Broschüre erschienen
Die Helden sind Leise von Ivan Tuw
100 Jahre Novemberrevolution, 50 Jahre antiautoritäre Revolte und 30 Jahre Zerfall des Ostblocks. Es gibt einiges zu feiern, zu bedauern und zu reflektieren. Letzteres insbesondere in Ostdeutschland. Mit selbigen Parolen vergangener Jahrzehnte wird ein faschistisches Programm unterstützt und im Parlament scheinen jene Untertanen stärkste Kraft zu werden. Es geht auffällig alt zu. Viel Aufmerksamkeit all jenen, die einer Post-DDR Generation fehlt. Hier sammelt sich noch am ehesten Mut und Hoffnung, wenngleich die staatlichen Schikanen ungleich höher sind. Die (radikale) Linke verliert sich dabei in bequemer Distinktion und Moral. Der Blick nach Westen könnte Neues ermöglichen. Frankreich ist seit wenigen Jahren Kristallisationspunkt sozialer Kämpfe auf der Höhe der Zeit. Man agiert radikal und abseits des Milieus. Stets bemüht, die Kritik im Handgemenge Wirklichkeit werden zu lassen und der Trostlosigkeit würdevoll zu trotzen. – Klappentext

VORGEPLÄNKEL
Die Voraussetzungen sind denkbar schlecht. 30 Jahre nach den Umwälzungen in Deutschland stehen Landtagswahlen an und eine Partei mit offen faschistischer Propaganda, gerade in Ostdeutschland, kann sich große Hoffnung auf eine Regierungsbeteiligung machen. Zumindest die Aussicht auf eine zahlenmäßig starke Opposition gilt als sicher. Was einst mit Möglichkeiten einer Alternative zu real existierendem Sozialismus und Kapitalismus begann, wurde schnell vom Versprechen auf Genuss und Alltag auf altbekannten Pfaden eingeholt. Woanders ist diese Transformation als integriertes Spektakel bezeichnet wurden und liberale Ideologen verkündeten das Ende der Geschichte. Der kurze politische Ausnahmezustand im bürokratischen Wirrwarr der ersten Jahre wies Chancen und Gefahren auf – wie immer, wo der Staat Terrain verliert und sich konstituiert oder zum Gegenschlag ausholt. Institutionen, zu denen auch besetzte Häuser gehören, konnten sich etablieren. Die alltägliche Angst vor dem faschistischen Mob ebenso. Seitdem ist bekanntlich viel geschehen und vom allgemeinen Aufbruch ist nichts zu spüren. Politik bleibt ein genuin parlamentarisches Geplänkel und kreative Ideen zur Umwälzung bleiben weitestgehend aus. Üble Aussichten also, sowohl konkret als auch abstrakt.
Wie also noch an Utopie festhalten? Dystopie hat den Vorstellungen einer befreiten Gesellschaft längst den Rang abgelaufen. Dazu reicht ein Blick in die Endzeit-Szenarien populärer Filme oder Bücher im Science Fiction Format. Und gerade in Ostdeutschland wurde die Dystopie in den Biografien so vieler Menschen spürbar, wenngleich es ohne Reflexion des eigenen und zukünftigen Handelns einhergeht. Doch gerade die braucht es immer und darum soll es nun zuvörderst gehen.

I. HEROISCHE JAMMERLAPPEN
Geboren 1989, bin ich eines dieser so genannten „Wendekinder“. Die DDR kenne ich nur noch vom Stempel einiger Papiere und von den Erzählungen aus Familie und Umfeld. Nonkonform sei man gewesen, jeder auf seine Weise. Mal im christlichen Umfeld, mal innerhalb der Partei oder mal im Alltag beim heimlichen Hören westdeutscher Radiosender. So richtig mitgemacht hat niemand. Wo jedoch alle mitgemacht haben, sind die Demonstrationen, die zum Ende der DDR führten. Offenkundig wird jedoch selten die Kehrtwende, oder wenigstens die Dynamik, innerhalb der Proteste ausgesprochen. Wie schnell die Lage eine Schieflage wurde und der zunehmende Nationalstolz die gesamte Stimmung vereinnahmte, findet sich allenfalls in Studien über diese Zeit. Ein nüchterner Blick also auf ein Geschehen, was immerzu notwendig ist um sich nicht als Gralshüter der Wahrheit aufzuspielen und die eigene Wahrnehmung als letzte Instanz zu begreifen.
