Neuerliche Razzia gegen Aspekte des linksversifften Berlins!
560 Polizisten durchsuchen 4 Wohnungen
Der mutmaßliche Hintergrund oder was darüber bekannt wurde.
Das Leben in einer unsinnigen Gesellschaft zwingt Mustafa T. täglich dazu, 14 Stunden in seinem kleinen Lebensmitteldepot in Kreuzberg zu verbringen und die Waren zu hüten. Am Wochenende sogar mehr. Zustände, bei denen er selbst die Arbeiter aus Österreich beneiden kann, die nun dank neuer Verordnung der Regierung immerhin bis zu 60 Wochenstunden ausgenutzt werden dürfen. Mustafa T. ist eben Selbst und arbeitet ständig. Und das obwohl natürlich der Betrieb solcher kleinen Depots völlig redundant ist und man die Verteilung der Güter auch besser und vor allem ohne deren ständige Überwachung organisieren könnte. Außerdem stellt Mustafa T. seinen Laden als Verteilknoten von Paketen zur Verfügung, weil das für die Postunternehmen billiger ist. Die Software zwingt ihn vor Ausgabe des Pakets angeblich zur Eingabe einer Identifikationsnummer und daher braucht man das entsprechende Dokument. Dieses Dokument soll man eh ständig mit sich herumtragen.
So kann es zu etwas Ungemach kommen, etwa wenn eine – wie man aus der Presse erfahren hat – rothaarige Frau nur einen Autofahrberechtigungsschein dabei hat. Dank Überwachungskamera und postmoderner Medienwelt kann man sich das im Netz angucken: Sie ist leicht genervt, er erklärt die Spielregeln der Eingabemaske. Dann fehlen leider denkwürdige 15 Sekunden, aber sie ist wohl irgendwie etwas „ausgetickt“, soll mindestens etwas wie „Ich flipp’ gleich aus“ gemurmelt haben. Schließlich hat sie jedenfalls gesagt: „Alter, ich reg’ mich über die Post auf und du nimmst das persönlich.“ Mustafa T. dann noch: „Willst du mich verarschen, Alter.“ Alles durchaus unaufgeregt, doch dann beschließt die Frau tatsächlich die Snickersschachtel aus dem Regal zu rupfen – „Für mich ist das ja Sachbeschädigung“ (Mustafa T.). Also die Snickers auf dem Boden, die Frau raus und Mustafa T., der Hüter der Schokoriegel, übereifrig hinterher. Geräusche, Geschrei. Mustafa will sie, die Frevlerin an der Ware, zur Rede stellen, klingt aber wilder als es wohl war, da er sich schnell beruhigt und dann dank Intervention eines weiteren Kunden auch sofort endgültig von ihr ab lässt. Und gut ist, sollte man meinen.
Diesmal kam es aber so, dass diese Frau ihren Freunden Bescheid gegeben haben soll. Diese gehen dann komplett vermummt in den Kiosk rein und sagen: „‚Halli Hallo‘, als ob alles normal wäre.“ (Mustafa T.) Sie schmissen einige Waren zu Boden und riefen: „Du hast heute eine Frau angefasst!“. Der Kleinhändler zeigt, dass er sich nicht alles gefallen lässt und greift beherzt die Vandalen an. Die folgende Prügelei kann man ebenso im Archiv des Frühstücksfernsehens von Sat 1 bestaunen. Er jedenfalls trifft gut ins Gesicht eines der Vermummten und bekommt das Momentum. Das seltsame Kommando ist aber in deutlicher Überzahl und gewinnt es schnell zurück. Wenn Mustafa T. sich auch einen Augenblick halten kann, geht er schließlich, von hinten geschubst, zu Boden. Darauf hin ziehen sich die Vandalen sofort zurück, ohne extra nachzutreten, nur ihren prompten und blamablen Rückzug deckend, da Mustafa T. auch am Boden noch nicht besiegt ist. Der Kampf war fair und insbesondere freut sich Mustafa T., dass keine Messer zum Einsatz kamen, was sich bei solchen Bagatellen nun wirklich nicht ziemt. Überhaupt kam niemand ernsthaft zu Schaden und Mustafa T. konnte sofort wieder aufstehen.
