I. Heroische Jammerlappen
Geboren 1989, bin ich eines dieser so genannten „Wendekinder“. Die DDR kenne ich nur noch vom Stempel einiger Papiere und von den Erzählungen aus Familie und Umfeld. Nonkonform sei man gewesen, jeder auf seine Weise. Mal im christlichen Umfeld, mal innerhalb der Partei oder mal im Alltag beim heimlichen Hören westdeutscher Radiosender. So richtig mitgemacht hat niemand. Wo jedoch alle mitgemacht haben, sind die Demonstrationen, die zum Ende der DDR führten. Offenkundig wird jedoch selten die Kehrtwende, oder wenigstens die Dynamik, innerhalb der Proteste ausgesprochen. Wie schnell die Lage eine Schieflage wurde und der zunehmende Nationalstolz die gesamte Stimmung vereinnahmte, findet sich allenfalls in Studien über diese Zeit. Ein nüchterner Blick also auf ein Geschehen, was immerzu notwendig ist um sich nicht als Gralshüter der Wahrheit aufzuspielen und die eigene Wahrnehmung als letzte Instanz zu begreifen.
Die Tristesse der DDR scheint somit nur durch Erzählungen und eigener Analyse zu mir durch. Den Smog habe ich nie geatmet, den Putz der Häuser nie abfallen sehen, das Verbot bestimmter Musik nie erlebt und die allgemeine Repression nie erfahren. In meiner Erinnerung existiert nur eine aufgeräumte DDR mit sanierten Gegenden, aber schwindenden Einwohnern. Diversität sucht man hier vergebens. Viel eher sind es Kameradschaften und anderes Gesocks, die in der Provinz die Hegemonie für sich beanspruchen und das Leben für antiautoritäre Jugendliche zur Hölle machen. Wo in westdeutschen Bundesländern antifaschistische Intervention als ein Kampf neben vielen geführt wird, kommt man auf dem Gebiet der ehemaligen DDR um einen alleinigen Fokus darauf nicht umhin. Zu stark ist die Dominanz rechter Strukturen und der Hass besorgter Bürger. Es macht deutlich, wie staatlicher Antifaschismus bloße Fassade ohne selbständiges Handeln ist. All die Kampfesreden sind umsonst, wenn sie als staatliche Propaganda wahrgenommen werden. Faschismus wird zu nonkonformer Coolness umgedeutet und das Spiel mit verbotenen Symbolen als rebellisch interpretiert. Das war vor dem Umbruch so, und auch danach. Doch ist neben diesen offensichtlichen Nazis der Hang zu einer Theorie des Extremismus sehr viel stärker vorhanden. Man glaubt, durch die geschichtliche Erfahrung des Nationalsozialismus und des Staatssozialismus nun besonders geläutert auf soziale Konflikte blicken zu können. Rückendeckung gibt es von vergleichsweise vielen Spezialisten an Instituten in Sachsen. Gewalt sei immer ganz schlimm und man habe gesehen wohin radikale Gedanken führen. Die Unterschiede sind egal, geht es doch einzig um die Anwendung von Gewalt und der angeblichen Missbilligung von Meinungsfreiheit. So tönt es auf dutzenden Bürgerdialogen, wo sich der Frust durch Meckern äußert und man es dabei belässt. Keine Kritik an Strukturen des Kapitalismus und Diskussion um mögliche Aufhebung, sondern Stillstand im Jetzt und Eingeständnis des verächtlichen Wesens. Das heilige Eigentum darf nicht angetastet werden, sonst droht Enteignung in bolschewistischer Manier. Und die habe man schließlich durch volkseigene Betriebe selbst erlebt. Obwohl natürlich nicht alles schlecht war. Die staatliche Versorgung einiger Grundbedürfnisse findet man immer noch prima. Auch die autoritäre Vorgabe der Gestaltung des eigenen Lebens trifft nicht ausschließlich auf Ablehnung. Der Untertanengeist liefert schließlich stets ein geordnetes Leben mit klaren Hierarchien. Die Ideologie ist, was stört und die habe man nun endlich überwunden. Denn Ideologie gibt es nie in demokratischer Spielart. Ach, könnte man doch nur mit dem Bauch laufen.