Die Tristesse der DDR scheint somit nur durch Erzählungen und eigener Analyse zu mir durch. Den Smog habe ich nie geatmet, den Putz der Häuser nie abfallen sehen, das Verbot bestimmter Musik nie erlebt und die allgemeine Repression nie erfahren. In meiner Erinnerung existiert nur eine aufgeräumte DDR mit sanierten Gegenden, aber schwindenden Einwohnern. Diversität sucht man hier vergebens. Viel eher sind es Kameradschaften und anderes Gesocks, die in der Provinz die Hegemonie für sich beanspruchen und das Leben für antiautoritäre Jugendliche zur Hölle machen. Wo in westdeutschen Bundesländern antifaschistische Intervention als ein Kampf neben vielen geführt wird, kommt man auf dem Gebiet der ehemaligen DDR um einen alleinigen Fokus darauf nicht umhin. Zu stark ist die Dominanz rechter Strukturen und der Hass besorgter Bürger. Es macht deutlich, wie staatlicher Antifaschismus bloße Fassade ohne selbständiges Handeln ist. All die Kampfesreden sind umsonst, wenn sie als staatliche Propaganda wahrgenommen werden. Faschismus wird zu nonkonformer Coolness umgedeutet und das Spiel mit verbotenen Symbolen als rebellisch interpretiert. Das war vor dem Umbruch so, und auch danach. Doch ist neben diesen offensichtlichen Nazis der Hang zu einer Theorie des Extremismus sehr viel stärker vorhanden. Man glaubt, durch die geschichtliche Erfahrung des Nationalsozialismus und des Staatssozialismus nun besonders geläutert auf soziale Konflikte blicken zu können. Rückendeckung gibt es von vergleichsweise vielen Spezialisten an Instituten in Sachsen. Gewalt sei immer ganz schlimm und man habe gesehen wohin radikale Gedanken führen. Die Unterschiede sind egal, geht es doch einzig um die Anwendung von Gewalt und der angeblichen Missbilligung von Meinungsfreiheit. So tönt es auf dutzenden Bürgerdialogen, wo sich der Frust durch Meckern äußert und man es dabei belässt. Keine Kritik an Strukturen des Kapitalismus und Diskussion um mögliche Aufhebung, sondern Stillstand im Jetzt und Eingeständnis des verächtlichen Wesens. Das heilige Eigentum darf nicht angetastet werden, sonst droht Enteignung in bolschewistischer Manier. Und die habe man schließlich durch volkseigene Betriebe selbst erlebt. Obwohl natürlich nicht alles schlecht war. Die staatliche Versorgung einiger Grundbedürfnisse findet man immer noch prima. Auch die autoritäre Vorgabe der Gestaltung des eigenen Lebens trifft nicht ausschließlich auf Ablehnung. Der Untertanengeist liefert schließlich stets ein geordnetes Leben mit klaren Hierarchien. Die Ideologie ist, was stört und die habe man nun endlich überwunden. Denn Ideologie gibt es nie in demokratischer Spielart. Ach, könnte man doch nur mit dem Bauch laufen.
Offenkundig wurde dies einmal mehr in den vergangenen vier Jahren. Es begann mit der Ankunft geflüchteter Menschen und eines kurzen Sommers der Solidarität. Direkte Aktionen fanden auf unterschiedlichen Wegen statt und zeugten von der Kraft selbstorganisierter Projekte. Es wurde geschleust, gekämpft, gebaut und geholfen. Zusammenhänge gründeten sich. Freundschaften wurden geschlossen und Beziehungen geschaffen. Das Prinzip gegenseitiger Hilfe wurde sichtbar. Die Euphorie währte jedoch nur kurz. Der staatliche Notstand ersetzte das Bild von unabhängiger Solidarität. Turnhallen konnten nicht genutzt werden, Krankheiten in Massenunterkünften machten die Runde und die zaghafte Integration in den Alltag wurde von Schauermärchen besorgter Bürger begleitet. Wo sonst keine großes Interesse an gerechter Verteilung besteht und jeder Lüge des Parlaments bereitwillig geglaubt wird, wurden jetzt Notunterkünfte penibel begutachtet um eine Versorgung nur für das Nötigste zu gewährleisten. Selten wurde so genau auf den Gebrauch von Steuern geschaut. Der öffentliche Diskurs wandelte sich. Nun ging die alte Leier von bürgerkriegsähnlichen Zuständen, fehlenden Geldern und starren Naturgesetzen wieder los. Vaterlandsliebe und die Verteidigung eines Abendlandes wurden zum Gebot der Stunde ernannt. Die erhoffte Skepsis gegen den Staat kannte nur seine autoritäre Variante. Bürgerwehren bildeten sich und gingen auf die Jagd des äußerlich Fremden. Unterkünfte wurden angegriffen oder bereits vor der Eröffnung abgebrannt. Jeder wusste eine erlebte Gruselgeschichte mit Geflüchteten zu erzählen und damit alle zu meinen. Alltägliche Blicke, Anfeindungen und Angriffe interessierten nicht und waren nur eine Randnotiz in der Presse wert. Umgedreht versetzte jede Meldung über Attacken von Geflüchteten die Massen in instrumentelle Trauer. Krokodilstränen wurden vergossen und auf die Gefühle der betroffenen Familien geschissen um letztlich einen Grund zum Angriff zu haben. Und bei alledem wurde ein Slogan aus der Mottenkiste hervorgeholt um sich als Volkswille zu gerieren – „Wir sind das Volk“.