Alles also weiter im Rahmen, die Geschichte ist eine Lappalie und selbst die 8000 Euro Schaden scheinen etwas übertrieben, da kaum etwas teures zu Bruch ging. Vielleicht der Kühlschrank? Aber den Schaden hat natürlich trotzdem Mustafa T., da die Versicherung nicht für diesen ungewöhnlichen Fall zahlen wollte. Überhaupt muss man sagen, dass Mustafa T. die Ehre besaß seinen Laden alleine gegen einen unmotivierten Angriff dahergelaufener Autonomer zu verteidigen und er hat sich gut geschlagen, Biss bewiesen. Den Angreifern kann man vielleicht zugute halten, dass es ihnen nicht gleichgültig ist, wie man eine der ihren behandelt, wenn es auch schwerfällt, da es doch eher einem absurden Theater gleicht. Aber besonders brutal waren diese Leute jedenfalls nicht und beinahe erstaunt, als sie sich plötzlich ihrerseits eines Angriffs durch Mustafa T. erwehren mussten. Noch einer wie er und es hätte übel für sie enden können. Jedenfalls war es kein „brutaler Angriff auf den Späti und den Spätibetreiber“ wie man damals, es ist nun ein halbes Jahr her, sogleich aus der Lügenpresse erfahren konnte. Eher eine Pseudomiliz.
Die Reaktion
Ein halbes Jahr später, nämlich am 16. November 2018, durchsuchten dann 560 Polizisten 4 Wohnungen in Kreuzberg, Friedrichshain und Neukölln. Die Claquere entstammen nämlich unschwer erkennbar dem autonom-anarchistischem Sumpf Berlins. Insbesondere die ewige Rigaer 94 hat es wieder erwischt, vielleicht auch, damit die Geschichte medientechnisch aufregender wird. Der Großteil der Truppen war jedenfalls hier aktiv. Unter anderen ein Hubschrauber in der Luft und ein Sondereinsatzkommando mit allerlei Gerät und automatischen Gewehren am Boden. Man muss dazu wissen, dass es „völlig klar ist, das die Rigaer Straße ein besonderer Ort ist“ (Pressesprecher der Polizei, Winfried Wenzel) Hier soll es Leute geben, die sich gegen solche Razzien wehren und es kam immer wieder zu Angriffen auf die Polizei in diesem Gebiet. So muss man auch die Zahlen verstehen: Die meisten Ordnungskräfte waren dazu da, den umliegenden Raum abzusichern. Die Liberalen nennen den Einsatz trotzdem überzogen und sie sind es wohl, da man die Kampfkraft der Autonomen sicher nicht übertreiben sollte. Aber immerhin sind sie nicht nur irgendwelche Lappen und erst neulich und nach Tagesspiegel sind „10 bis 15 junge Männer und Frauen in die Senatsjustizverwaltung in Schöneberg herein marschiert“, um dort einen höheren Beamten zur Rede zu stellen. Diesen Liberalen sei daher auch gesagt, dass die Erdrückungstaktik durch besonders viele Polizisten solange relativ erfolgreich ist, wie die zu unterdrückende Bewegung schwach ist. Auf diese Weise kann man sogar eine gewisse chaotische Aggressivität vermeiden, da keiner sich unter diesen Bedingungen ernsthaft wehrt. Die Angriffe durch die Ordnungsmacht bleiben so tendenziell auf dem Boden üblicher Sachbeschädigungen, Beschimpfungen, garniert vielleicht einigen besonderen Verfehlungen der Ordnungskräfte und die Sache wird ansonsten in den Gerichten ausgehandelt, die die Strafen lautlos und ohne viel Geknirsch auferlegen. Erst wenn die Unruhe allgemeiner würde, hat man selbstredend nicht immer hunderte Kräfte zur Verfügung und es wird ruppiger. Außerdem braucht auch ein SEK immer wieder Training im Terrain, soll es in einem ernsteren Fall nicht komplett ungeübt ins Feld.