Offenkundig wurde dies einmal mehr in den vergangenen vier Jahren. Es begann mit der Ankunft geflüchteter Menschen und eines kurzen Sommers der Solidarität. Direkte Aktionen fanden auf unterschiedlichen Wegen statt und zeugten von der Kraft selbstorganisierter Projekte. Es wurde geschleust, gekämpft, gebaut und geholfen. Zusammenhänge gründeten sich. Freundschaften wurden geschlossen und Beziehungen geschaffen. Das Prinzip gegenseitiger Hilfe wurde sichtbar. Die Euphorie währte jedoch nur kurz. Der staatliche Notstand ersetzte das Bild von unabhängiger Solidarität. Turnhallen konnten nicht genutzt werden, Krankheiten in Massenunterkünften machten die Runde und die zaghafte Integration in den Alltag wurde von Schauermärchen besorgter Bürger begleitet. Wo sonst keine großes Interesse an gerechter Verteilung besteht und jeder Lüge des Parlaments bereitwillig geglaubt wird, wurden jetzt Notunterkünfte penibel begutachtet um eine Versorgung nur für das Nötigste zu gewährleisten. Selten wurde so genau auf den Gebrauch von Steuern geschaut. Der öffentliche Diskurs wandelte sich. Nun ging die alte Leier von bürgerkriegsähnlichen Zuständen, fehlenden Geldern und starren Naturgesetzen wieder los. Vaterlandsliebe und die Verteidigung eines Abendlandes wurden zum Gebot der Stunde ernannt. Die erhoffte Skepsis gegen den Staat kannte nur seine autoritäre Variante. Bürgerwehren bildeten sich und gingen auf die Jagd des äußerlich Fremden. Unterkünfte wurden angegriffen oder bereits vor der Eröffnung abgebrannt. Jeder wusste eine erlebte Gruselgeschichte mit Geflüchteten zu erzählen und damit alle zu meinen. Alltägliche Blicke, Anfeindungen und Angriffe interessierten nicht und waren nur eine Randnotiz in der Presse wert. Umgedreht versetzte jede Meldung über Attacken von Geflüchteten die Massen in instrumentelle Trauer. Krokodilstränen wurden vergossen und auf die Gefühle der betroffenen Familien geschissen um letztlich einen Grund zum Angriff zu haben. Und bei alledem wurde ein Slogan aus der Mottenkiste hervorgeholt um sich als Volkswille zu gerieren – „Wir sind das Volk“.
Die Verknüpfung zum Umbruch 1989/90 war also geschaffen. Missbraucht wurde da nichts, sondern viel eher unter anderen Vorzeichen wieder angenommen. Denn Deutschtümelei wurde auch 30 Jahre zuvor nicht vehement bekämpft. Die Reihen, die für offene Grenzen und ein Land mit freien Menschen eintraten, lichteten sich und Nazikader aus Westdeutschland verstanden den Resonanzraum zu nutzen. Die Gegebenheiten waren aber eben da und man tut der Konsequenz aus derlei Handeln keinen Gefallen mit falschem Mitleid für die Leute zu sprechen. Es gibt die Helden jener Zeit, keine Frage. Sie würden ihr Scheitern eingestehen. Sie würden stolz auf die Prozesse hin zu einer befreiteren Gesellschaft schauen um schließlich festzustellen, dass der Gang der Geschichte diesmal nicht auf ihrer Seite war. Das Konsum und private Freiheiten nur in Gestalt repräsentativer Demokratie zu bekommen waren, weil es offensichtlich ein Gros der Leute bevorzugte. Die wirkliche Schweinerei daran ist der damit geschaffene Mythos. Die Verhältnisse wurden gekippt, ehemalige Parteikader verhaftet und somit Platz für Selbstbeweihräucherung geschaffen. Alle waren Helden, alle waren Volk. Man kennt das aus jedem gefallenen Regime. Von jeder Position aus kämpfte man für das Volk. Reale Herrschaftsverhältnisse bleiben da außen vor.
Wie bereits erwähnt, resultieren meine Schlussfolgerungen aus Gesprächen und Lektüre. Physisch anwesend war ich nicht. Und hier wäre für viele ältere Generationen der Dialog mit mir bereits beendet. Man muss teilgenommen haben um es zu verstehen. Fürwahr, man solle niemals den Wert von subjektiver Erfahrung herunterspielen. Gerade diese braucht es um utopische Welten Wirklichkeit werden zu lassen. Doch keineswegs ausschließlich. Erfahrung kann bekanntlich trügerisch sein. Es braucht eben immerzu das Wissen zwischen zwei Zeiten um eine Konstellation herzustellen. Der vorbehaltlose oder gar interessierte Umgang damit fehlt im Dissens mit besorgten Bürgern. Ich war nicht anwesend, ich darf mir kein Urteil erlauben. Fehlendes Geschichtswissen wird mit der vollends aussichtslosen Bequemlichkeit konfrontiert, ein Herz, aber keinen Verstand zu besitzen. Eine überaus bornierte Situation also. Tatsächlich sind es zumeist junge Menschen, die in Deutschland demonstrieren bis randalieren. Das hängt jedoch wenig mit dem Hintergrund des Handelns als viel mehr mit einer öffentlichen Meinung zusammen. Anderswo schämt man sich bis ins hohe Alter nicht eigene Interessen auch militant zu erreichen. Man weiß um die Techniken des Staates im Sinne sozialen Friedens. Unausweichliche Antagonismen werden nicht am runden Tisch ausgehandelt und benötigen, so bitter die Einsicht auch sein mag, die direkte Konfrontation. Die deutsche Geschichte kennt allerdings nur wenige Momente solcher Austragung sozialer Kämpfe. Sie sind verschüttet, werden hie und da ausgegraben, bleiben als Konsequenz bislang ohne Realität. Subversion wird bei allzu großer Gefahr integriert oder ist bereits dem Polizeiknüppel zum Opfer gefallen. Streiks werden vollkommen an Sekretäre delegiert und die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft zeugt mehr von sozialer Absicherung als vom Willen eigenes Geschick in die Hand zu nehmen. Es gehört einfach zum guten Ton ohne wirkliche Reibung. Die Perfidie ist ein Meister aus Deutschland.