Die Verknüpfung zum Umbruch 1989/90 war also geschaffen. Missbraucht wurde da nichts, sondern viel eher unter anderen Vorzeichen wieder angenommen. Denn Deutschtümelei wurde auch 30 Jahre zuvor nicht vehement bekämpft. Die Reihen, die für offene Grenzen und ein Land mit freien Menschen eintraten, lichteten sich und Nazikader aus Westdeutschland verstanden den Resonanzraum zu nutzen. Die Gegebenheiten waren aber eben da und man tut der Konsequenz aus derlei Handeln keinen Gefallen mit falschem Mitleid für die Leute zu sprechen. Es gibt die Helden jener Zeit, keine Frage. Sie würden ihr Scheitern eingestehen. Sie würden stolz auf die Prozesse hin zu einer befreiteren Gesellschaft schauen um schließlich festzustellen, dass der Gang der Geschichte diesmal nicht auf ihrer Seite war. Das Konsum und private Freiheiten nur in Gestalt repräsentativer Demokratie zu bekommen waren, weil es offensichtlich ein Gros der Leute bevorzugte. Die wirkliche Schweinerei daran ist der damit geschaffene Mythos. Die Verhältnisse wurden gekippt, ehemalige Parteikader verhaftet und somit Platz für Selbstbeweihräucherung geschaffen. Alle waren Helden, alle waren Volk. Man kennt das aus jedem gefallenen Regime. Von jeder Position aus kämpfte man für das Volk. Reale Herrschaftsverhältnisse bleiben da außen vor.
Wie bereits erwähnt, resultieren meine Schlussfolgerungen aus Gesprächen und Lektüre. Physisch anwesend war ich nicht. Und hier wäre für viele ältere Generationen der Dialog mit mir bereits beendet. Man muss teilgenommen haben um es zu verstehen. Fürwahr, man solle niemals den Wert von subjektiver Erfahrung herunterspielen. Gerade diese braucht es um utopische Welten Wirklichkeit werden zu lassen. Doch keineswegs ausschließlich. Erfahrung kann bekanntlich trügerisch sein. Es braucht eben immerzu das Wissen zwischen zwei Zeiten um eine Konstellation herzustellen. Der vorbehaltlose oder gar interessierte Umgang damit fehlt im Dissens mit besorgten Bürgern. Ich war nicht anwesend, ich darf mir kein Urteil erlauben. Fehlendes Geschichtswissen wird mit der vollends aussichtslosen Bequemlichkeit konfrontiert, ein Herz, aber keinen Verstand zu besitzen. Eine überaus bornierte Situation also. Tatsächlich sind es zumeist junge Menschen, die in Deutschland demonstrieren bis randalieren. Das hängt jedoch wenig mit dem Hintergrund des Handelns als viel mehr mit einer öffentlichen Meinung zusammen. Anderswo schämt man sich bis ins hohe Alter nicht eigene Interessen auch militant zu erreichen. Man weiß um die Techniken des Staates im Sinne sozialen Friedens. Unausweichliche Antagonismen werden nicht am runden Tisch ausgehandelt und benötigen, so bitter die Einsicht auch sein mag, die direkte Konfrontation. Die deutsche Geschichte kennt allerdings nur wenige Momente solcher Austragung sozialer Kämpfe. Sie sind verschüttet, werden hie und da ausgegraben, bleiben als Konsequenz bislang ohne Realität. Subversion wird bei allzu großer Gefahr integriert oder ist bereits dem Polizeiknüppel zum Opfer gefallen. Streiks werden vollkommen an Sekretäre delegiert und die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft zeugt mehr von sozialer Absicherung als vom Willen eigenes Geschick in die Hand zu nehmen. Es gehört einfach zum guten Ton ohne wirkliche Reibung. Die Perfidie ist ein Meister aus Deutschland.
