Die große Reinemache
Text aus Anlaß des Ausnahmezustandes im Friedrichshainer Nordkiez
Der Markierung von linken Räumen, insbesondere in der Berliner Rigaerstraße, als Rückzugsorte für „Gewalttäter*innen“ durch Innenpolitiker und Boulevard folgen nun Taten. Die Intention scheint klar: Ein Pseudo-Ereignis schaffen, um durch Medienpräsenz den Wahlkampf einzuläuten und gleichzeitig linke Räume als gefährlich darzustellen, zu bekämpfen und zu schwächen.
Aber noch mal von Beginn. Im Oktober 2015 wird der Friedrichshainer Nordkiez, eine Hochburg der autonomen Szene und immer wieder Schauplatz von mitunter militanten Kämpfen gegen Gentrifizierung, zum Gefahrengebiet erklärt. Am Vormittag des 13. Januar 2016 gibt es eine Auseinandersetzung zwischen einem Polizisten und vier Personen (1). Diese sollen anschießend in den Hof des Hausprojekts Rigaer 94 geflohen sein. Abends kommt es zu einem polizeilichen Großeinsatz, samt Hundestaffel, Helikopter und SEK in dem Hausprojekt. Insgesamt sind 500 Bereitschaftsbullen im Einsatz. Nicht etwa um die vier Tatverdächtigen zu ermitteln, sondern um das Haus zu „begehen“. Stolz werden „gefährliche Gegenstände“, wie Feuerlöscher, Pflastersteine und Krähenfüße präsentiert. Dass nebenbei das ganze Haus verwüstet, die Bewohner*innen gedemütigt und zwei Tonnen Heizmaterial eingesackt wurde, zeigt schon den Charakter der Operation: Maximalen Schaden im Rahmen des irgendwie machbaren anrichten. Auf das, was die Polizei vorgibt zu schützen, den Rechtsstaat, wird dabei gepfiffen.
Nun wäre es sicherlich nicht falsch, dieses Machtgebaren gegen die Rigaerstraße, letztlich die autonome Szene als solcher, als den Wahlkampfauftakt Frank Henkels (CDU) zu interpretieren, ist doch die Amtsbilanz des Berliner Innensenators gelinde gesagt durchwachsen. Die organisierte Kriminalität steigt, die Verwaltung ist absolut dysfunktional und hat die ankommenden Geflüchteten überhaupt erst zu einer „Krise“ werden lassen.
Die Ereignisse verweisen jedoch auch auf einn weit umfassenderen Prozess: Den Ausbau des autoritären neoliberalen Sicherheitsstaats. So tritt zunehmend an die Stelle des fordistischen Klassenkompromisses in Gestalt des sogenannten Wohlfahrtsstaates – übrigens eine Begriffsverwirrung unendlichen Ausmaßes – der offene Klassenkampf, wohlgemerkt: von oben. Eine notwendige Folge ist die Stärkung der repressiven gegenüber den ideologischen Staatsapparaten, um durch eine permanente präventive Konterrevolution die Gesellschaft trotz wachsender sozialer Spannungen regierbar zu halten. Ein zentrales Dispositiv in diesem Ausbau des Sicherheitsstaates bildet der Ausnahmezustand. In ihm kondensiert sich das rechtliche Souveränitätsparadox: Die Grundrechtsordnung (Verfassung) wird diktatorisch außer Kraft gesetzt, um sie gegen äußere oder innere Feinde zu retten. So die bürgerliche Erzählung. Historisch entstand der Ausnahmezustand in Form des über Teile oder das gesamte Staatsgebiet verhängten Belagerungszustandes angesichts eines „äußeren“ Feindes. Aber schon Herbert Spencer erkannte die strukturelle Parallelität von Abwehrmaßnahmen, die gegen äußere Angriffe gerichtet sind (Krieg), mit denen, die gegen innere „Störenfriede“ – Neusprech: Chaoten – ergriffen werden. Wird die staatliche Rechtsordnung, die Grundlage der Kapitalakkumulation, als in Gefahr angesehen, greift der Staat unmittelbar, ohne jede rechtliche Vermittlung auf sein Gewaltmonopol zurück. Bereits die Handhabung des Ausnahmezustandes während der Pariser Kommune, in den Klassenkonflikten der Zwischenkriegszeit oder in den 70er Jahren in der BRD verweist daher viel eher auf eine Regierungstechnik, als auf eine bloß juristische Konstruktion und zeigt zudem seinen anti-kommunistische Charakter auf.