Die Abwesenheit eines ähnlichen Ereignisses wie ’68 in Ostdeutschland verhärtet die Situation für antiautoritäres Aufbegehren. Wurden im Zuge sozialer Bewegungen Projekte der Selbstorganisation geschaffen und auch weiterhin getragen, fehlte eine vergleichbare Dynamik in der DDR. Rebellion artikulierte sich in Stadien, Kirchenräumen oder Kellern herunter-gekommener Häuser. Der Konflikt mit dem Staat blieb in vielerlei Hinsicht privatisiert und kannte nur selten die öffentliche Sichtbarkeit. Es gab diese Aufbrüche – erinnert sei an den Aufstand 1953 – aber sie verschwanden. Wenn sich heute autonome Praxen gerade bei jungen Menschen hoher Beliebtheit erfreuen, während ältere Generationen fehlen, dann hat das auch mit eben jener Abwesenheit zu tun. Dann hat das aber ebenso mit einer Befriedung einstiger Helden zu tun, die ihren Humanismus gänzlich dem Staat überlassen und ihre Empörung sich im kritischen Konsum vollends verbildlicht. Dies zumindest, kennzeichnet ein linksliberales Milieu mit moralischem Überbau ohne Interesse an sozialen Grundlagen bzw. der Überwindung von Ausbeutung durch radikale Umgestaltung. Auf die Jugend mit Tatendrang wird zwar nicht gehässig geschaut, aber es wird auch nur vom Rand aus beobachtet. Und wehe, es wirft jemand einen Stein oder agiert unkontrolliert! So etwas verbietet sich in einer bunten Republik vieler runder Tische mit vielen zirkulierenden Gesprächen.
Eine weitere Spielart des Liberalismus kommt ohne Moral aus. Hörig werden alle privaten Freiheiten zum Wohlergehen der politischen Agenda aufgegeben und Diskurs als bloßer Schauplatz unterschiedlicher Meinungen wahrgenommen. Zu Tiraden gegen Menschengruppen fällt nichts ein, außer der Verweis auf Meinungsfreiheit. Sie wissen um das Spiel lähmender Debatten als Technik zur Befriedung vorhandener Antagonismen. Liberal versteht sich das Milieu nur noch in Bezug auf Privatwirtschaft und Abbau bürokratischer Hürden zur Sicherung weiterer Ungleichheit. Von diesen Leuten ist nichts zu erwarten.
Der Schmutz der Straße bleibt den Jungen überlassen. Sie dürfen sich dann vom autoritären Subjekt als „Schreikinder“ beschimpfen lassen, welche noch keine Ahnung von der Welt hätten und erst einmal arbeiten gehen sollen. Sie werden belächelt und nicht ernst genommen. Sie bekommen als erste und am schlimmsten von den Bullen auf die Fresse, weil diese meinen, Gemeinschaftskunde mittels Tonfa einprügeln zu müssen und das Alter bisweilen ein Privileg vor Gewalterfahrung ist. Klar, die Zeit ist da und die Träume noch nicht begraben. Naivität ist die Ausrede jener Leute, die die Auseinandersetzung mit Ideen scheuen und im Vertrauten verharren. Argumente folgen selten, es genügt der Verweis auf das Alter und den damit verbundenen Erfahrungen. Das ist logisch, denn es würde die tatsächliche Naivität zum Vorschein kommen. Mythos und irrationale Märchen beherrschen das Denken. Wieso, weshalb und warum Vaterlandsliebe dem eigenem Glück geopfert werden müsse, bleibt unbeantwortet. Die Galionsfiguren der autoritären Revolte wissen sich auch nicht anders zu helfen als über „Zaubertränke“ zu fabulieren um die Eigentlichkeit deutschen Wesens zu begründen. Irgendwie soll es da etwas Eigenes geben, was nur durch Feindbilder phantasiert wird. Bricht ein Feindbild zusammen folgt das nächste um dem Eigenen abermals eine Grundlage zu schaffen. Mitunter benötigt es Projektionen um eigene Gelüste durch Abwehr zu unterdrücken. Aller Theorie zum Trotz wird wahrlich Menschen Gemachtes zu unabänderlichen Naturgesetzen erkoren. Dabei kommt man sich auch noch besonders keck und nonkonform vor. Vokabeln werden verdreht und Starres als vielfältig propagiert. Die große Völkerschau meint von Kultur zu sprechen, weil Rasse noch einen zu großem Tabubruch darstellt. Das ist amüsant anzusehen, wenn sich gerade im kulturellen Bereich grenzüberschreitender Schnittstellen und popkultureller Ergüsse in ihrer Beliebigkeit bedient wird. Das Besondere des Eigenen wechselt nach Belieben und kennt historische Brüche. Doch der Sound muss immer bespielt sein. Zu Techno und Hip Hop kann auch in Trachten getanzt werden. Qawwali mag aktuell als Bedrohung des Fremden wahrgenommen werden, wer weiß schon wie sehr es in naher Zukunft dem Eigenen zugerechnet wird. Die Erzählung kann gegenwärtig als Bedrohung instrumentalisiert werden, doch das Palaver von Naturhaftem bei allzu Menschlichen unterliegt bekanntlich Trends und der Fortgang ist offen.