Die Abwesenheit eines ähnlichen Ereignisses wie ’68 in Ostdeutschland verhärtet die Situation für antiautoritäres Aufbegehren. Wurden im Zuge sozialer Bewegungen Projekte der Selbstorganisation geschaffen und auch weiterhin getragen, fehlte eine vergleichbare Dynamik in der DDR. Rebellion artikulierte sich in Stadien, Kirchenräumen oder Kellern herunter-gekommener Häuser. Der Konflikt mit dem Staat blieb in vielerlei Hinsicht privatisiert und kannte nur selten die öffentliche Sichtbarkeit. Es gab diese Aufbrüche – erinnert sei an den Aufstand 1953 – aber sie verschwanden. Wenn sich heute autonome Praxen gerade bei jungen Menschen hoher Beliebtheit erfreuen, während ältere Generationen fehlen, dann hat das auch mit eben jener Abwesenheit zu tun. Dann hat das aber ebenso mit einer Befriedung einstiger Helden zu tun, die ihren Humanismus gänzlich dem Staat überlassen und ihre Empörung sich im kritischen Konsum vollends verbildlicht. Dies zumindest, kennzeichnet ein linksliberales Milieu mit moralischem Überbau ohne Interesse an sozialen Grundlagen bzw. der Überwindung von Ausbeutung durch radikale Umgestaltung. Auf die Jugend mit Tatendrang wird zwar nicht gehässig geschaut, aber es wird auch nur vom Rand aus beobachtet. Und wehe, es wirft jemand einen Stein oder agiert unkontrolliert! So etwas verbietet sich in einer bunten Republik vieler runder Tische mit vielen zirkulierenden Gesprächen.
Eine weitere Spielart des Liberalismus kommt ohne Moral aus. Hörig werden alle privaten Freiheiten zum Wohlergehen der politischen Agenda aufgegeben und Diskurs als bloßer Schauplatz unterschiedlicher Meinungen wahrgenommen. Zu Tiraden gegen Menschengruppen fällt nichts ein, außer der Verweis auf Meinungsfreiheit. Sie wissen um das Spiel lähmender Debatten als Technik zur Befriedung vorhandener Antagonismen. Liberal versteht sich das Milieu nur noch in Bezug auf Privatwirtschaft und Abbau bürokratischer Hürden zur Sicherung weiterer Ungleichheit. Von diesen Leuten ist nichts zu erwarten.
Der Schmutz der Straße bleibt den Jungen überlassen. Sie dürfen sich dann vom autoritären Subjekt als „Schreikinder“ beschimpfen lassen, welche noch keine Ahnung von der Welt hätten und erst einmal arbeiten gehen sollen. Sie werden belächelt und nicht ernst genommen. Sie bekommen als erste und am schlimmsten von den Bullen auf die Fresse, weil diese meinen, Gemeinschaftskunde mittels Tonfa einprügeln zu müssen und das Alter bisweilen ein Privileg vor Gewalterfahrung ist. Klar, die Zeit ist da und die Träume noch nicht begraben. Naivität ist die Ausrede jener Leute, die die Auseinandersetzung mit Ideen scheuen und im Vertrauten verharren. Argumente folgen selten, es genügt der Verweis auf das Alter und den damit verbundenen Erfahrungen. Das ist logisch, denn es würde die tatsächliche Naivität zum Vorschein kommen. Mythos und irrationale Märchen beherrschen das Denken. Wieso, weshalb und warum Vaterlandsliebe dem eigenem Glück geopfert werden müsse, bleibt unbeantwortet. Die Galionsfiguren der autoritären Revolte wissen sich auch nicht anders zu helfen als über „Zaubertränke“ zu fabulieren um die Eigentlichkeit deutschen Wesens zu begründen. Irgendwie soll es da etwas Eigenes geben, was nur durch Feindbilder phantasiert wird. Bricht ein Feindbild zusammen folgt das nächste um dem Eigenen abermals eine Grundlage zu schaffen. Mitunter benötigt es Projektionen um eigene Gelüste durch Abwehr zu unterdrücken. Aller Theorie zum Trotz wird wahrlich Menschen Gemachtes zu unabänderlichen Naturgesetzen erkoren. Dabei kommt man sich auch noch besonders keck und nonkonform vor. Vokabeln werden verdreht und Starres als vielfältig propagiert. Die große Völkerschau meint von Kultur zu sprechen, weil Rasse noch einen zu großem Tabubruch darstellt. Das ist amüsant anzusehen, wenn sich gerade im kulturellen Bereich grenzüberschreitender Schnittstellen und popkultureller Ergüsse in ihrer Beliebigkeit bedient wird. Das Besondere des Eigenen wechselt nach Belieben und kennt historische Brüche. Doch der Sound muss immer bespielt sein. Zu Techno und Hip Hop kann auch in Trachten getanzt werden. Qawwali mag aktuell als Bedrohung des Fremden wahrgenommen werden, wer weiß schon wie sehr es in naher Zukunft dem Eigenen zugerechnet wird. Die Erzählung kann gegenwärtig als Bedrohung instrumentalisiert werden, doch das Palaver von Naturhaftem bei allzu Menschlichen unterliegt bekanntlich Trends und der Fortgang ist offen.