Und dann natürlich das Prinzip: Weniger der Besuch irgendwelcher Autonomen im Kiosk ist der Stein des Anstoßes, als der Umstand dass diese Art von Rollkommandos voluntaristisch die Konflikte in die eigene Hand nehmen und sie eben nicht den großen, organisierten Rollkommandos des Staates überlassen wollen. Das ist Programm dieser informellen anarchistoiden Gruppen und Kreise, so klein sie sein mögen. Diese Taktik hat eine absolute Berechtigung, da die Polizei in den relevanten Fragen auf der falschen Seite steht. Das stimmt in seiner Allgemeinheit auch dann noch, wenn einzelne dieser autonomen Verbände einen groben Unfug begehen, unnötigen Sachschaden verursachen oder sogar Personenschaden. Es versteht sich, dass diese Taktik aber auch eine grundsätzliche Moral benötigt, da die Einzelnen zurecht von ihr überfordert sind. Andererseits rechtfertigt diese Selbstermächtigung kleiner Partisanengruppen eben den Großeinsatz der Polizei, da man sowas im Keim ersticken möchte. „Der Rechtsstaat kennt keine weißen Flecken. Wir setzen die Regeln an allen Orten der Stadt um.“ (Senator für Inneres und Sport, Andreas Geisel) Gesetz und Ordnung also auch für die Rigaer Straße! Überhaupt ist Berlin noch immer zu linksversifft. Mag derselbe Senator auch beteuern, dass es sich um eine „Razzia im kriminellen Milieu“ gehandelt habe, die doch „nicht etwa politisch bestimmt“ war, sie ist es insofern, als die imaginäre Gegenmacht der Autonomen auch dann noch politisch ist, wenn sie die gegenwärtige Politik im Ganzen verneint. Und das in Friedrichshain sogar in einem Kiez, der nach Tagesspiegel in solchen Fragen „Fifty-Fifty“ gespalten sei. Und bekanntlich geht es bei den Scharmützeln dort im wesentlichen nicht um dumme Streits in kleinen Läden, sondern um Fragen der Nutzung der öffentlichen Plätze und der privaten Wohnungen, mithin um so essentielle Sachen wie die Mietpreisentwicklung.
Die Solidarität
Den Schaden haben jetzt jedenfalls die Betroffenen der vier Hausdurchsuchungen, in welchem Zusammenhang diese auch immer genau zu welchen möglicherweise mit dem Gesetz in Konflikt stehenden Handlungen stehen. Es liegt schließlich auf der Hand, dass diese dumme Geschichte vor einem halben Jahr nur als für die Herrschaft perfekter Anlass dient, einen Repressionsschlag gegen ein unerwünschtes Segment der Gesellschaft zu führen, bei dem es im Einzelnen gar nicht unbedingt darauf ankommt, die „Richtigen“ zu treffen, vielmehr alles darauf ankommt, die Betroffenen in einem möglichst ungünstigen Licht erscheinen zu lassen. Diese Leute mussten jedenfalls zusehen, wie der bewaffnete Arm unseres Staates in ihre Privatgemächer eindrang und etwa ihre Computer mitnahm. Sie sind mit allerlei Angst und Panik konfrontiert, die solche eher unangenehmen Besuche und deren möglichen strafrechtlichen Konsequenzen auslösen. Trefft ihr welche, so redet ihnen gut zu und helft ihnen. Unterstützung haben sie verdient, sogar wenn sie wirklich in die mehr als peinliche Kioskaktion verwickelt gewesen sein sollten. So wundert sich auch der ursprünglich geschädigte Ladenhüter gegenüber der BZ: „Es ist schon ein wenig irre, dass es wegen dieses Paktes so einen Ärger gibt“. Er sei „selbst überrascht, dass die Polizei in seiner Sache so viel Aufwand betreibt, um Beweise zu sichern.“ Man soll sich nämlich von dem für die Anarchisten maximal ungünstigen Szenario nicht ablenken lassen. Die Strafverfolgung hat die letzten Jahrzehnte durchaus angezogen und es kommt an allen möglichen Stellen – man denke nur an die proletarisch geprägten Fußballultras – immer wieder zu gewaltigen Polizeieinsätzen, die eher darauf verweisen, dass die Herrschaft eine Verschärfung dessen erwartet, was Thälmann „Klassenwidersprüche“ nannte. Wie so oft handelt es sich dabei in Deutschland um eine präventive Konterrevolution. Andererseits fand und findet dieser Ausbau der staatlichen Gewalt schleichend statt und im Rahmen unserer demokratischen Ordnung. Der normale Mensch merkt es kaum, da es kaum Widerstand gibt und es so immer nur irgendwelche Dussel betrifft. Wer sympathisiert schon ernsthaft mit den Ultras? Höchstens wegen einem gewissen dort zu findenden rebellischen Gestus, der aber öfter auch in seiner autoritären Variante daherkommt. Und mit den Autonomen? Naiv und schwach gehören sie doch zum Besten dieser Stadt. Wobei man natürlich an allen Orten erst lernen muss, wirklich gerechte Kämpfe zu führen.
In diesem Sinne viel Kraft dieser Subszene!
Und natürlich auch Mustafa T. ein gutes Geschäft!