Die Feindbilder im Eigenen meinen nichts anderes als Volksschädlinge in anderen Zeiten. Sie sprechen fließend Englisch, geben sich dem Amüsement gängiger Konsumangebote hin, wohnen mehrheitlich in Metropolen und haben keine allzu großen Sorgen über die Runden zu kommen. In Ostdeutschland wird dieses Bild gerne durch die Etikettierung „Wessi“ ergänzt. Dem gegenüber steht der vorrangig Deutsch sprechende, sich traditioneller Feste hingebende, mehrheitlich in provinziellen Gegenden lebende und strebsame Typ. Bilder die es im Spektakel braucht um identitätsstiftend zu wirken und im Heiland der Volksgemeinschaft aufzugehen. Jawohl, die Konsequenz solchen Denkens ist die Volksgemeinschaft. Da hilft jede Abwehr nicht. Mittlerweile verpufft der Vorwurf des Nazis mit dem Hinweis auf Abscheu des Nationalsozialismus. Dabei gilt es die Strukturen zu begreifen. Gerade die Jahre vor der Machtergreifung der Nazis sollten analysiert und Folgen daraus gezogen werden. Die Rede vom Faschismus ist aktuell vollends entkernt. Nicht der ideologische Kitt interessiert, sondern die gestattete Meinungsfreiheit. Eine Theorie, so simpel und jederzeit einsetzbar wie die Extremismus Doktrin. Es wird nicht nach den gegebenen Umständen gefragt, auch nicht nach historischer Wahrheit. Wie sehr eine Vielzahl von Menschen am öffentlichen Gespräch nicht teilnehmen können, wird ebenso wenig hinterfragt wie der eigentliche Sinn des Dialogs. Was bringen um sich selbst kreisende Diskussionen, wo doch der allgemeine Bruch weitaus größeren Druck zum Handeln erzeugt? Es wäre eine Neuheit, wenn sich Herrschaft durch das bessere Argument überzeugen ließe. Die Geschichte zeitigt andere Zustände. Die Verweigerung zum Dialog ist kein Ausdruck der Schwäche, sondern entspringt der Erkenntnis zahnloser Kämpfe.
Besonders schäbig äußert sich das Murren der Volksgemeinschaft als Behauptung einer Elitenkritik. Doch was gehasst wird ist nicht die Abgabe von Selbstermächtigung an das Spiel der Politik, sondern ein bestimmter Kanon von Werten und Normen. Reale Ungleichheit interessiert nicht. Die autoritäre Revolte sehnt sich nach Führung, strenger Ordnung und hält selbstredend nichts von Meinungsfreiheit. Sie fordert letzteres ein, wenn ihr bis dato die Machtposition fehlt. Sie kehrt alles um, wenn ihr Handhabe gegeben wird. Die Hierarchien einer Gesellschaft werden verfestigt, sofern es dem Bild der angestrebten Gemeinschaft entspricht. Schlimmer noch als im Jetzt belässt man es nicht bei moralischer Propaganda ohne realen Auswirkungen, sondern formiert einen anderen Wertekanon. Weil es eben so ist, ist die Hinterfragung unterdrückt. Kritik wird als Verrat am Naturzustand betrachtet. Der Kampf gegen bestehende Ungleichheit, und sei sie noch so mager in ihrer Forderung, wird als Werk vaterlandsloser Gesellen zur Verdammnis der heiligen Scholle exkommuniziert. Mit Mut hat das Ganze nichts zu tun, sind die wahrhaft Unterdrückten doch vielmehr auf der anderen Seite der Barrikade. Ihre Attacken gelten Autoritäten, gleich welcher Herkunft. Ihre Solidarität gilt allen Kämpfenden, gleich demselben Interesse.