Die Feindbilder im Eigenen meinen nichts anderes als Volksschädlinge in anderen Zeiten. Sie sprechen fließend Englisch, geben sich dem Amüsement gängiger Konsumangebote hin, wohnen mehrheitlich in Metropolen und haben keine allzu großen Sorgen über die Runden zu kommen. In Ostdeutschland wird dieses Bild gerne durch die Etikettierung „Wessi“ ergänzt. Dem gegenüber steht der vorrangig Deutsch sprechende, sich traditioneller Feste hingebende, mehrheitlich in provinziellen Gegenden lebende und strebsame Typ. Bilder die es im Spektakel braucht um identitätsstiftend zu wirken und im Heiland der Volksgemeinschaft aufzugehen. Jawohl, die Konsequenz solchen Denkens ist die Volksgemeinschaft. Da hilft jede Abwehr nicht. Mittlerweile verpufft der Vorwurf des Nazis mit dem Hinweis auf Abscheu des Nationalsozialismus. Dabei gilt es die Strukturen zu begreifen. Gerade die Jahre vor der Machtergreifung der Nazis sollten analysiert und Folgen daraus gezogen werden. Die Rede vom Faschismus ist aktuell vollends entkernt. Nicht der ideologische Kitt interessiert, sondern die gestattete Meinungsfreiheit. Eine Theorie, so simpel und jederzeit einsetzbar wie die Extremismus Doktrin. Es wird nicht nach den gegebenen Umständen gefragt, auch nicht nach historischer Wahrheit. Wie sehr eine Vielzahl von Menschen am öffentlichen Gespräch nicht teilnehmen können, wird ebenso wenig hinterfragt wie der eigentliche Sinn des Dialogs. Was bringen um sich selbst kreisende Diskussionen, wo doch der allgemeine Bruch weitaus größeren Druck zum Handeln erzeugt? Es wäre eine Neuheit, wenn sich Herrschaft durch das bessere Argument überzeugen ließe. Die Geschichte zeitigt andere Zustände. Die Verweigerung zum Dialog ist kein Ausdruck der Schwäche, sondern entspringt der Erkenntnis zahnloser Kämpfe.
Besonders schäbig äußert sich das Murren der Volksgemeinschaft als Behauptung einer Elitenkritik. Doch was gehasst wird ist nicht die Abgabe von Selbstermächtigung an das Spiel der Politik, sondern ein bestimmter Kanon von Werten und Normen. Reale Ungleichheit interessiert nicht. Die autoritäre Revolte sehnt sich nach Führung, strenger Ordnung und hält selbstredend nichts von Meinungsfreiheit. Sie fordert letzteres ein, wenn ihr bis dato die Machtposition fehlt. Sie kehrt alles um, wenn ihr Handhabe gegeben wird. Die Hierarchien einer Gesellschaft werden verfestigt, sofern es dem Bild der angestrebten Gemeinschaft entspricht. Schlimmer noch als im Jetzt belässt man es nicht bei moralischer Propaganda ohne realen Auswirkungen, sondern formiert einen anderen Wertekanon. Weil es eben so ist, ist die Hinterfragung unterdrückt. Kritik wird als Verrat am Naturzustand betrachtet. Der Kampf gegen bestehende Ungleichheit, und sei sie noch so mager in ihrer Forderung, wird als Werk vaterlandsloser Gesellen zur Verdammnis der heiligen Scholle exkommuniziert. Mit Mut hat das Ganze nichts zu tun, sind die wahrhaft Unterdrückten doch vielmehr auf der anderen Seite der Barrikade. Ihre Attacken gelten Autoritäten, gleich welcher Herkunft. Ihre Solidarität gilt allen Kämpfenden, gleich demselben Interesse.