Diese Regierungstechnik wurde in den letzten Jahren immer weiter verfeinert. Mit der Erfindung von sogenannten Gefahrengebieten, in Berlin heißen sie „kriminalitätsbelastete Orte“, kann die Polizei selbstständig, ohne dies öffentlich ausweisen zu müssen, einen in Raum und Zeit von ihr bestimmten Ausnahmezustand installieren. In diesen Gebieten ist das Grundgesetz bis zu einem gewissen Grad ausgehebelt. So können ohne konkreten Anlass Kontrollen durchgeführt und Personen durchsucht werden. Damit sind übrigens ganz nebenbei Legislative und Judikative, im engeren Sinne sogar die Exekutive ausgehebelt. Die Polizei unterliegt hier weder der parlamentarischen noch der Regierungskontrolle. Es zeigt sich also eine Tendenz zum Polizeistaat, da diese anfängt mehr oder minder autonom gegenüber den eigentlichen Verfassungsorganen zu operieren. Dazu gesellt sich, und das hat der Einsatz in der Rigaerstraße gezeigt, dank großzügiger Auslegung des „Allgemeine Sicherheits- und Ordnungsgesetz“ (ASOG) ein erleichterter Zugriff auf teilöffentliche Räume und der Versuch der Dekonstruktion des Privatraums Wohnung. Der Angriff auf die Riager94, sowie die Hausdurchsuchungen in Nahe gelegen Hausprojekten sind Zeuge hiervon.
Der Widerstand gegen solche Maßnahmen wird – im Gegensatz zu einer Notstandsregierung – dadurch gemindert, dass dieser Ausnahmezustand nicht öffentlich verlautbart wird, räumlich begrenzt ist und die Kontrollen im Regelfall individualisiert werden, da nicht wahllos Passant*innen, sondern Menschen gezielt nach ihrem Äußeren kontrolliert werden. Ziel dieses verschärften Kontrollregimes ist die Säuberung des öffentlichen Raums von allen auserkorenen Feinden der Normalgesellschaft. Ob von diesen ein bewusster Antagonismus zur bürgerlichen Gesellschaft und ihrem Staat eingegangen wird, wie bei den Bewohnerinnen der Rigaer 94, oder eine andere Störung ausgeht, wie etwa bei Jugendlichen, Obdachlosen, Alkohol- und Drogenabhängigen oder Sexarbeiterinnen, spielt für die Anwendung der Maßnahmen keine Rolle. Die Spuren sollen getilgt werden von allen, die sich nicht restlos in die neue Leistungsgesellschaft einfügen lassen (wollen).
Bei dem Angriff auf das Hausprojekt Rigaer 94 handelt es sich also nicht nur um einen erfolgreichen Wahlgag oder die Überreaktion von frustrierten Polizist*innen. Vielmehr dienen die, über das Gefahrengebiet ermöglichten, Repressionen erstens der Bereinigung des städtischen Raums von Elementen, die einer investitionsfreundlichen Umgebung im Wege stehen. Zweitens der Regulierung und Normierung des Verhaltens in öffentlichen Räumen und drittens der Stärkung des Sicherheitsstaates.
In diese allgemeinere Entwicklung reihen sich die Geschehnisse in Friedrichshain, aber auch die anstehende Räumung des linksradikalen Ladens M99, samt Besitzer HG, und des sozialen Zentrums Friedel 54 ein. Ziel der Attacken ist die materielle Schwächung und zugleich das systematische in Vergessenheit bringen von antikapitalistischen Alternativen, um so eine Variante von Staat und Kapital zu verwirklichen, die sich den sozialen Frieden nicht durch Umverteilung zu erkaufen braucht, sondern ihn gewaltsam durchsetzt. Die Abwehrkämpfe sind daher untereinander in Verbindung zu bringen, vor allem, um nicht hinter dem Bewusstsein der Freundinnen und Freunde des Kapitals hinter her zu hinken, die ihre Maßnahmen längst als koordinierte Offensive begreifen, wie diese kürzlich der BZ (2) verrieten. Aber vor allem muss der Konflikt als über die ökonomischen Verdrängungsprozesse hinausreichend betrachtet werden. Er ist immer auch ein politischer, d.h. seine individuelle Konfiguration muss überschritten werden hin zu einem Verständnis als Klassen- respektive Machtkonflikt innerhalb der oben beschriebenen Entwicklung.
(1) Die Darstellungen über den Vorfall gehen auseinander. Von einem Angriff durch Unbekannte (Polizei) oder einer Schubserei (Zeugen), bis hin zu einem Angriff der Polizei auf die vier Unbekannten (indymedia) reichen die Darstellungen.
(2) https://twitter.com/fluxusx/status/687765555621814272/photo/1