Es schickt sich an nicht mehr vom Überfall auf andere Länder zu schwadronieren. Souveränität ist das Wort der Stunde. Ein gewitzter Schachzug im ethnopluralistischen Kosmos, sieht man sich nämlich als die wirkliche Vielfalt im Kampf gegen Großmächte. Auch lassen sich somit linke Bekenntnisse kapern. Im Antiimperialismus wusste man sich an der Seite der Verdammten, wenngleich die revolutionäre Folklore vom nationalistischen Hintergrundrauschen begleitet wurde. Zur Ehrenrettung sei jedoch angemerkt, dass der vordergründige Bezug zumeist sozialer Natur war. Die Kritik sich an der zweiten Natur menschlicher Gattung orientierte und mit der Kalaschnikow eben auch ein Mindestmaß würdevollen Lebens für alle erkämpft wurde. Der Ethnopluralismus meint indes niemals alle. Er propagiert eine Vielfalt der Zwangskollektive. Was im alten Kolonialismus als Ausdruck nationaler Stärke betrachtet wird, ist Gegenstand der Kritik, wenn es im Einklang mit der Propaganda einer offenen Gesellschaft einhergeht. Dann spielt man sich als mutige Kämpfer gegen die Global Player auf, denen es um das einfache Volk geht. Im Sinne der Lohnabhängigen gelte es den Standort gegen Fremde zu verteidigen, da diese Löhne drücken würden. Sie spielen begierig die Klaviatur der Ethnisierung sozialer Konflikte. Die vollendete Lächerlichkeit meint diesen Akt als Kapitalismuskritik bezeichnen zu können. Eine Freude für die Herrschaft. Während weder am Thron gesägt noch solidarische Komplizenschaft organisiert wird, betreibt man ein Spiel zum Vergnügen der Besitzenden. Nicht an den Grundfesten der Eigentumsverhältnisse wird gerüttelt, vielmehr sehnt sich die autoritäre Revolte nach Identität einer Schicksalsgemeinschaft. Dafür braucht es Ausschluss. So wird das Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse zur Eigentlichkeit verklärt und der Fremde konstruiert. Die Projektionsfläche ist geschaffen, nun kann losgeschlagen werden. Heidenau, Freital oder Bautzen sind nur einige Orte, wo dies offensichtlich wurde. Anschließend wird wieder bei Amazon bestellt, die Waren bei Google gesucht und bei Facebook präsentiert. Und dabei kommt man sich nicht einmal jämmerlich vor.
Das kollektive Gedächtnis des Ostblocks kennt die Stilisierung weniger Halb-Götter im Gewand des Sozialismus. Die hohlen Phrasen von Arbeitermacht, Fortschritt und Gleichheit rief schon frühzeitig Krawall gegen die Regierung hervor. Mit Gewalt wurden diese über Jahrzehnte hinweg unterbunden. Eine letztlich staatskapitalistische Wirtschaftsweise machte wiederholt deutlich, wo der propagierte Bruch nicht stattfand und es somit zu keinen wesentlichen Veränderungen kam: die Vermittlung zwischenmenschlicher Beziehungen. Es braucht aber diese Erfahrung um glaubhaft, weil individuell spürbar, eine tatsächliche Alternative zu leben. Stattdessen war es eine offenkundige Lüge, wenn von volkseigenen Betrieben die Rede war. Wenn vom „Freien Deutschen Gewerkschaftsbund“ keine Veränderung am Arbeitsplatz zu erwarten war, weil von dessen Verquickung mit der Regierung jeder wusste. Wenn die Wahlen eine Show mit ausgemachtem Sieger waren. Wenn die Qualität von Kultur anhand der Machtblöcke gemessen wurde. Wenn beim Fußball der Sieger bereits fest stand, weil man um die Sympathie einzelner Parteigänger wusste. Die Partei hat immer Recht und Marx’ Lehre ist allmächtig, weil sie wahr ist. Es kann so einfach und falsch sein. Doch in jedem noch so großem Repressionsapparat finden sich unkontrollierbare Nischen. Sie wurden subkulturell gefüllt und fanden am Ende öffentlichen Raum. Es begann mit zaghaften Hunderten und wuchs an zu Zehntausenden. Bald schon war die Teilnahme keiner Gefahr mehr ausgesetzt und alle fühlten sich heldenhaft. Die größten Speichellecker der vergangenen Zeit wähnten sich schon immer in Opposition zum Unrechtsregime. Heilsversprechen wurden in der Mehrzahl unkommentiert angenommen. Der Prozess geschah ohne Tote, nur vereinzelt knüppelte die Polizei Protest nieder. Ein Mythos wurde geschaffen. Der Mythos einer „friedlichen Revolution“.