Es schickt sich an nicht mehr vom Überfall auf andere Länder zu schwadronieren. Souveränität ist das Wort der Stunde. Ein gewitzter Schachzug im ethnopluralistischen Kosmos, sieht man sich nämlich als die wirkliche Vielfalt im Kampf gegen Großmächte. Auch lassen sich somit linke Bekenntnisse kapern. Im Antiimperialismus wusste man sich an der Seite der Verdammten, wenngleich die revolutionäre Folklore vom nationalistischen Hintergrundrauschen begleitet wurde. Zur Ehrenrettung sei jedoch angemerkt, dass der vordergründige Bezug zumeist sozialer Natur war. Die Kritik sich an der zweiten Natur menschlicher Gattung orientierte und mit der Kalaschnikow eben auch ein Mindestmaß würdevollen Lebens für alle erkämpft wurde. Der Ethnopluralismus meint indes niemals alle. Er propagiert eine Vielfalt der Zwangskollektive. Was im alten Kolonialismus als Ausdruck nationaler Stärke betrachtet wird, ist Gegenstand der Kritik, wenn es im Einklang mit der Propaganda einer offenen Gesellschaft einhergeht. Dann spielt man sich als mutige Kämpfer gegen die Global Player auf, denen es um das einfache Volk geht. Im Sinne der Lohnabhängigen gelte es den Standort gegen Fremde zu verteidigen, da diese Löhne drücken würden. Sie spielen begierig die Klaviatur der Ethnisierung sozialer Konflikte. Die vollendete Lächerlichkeit meint diesen Akt als Kapitalismuskritik bezeichnen zu können. Eine Freude für die Herrschaft. Während weder am Thron gesägt noch solidarische Komplizenschaft organisiert wird, betreibt man ein Spiel zum Vergnügen der Besitzenden. Nicht an den Grundfesten der Eigentumsverhältnisse wird gerüttelt, vielmehr sehnt sich die autoritäre Revolte nach Identität einer Schicksalsgemeinschaft. Dafür braucht es Ausschluss. So wird das Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse zur Eigentlichkeit verklärt und der Fremde konstruiert. Die Projektionsfläche ist geschaffen, nun kann losgeschlagen werden. Heidenau, Freital oder Bautzen sind nur einige Orte, wo dies offensichtlich wurde. Anschließend wird wieder bei Amazon bestellt, die Waren bei Google gesucht und bei Facebook präsentiert. Und dabei kommt man sich nicht einmal jämmerlich vor.
Das kollektive Gedächtnis des Ostblocks kennt die Stilisierung weniger Halb-Götter im Gewand des Sozialismus. Die hohlen Phrasen von Arbeitermacht, Fortschritt und Gleichheit rief schon frühzeitig Krawall gegen die Regierung hervor. Mit Gewalt wurden diese über Jahrzehnte hinweg unterbunden. Eine letztlich staatskapitalistische Wirtschaftsweise machte wiederholt deutlich, wo der propagierte Bruch nicht stattfand und es somit zu keinen wesentlichen Veränderungen kam: die Vermittlung zwischenmenschlicher Beziehungen. Es braucht aber diese Erfahrung um glaubhaft, weil individuell spürbar, eine tatsächliche Alternative zu leben. Stattdessen war es eine offenkundige Lüge, wenn von volkseigenen Betrieben die Rede war. Wenn vom „Freien Deutschen Gewerkschaftsbund“ keine Veränderung am Arbeitsplatz zu erwarten war, weil von dessen Verquickung mit der Regierung jeder wusste. Wenn die Wahlen eine Show mit ausgemachtem Sieger waren. Wenn die Qualität von Kultur anhand der Machtblöcke gemessen wurde. Wenn beim Fußball der Sieger bereits fest stand, weil man um die Sympathie einzelner Parteigänger wusste. Die Partei hat immer Recht und Marx’ Lehre ist allmächtig, weil sie wahr ist. Es kann so einfach und falsch sein. Doch in jedem noch so großem Repressionsapparat finden sich unkontrollierbare Nischen. Sie wurden subkulturell gefüllt und fanden am Ende öffentlichen Raum. Es begann mit zaghaften Hunderten und wuchs an zu Zehntausenden. Bald schon war die Teilnahme keiner Gefahr mehr ausgesetzt und alle fühlten sich heldenhaft. Die größten Speichellecker der vergangenen Zeit wähnten sich schon immer in Opposition zum Unrechtsregime. Heilsversprechen wurden in der Mehrzahl unkommentiert angenommen. Der Prozess geschah ohne Tote, nur vereinzelt knüppelte die Polizei Protest nieder. Ein Mythos wurde geschaffen. Der Mythos einer „friedlichen Revolution“.
