verhindern, müssen wir uns wieder ernsthaft mit der sozialen Frage auseinandersetzen und die Widersprüche dort benennen, wo sie liegen: in erster Linie zwischen Kapital und Arbeit. Gegen den bevorstehenden Faschismus, der jüngst in Brasilien gesiegt hat, sind moralisierende Urteile gegen die „Ewiggestrigen“ aus der Position einer scheinbar aufgeklärten Bürgerlichkeit zu wenig. „Der Faschismus ist nicht wider die bürgerliche Gesellschaft, sondern unter bestimmten historischen Bedingungen ihre konsequente Form“ (Max Horkheimer). Als solche müssen wir auch die AFD erkennen, wenn wir ihr wirklich etwas entgegensetzen wollen. Kampf dem Faschismus heißt daher zugleich: Kampf dem Kapital! Statt dem sozialen Frieden mit den Ausbeutern, fordern wir die internationale Solidarität der Ausgebeuteten!
DGB-Jugend Neukölln, Mai, 2019