Das Dilemma setzt sich bis heute fort. Man vergisst die sattelfesten Jahre der SED-Regierung und anderswo, als jegliches Aufmucken mit Militär begegnet wurde. Tote wurden explizit in Kauf genommen. Das ging einige Jahrzehnte gut, doch irgendwann konnte selbst der propagierte Schein den Verfall nicht mehr kaschieren. Die alten Männer an der Spitze wussten um das Ende ihrer Zeit. Für unbetretene Pfade hielten die Erfahrungen des alten Regimes schon zu lange an. Man wollte einfach nur schnell einen Wechsel, wusste man doch um die gescheiterten Versuche hier und anderswo in den Jahrzehnten zuvor. Soweit verständlich, soweit tragisch. Nun aber die wirtschaftliche, und damit auch politische, Destabilisierung außen vor zu lassen, ist fatal. Der Handlungsdruck war gegeben, anders als davor. Der Frieden hatte also seinen Rahmen. Einen Rahmen, wie es ihn davor nicht gegeben hat und somit auch blutig niedergeschlagen wurde. Der Kult um die eigene Friedfertigkeit ist anmaßend, wenigstens aber selbstbezogen.
Begierig wird darauf verwiesen zwei Diktaturen hinter sich gelassen zu haben. Die Erfahrung der roten Diktatur befähigt sogleich zu wissen, wo das Experiment des Kommunismus notwendig hinführen muss. Man sei Experte darin Schein von Sein unterscheiden zu können. Komisch, wenn man sich dann doch jedes Mal mit demselben Heimatkitsch für dumm verkaufen lässt. Die Dauerbeschallung des Pathos ohne eigenes Zutun besänftigt das ohnmächtige Gemüt. An der Lebensrealität ändern tut sich freilich nichts. Hingegen wird das Märchen einer wehrhaften Mitte der Gesellschaft erzählt, welche sich gegen die Ränder zu verteidigen hätte. Jeder Versuch über das Bestehende hinaus zu weisen, wird als Akt des Extremismus der Repression ausgesetzt. Man sieht überall Chaos, Gewalt und drohenden Bürgerkrieg und verleugnet das brutale Strafbedürfnis bürgerlicher Gesellschaft. Nur wird es eben an repressive Instanzen externalisiert um sich selbst nicht die Hände dreckig zu machen. Mit „1,2,3 – danke Polizei“ wird dann dem Bürger in Uniform gedankt die Interessen des bürgerlichen Staates mit Gewalt durchzusetzen. Die Vermittlung eigener Interessen darf jedoch nur vom Staat vorgegeben werden. So hat halt jeder seine Meinung und es bleibt dabei. Konsequenzen daraus werden missachtet oder dürfen nicht folgen. Ideologisch sind immer die Anderen. Die schlimmsten Vorstellungen meinen dann mit den politischen Kategorien „rechts“ und „links“ nichts gemein zu haben. Man sei „vorn“ und vertraue auf den gesunden Menschenverstand. Die Ratio dieses viel beschworenen Verstandes kennt bekanntlich dutzende Abzweigungen und verweist eher auf Geschmack denn auf Reflexion. Es ist richtig, sich immerzu eine kritische Distanz, egal zu welchem Gegenstand, zu bewahren. Die Vermittlung besserer Zustände gänzlich der individuellen Wahrheit zu überlassen, geht allerdings vollkommen ins Leere.
Die Verachtung hiesiger Medien ist verständlich, sofern sie denn allgemeiner Kritik ist. Natürlich ist jede noch so „wertneutrale“ Berichterstattung von Interessen geprägt, wie Alles in den gegenwärtigen Verhältnissen. Die Alternative dann im Sammelsurium des Internets gemäß eigener Vorlieben zu finden, hat nichts mit Kritik zu tun. „Lügenpresse“ erschallt nur bei unliebsamer Berichterstattung. Es wird von Zensur geschwafelt, wenn die Kioske voll von alternativer Wahrheit sind. Wie viel Mist über autonome Praktiken ohne allgemeinen Aufschrei geschrieben wird, muss hier nicht aufgezählt werden. Alle Schreckensbilder, mit steten Hang zum Kuriosem, werden gefressen. Dem apokalyptischen Untergangsszenario der bürgerlichen Gesellschaft durch innere Chaoten, wird eifrig Munition geliefert. Für alle Welt sichtbar wurde es einmal mehr in Folge der öffentlichen Fahndung nach dem G20 in Hamburg. Einen vergleichbaren Aufwand in anderen Milieus gibt es nicht. Bis heute, fast zwei Jahren danach, finden immer noch Hausdurchsuchungen statt, werden Demonstrationen gegängelt, neue Gadgets der Bullen präsentiert und Gesetze zu erweiterten Befugnissen der allgemeinen Kontrolle im Parlament verabschiedet. Es ist bezeichnend, dass sich nach all den repressiven Erfahrungen der DDR die Freiheit in derlei staatlicher Sicherheit gesehen wird. Ist man sonst nie beschämt jeden noch so absurden Vergleich zur DDR oder gar zum Nationalsozialismus zu ziehen, werden hier keine Parallelen ausgemacht. Der Galgen für die „Volksverräter“ ist für andere bestimmt. Nämlich jene, die dem Spektakel grundsätzlich misstrauen und dafür gute Gründe haben. Sie werfen sich keinen Quacksalbern an den Hals und wissen um das verbrannte Terrain der Politik. Sie erkennen Visionen, wo andere Illusionen bemängeln. Doch baut die Illusion nicht auf Wissen oder Verstand auf, sondern auf haltlosen Pessimismus.