Das Dilemma setzt sich bis heute fort. Man vergisst die sattelfesten Jahre der SED-Regierung und anderswo, als jegliches Aufmucken mit Militär begegnet wurde. Tote wurden explizit in Kauf genommen. Das ging einige Jahrzehnte gut, doch irgendwann konnte selbst der propagierte Schein den Verfall nicht mehr kaschieren. Die alten Männer an der Spitze wussten um das Ende ihrer Zeit. Für unbetretene Pfade hielten die Erfahrungen des alten Regimes schon zu lange an. Man wollte einfach nur schnell einen Wechsel, wusste man doch um die gescheiterten Versuche hier und anderswo in den Jahrzehnten zuvor. Soweit verständlich, soweit tragisch. Nun aber die wirtschaftliche, und damit auch politische, Destabilisierung außen vor zu lassen, ist fatal. Der Handlungsdruck war gegeben, anders als davor. Der Frieden hatte also seinen Rahmen. Einen Rahmen, wie es ihn davor nicht gegeben hat und somit auch blutig niedergeschlagen wurde. Der Kult um die eigene Friedfertigkeit ist anmaßend, wenigstens aber selbstbezogen.
Begierig wird darauf verwiesen zwei Diktaturen hinter sich gelassen zu haben. Die Erfahrung der roten Diktatur befähigt sogleich zu wissen, wo das Experiment des Kommunismus notwendig hinführen muss. Man sei Experte darin Schein von Sein unterscheiden zu können. Komisch, wenn man sich dann doch jedes Mal mit demselben Heimatkitsch für dumm verkaufen lässt. Die Dauerbeschallung des Pathos ohne eigenes Zutun besänftigt das ohnmächtige Gemüt. An der Lebensrealität ändern tut sich freilich nichts. Hingegen wird das Märchen einer wehrhaften Mitte der Gesellschaft erzählt, welche sich gegen die Ränder zu verteidigen hätte. Jeder Versuch über das Bestehende hinaus zu weisen, wird als Akt des Extremismus der Repression ausgesetzt. Man sieht überall Chaos, Gewalt und drohenden Bürgerkrieg und verleugnet das brutale Strafbedürfnis bürgerlicher Gesellschaft. Nur wird es eben an repressive Instanzen externalisiert um sich selbst nicht die Hände dreckig zu machen. Mit „1,2,3 – danke Polizei“ wird dann dem Bürger in Uniform gedankt die Interessen des bürgerlichen Staates mit Gewalt durchzusetzen. Die Vermittlung eigener Interessen darf jedoch nur vom Staat vorgegeben werden. So hat halt jeder seine Meinung und es bleibt dabei. Konsequenzen daraus werden missachtet oder dürfen nicht folgen. Ideologisch sind immer die Anderen. Die schlimmsten Vorstellungen meinen dann mit den politischen Kategorien „rechts“ und „links“ nichts gemein zu haben. Man sei „vorn“ und vertraue auf den gesunden Menschenverstand. Die Ratio dieses viel beschworenen Verstandes kennt bekanntlich dutzende Abzweigungen und verweist eher auf Geschmack denn auf Reflexion. Es ist richtig, sich immerzu eine kritische Distanz, egal zu welchem Gegenstand, zu bewahren. Die Vermittlung besserer Zustände gänzlich der individuellen Wahrheit zu überlassen, geht allerdings vollkommen ins Leere.