Es gibt immer Alternativen auf Situationen zu reagieren. Die schmerzvolle Tragik so vieler Biografien ist nachvollziehbar. Jahrelange Erfahrung wurde nicht anerkannt oder belächelt. Es musste umgeschult werden um danach trotzdem weniger zu verdienen als wenige Kilometer weiter westlich. Jede Sphäre wurde umgepolt, auch wenn nichts dafür sprach. Die Städte und Provinzen wurden leerer. Eine ganze Generation versank in Hoffnungslosigkeit und Langeweile. Das ist alles zu verstehen. Nun könnte man dem Dilemma mit solidarischer Komplizenschaft begegnen und die Freiheit des Einzelnen als Voraussetzung für die Freiheit aller erkämpfen. Oder man bedient sich dem Prinzip des Radfahrens: nach unten treten und nach oben buckeln um vorwärts zu kommen. Letzteres kennzeichnet die Feigheit vor der Herrschaft unter dem Deckmantel des aufrechten Gangs. Was ist da von direkter Demokratie zu halten? Die ermöglichte Teilhabe aller an allen Lebensbereichen? Mitnichten! Die Referenden gerieren sich als Volkszorn, als legalen Hass auf alles Unliebsame. In den Betrieben, am Eigentum oder gar an der herrschenden Ordnung wird nicht gerüttelt. Die heiligen Stützpfeiler der noch heiligeren Nation gilt es nicht anzutasten. Folgerichtig äußert sich die Sozialpolitik einer Partei wie der AfD. Die untere Gesellschaft sollte beim Kampf um Brotkrümel lieber den „Fremden“ auf die Fresse hauen als einer Welt der Ausbeutung.
Es gibt in Sachsen allerdings auch gegenläufige Trends. Leipzig wird seit kurzem als Oase inmitten einer trostlosen Wüste von Alltagsrassismus und autoritären Begierden betrachtet. Mancher behauptet, es hätte alles mit dem Medienrummel um „Hypezig“ begonnen. Jedenfalls wurde es vor ein paar Jahren zur nächsten hippen Großstadt auserkoren. Es verspricht genug hedonistische Anlaufstellen, günstigen Wohnraum, liberales Klima, viele Bioläden und kokettiert dennoch mit dem Ruf des Kaputten. Leipzig in Trümmern, wie es einstmals eine lokale Punkband beschrieb. Im seit Jahrzehnten CDU-regierten Sachsen gibt es hier parteipolitisch ernsthaft Kontra. Man hat sich in manchen Straßenzügen eine gewisse Hegemonie erkämpft und durch ständigen Druck Freiräume geschaffen. Das war zeitweilig wirklich imponierend und von Entschlossenheit geprägt, ist aber letztlich einer Belanglosigkeit zum Opfer gefallen, wie es sie in vielen Großstädten gibt. Die jeweiligen Nischen linker Milieus haben ihre Räume, die Demonstrationen ähneln der generellen Folklore üblichen Typs, die Diskussionen haben vorrangig Distinktion im Sinn und Kreative langweilen mit Performances. Wohlwollendes Treiben für den Stadtrat. Man bewirbt sich als weltoffenen Standort, obwohl der Grundstein hierfür immer noch offenen Hass der Politik ausgesetzt ist. Die Rede ist von den wenigen, aber entschlossenen Leuten die vor dem Hype den konfrontativen Weg einschlugen. Örtlichen Nazis wurden nicht mit Bündnisfähigkeit begegnet, sondern Grenzen eigenen Handelns aufgezeigt. Der öffentliche Raum wurde sich genommen und nicht beständig um des Polizeipräsidenten Gnaden gebeten. Die Stadt gewann an Anziehungskraft, gerade weil es diese radikalen Kräfte gab. Das Sodom und Gomorrha vieler Untertanen triumphierte eben im Lichte der gescholtenen Dystopie. In Anbetracht der überschaubaren Größe war die Solidarität untereinander ungemein größer und der Verlass auf andere bei eigener Herausnahme nicht gegeben. Heute bleibt es wenigen Events überlassen ernsthaft große Zahlen auf die Straße zu bringen. Und diese sind mehr an Inszenierung als an Konflikt interessiert. Die kollektive Aktion wird den letzten Hoffnungsvollen genommen, wenn Banalitäten wie Einhaken oder geschlossene Blöcke fast vollständig verschwunden sind. Sie können sich der Solidarität nicht sicher sein und sind Teil eines staatlich gewünschten Happenings.
Das Überleben hat sich verschlimmert. Es geschehen die üblichen Verschiebungen durch Gentrifizierung. Die Mieten werden teurer und das Nebeneinander beliebiger. Mir geht es nicht um die Rettung des diskreten Charme bestimmter Viertel. Auch liegt mir Abscheu auf Zugezogene fern, genau so wenig bezüglich Dresscode oder Habitus. Wer möchte nicht die Einöde gegen Straßen eintauschen, die Abwechslung und Spaß versprechen? Es gibt gute Gründe dies zu tun. Nur äußert sich tatsächliche Freude nicht im Erleben von Selbstwirksamkeit anstatt passiven Konsums? Was bringen dutzende Soliparties, wenn die Herrschaft so wenig Bedrängnis erfährt? Wozu ritualisierte Diskussionen, wenn es beim abstrakten Gedanken bleibt? Die Trauer liegt vielmehr im ungenutztem Potenzial begründet. Es mangelt nicht an Körpern, es mangelt am Konflikt. Wirklichen Konflikt. Keine metaphysischen Scheindebatten. Kritik nicht als Denksport begreifen, sondern wirklichen Eingriff in die Situation. Wer es mit geschichtlicher Erfahrung ernst meint, wird nicht umhin kommen zu begreifen, dass in Zeiten erzeugter Spannung die größte Freiheit und die größte Rezeption schwerer Theorie vorhanden waren. In solchen Abschnitten ist Theorie als Anleitung zu Befreiung lesbar, nicht als Handreichung altklugen Kulturpessimismus. Erkämpfte Freiräume sollten als Stützpunkte begriffen werden, nicht als Freiräume alternativen Konsums. Nicht einmal als Rückzugsräume können diese noch genutzt werden. Schließlich drohe den Projekten Repression und könnte somit die banalen alltäglichen Abläufen unterbrechen. Dem Lifestyle würde ein Ort der Inszenierung fehlen. Es ist ein Trauerspiel. Die Wette wird nicht eingelöst, sie wird gar nicht erst gemacht.
Es passt daher ganz gut, wenn sich hierzulande die beste autonome Organisation im Lifestyle des Ultrá findet. Man kennt diese Verschiebung aus Italien. Eine einzigartige Bewegung jenseits von Partei und Gewerkschaft fand sich unter dem Banner der Autonomia im permanenten Konflikt mit der Staatsmacht. Viele Formen zukünftigen Zusammenlebens und des Kampfes wurden hier gefunden und leben bis heute fort. Offener Staatsterrorismus und eine Welle der Repression beendeten diesen Zyklus sozialen Kriegs. Der bewaffnete Kampf war der verzweifelte Versuch darauf zu reagieren, aber in seiner avantgardistischen Form zum Scheitern verurteilt. Wer weiterhin im legalen Raum der Langeweile zu entfliehen suchte, schuf ein Milieu in der Sphäre des Fußballs. Gesänge, Trommeln und die allgemeine Präsentation als Macht fanden in einem anderen Kontext ihr Weiterleben. Nur waren die Spielregeln natürlich klarer und der gesetzte Rahmen schmal. Aus der Lust am Erlebnis wurden absurde Codes und die beeindruckende Organisation hatte banale Ziele. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Die Verquickung mit politischen Inhalten findet sich auch in Deutschland, was wünschenswert ist. Allerdings ist die komplette Aufhebung darin eine Bankrotterklärung. Ultrá bleibt notwendig immer begrenzt. Das nun viele Aktive ihr Erleben in diesem engem Spiel der Inszenierung entdecken anstatt auf anderen Terrain zu agieren, verwundert nicht und ist trotzdem bedauerlich. Vielleicht werden sie irgendwann eine relevante Kraft darstellen, wie es in Auseinandersetzungen in der Türkei oder in Ägypten bereits zu beobachten war. Doch dazu müsste die Situation erst einmal geschaffen werden. Bis dahin werden sie mit Fahnen malen und Singen beschäftigt sein. Das ist in Leipzig nicht anders als anderswo in Deutschland.