Die Verachtung hiesiger Medien ist verständlich, sofern sie denn allgemeiner Kritik ist. Natürlich ist jede noch so „wertneutrale“ Berichterstattung von Interessen geprägt, wie Alles in den gegenwärtigen Verhältnissen. Die Alternative dann im Sammelsurium des Internets gemäß eigener Vorlieben zu finden, hat nichts mit Kritik zu tun. „Lügenpresse“ erschallt nur bei unliebsamer Berichterstattung. Es wird von Zensur geschwafelt, wenn die Kioske voll von alternativer Wahrheit sind. Wie viel Mist über autonome Praktiken ohne allgemeinen Aufschrei geschrieben wird, muss hier nicht aufgezählt werden. Alle Schreckensbilder, mit steten Hang zum Kuriosem, werden gefressen. Dem apokalyptischen Untergangsszenario der bürgerlichen Gesellschaft durch innere Chaoten, wird eifrig Munition geliefert. Für alle Welt sichtbar wurde es einmal mehr in Folge der öffentlichen Fahndung nach dem G20 in Hamburg. Einen vergleichbaren Aufwand in anderen Milieus gibt es nicht. Bis heute, fast zwei Jahren danach, finden immer noch Hausdurchsuchungen statt, werden Demonstrationen gegängelt, neue Gadgets der Bullen präsentiert und Gesetze zu erweiterten Befugnissen der allgemeinen Kontrolle im Parlament verabschiedet. Es ist bezeichnend, dass sich nach all den repressiven Erfahrungen der DDR die Freiheit in derlei staatlicher Sicherheit gesehen wird. Ist man sonst nie beschämt jeden noch so absurden Vergleich zur DDR oder gar zum Nationalsozialismus zu ziehen, werden hier keine Parallelen ausgemacht. Der Galgen für die „Volksverräter“ ist für andere bestimmt. Nämlich jene, die dem Spektakel grundsätzlich misstrauen und dafür gute Gründe haben. Sie werfen sich keinen Quacksalbern an den Hals und wissen um das verbrannte Terrain der Politik. Sie erkennen Visionen, wo andere Illusionen bemängeln. Doch baut die Illusion nicht auf Wissen oder Verstand auf, sondern auf haltlosen Pessimismus.
Es gibt immer Alternativen auf Situationen zu reagieren. Die schmerzvolle Tragik so vieler Biografien ist nachvollziehbar. Jahrelange Erfahrung wurde nicht anerkannt oder belächelt. Es musste umgeschult werden um danach trotzdem weniger zu verdienen als wenige Kilometer weiter westlich. Jede Sphäre wurde umgepolt, auch wenn nichts dafür sprach. Die Städte und Provinzen wurden leerer. Eine ganze Generation versank in Hoffnungslosigkeit und Langeweile. Das ist alles zu verstehen. Nun könnte man dem Dilemma mit solidarischer Komplizenschaft begegnen und die Freiheit des Einzelnen als Voraussetzung für die Freiheit aller erkämpfen. Oder man bedient sich dem Prinzip des Radfahrens: nach unten treten und nach oben buckeln um vorwärts zu kommen. Letzteres kennzeichnet die Feigheit vor der Herrschaft unter dem Deckmantel des aufrechten Gangs. Was ist da von direkter Demokratie zu halten? Die ermöglichte Teilhabe aller an allen Lebensbereichen? Mitnichten! Die Referenden gerieren sich als Volkszorn, als legalen Hass auf alles Unliebsame. In den Betrieben, am Eigentum oder gar an der herrschenden Ordnung wird nicht gerüttelt. Die heiligen Stützpfeiler der noch heiligeren Nation gilt es nicht anzutasten. Folgerichtig äußert sich die Sozialpolitik einer Partei wie der AfD. Die untere Gesellschaft sollte beim Kampf um Brotkrümel lieber den „Fremden“ auf die Fresse hauen als einer Welt der Ausbeutung.
Es gibt in Sachsen allerdings auch gegenläufige Trends. Leipzig wird seit kurzem als Oase inmitten einer trostlosen Wüste von Alltagsrassismus und autoritären Begierden betrachtet. Mancher behauptet, es hätte alles mit dem Medienrummel um „Hypezig“ begonnen. Jedenfalls wurde es vor ein paar Jahren zur nächsten hippen Großstadt auserkoren. Es verspricht genug hedonistische Anlaufstellen, günstigen Wohnraum, liberales Klima, viele Bioläden und kokettiert dennoch mit dem Ruf des Kaputten. Leipzig in Trümmern, wie es einstmals eine lokale Punkband beschrieb. Im seit Jahrzehnten CDU-regierten Sachsen gibt es hier parteipolitisch ernsthaft Kontra. Man hat sich in manchen Straßenzügen eine gewisse Hegemonie erkämpft und durch ständigen Druck Freiräume geschaffen. Das war zeitweilig wirklich imponierend und von Entschlossenheit geprägt, ist aber letztlich einer Belanglosigkeit zum Opfer gefallen, wie es sie in vielen Großstädten gibt. Die jeweiligen Nischen linker Milieus haben ihre Räume, die Demonstrationen ähneln der generellen Folklore üblichen Typs, die Diskussionen haben vorrangig Distinktion im Sinn und Kreative langweilen mit Performances. Wohlwollendes Treiben für den Stadtrat. Man bewirbt sich als weltoffenen Standort, obwohl der Grundstein hierfür immer noch offenen Hass der Politik ausgesetzt ist. Die Rede ist von den wenigen, aber entschlossenen Leuten die vor dem Hype den konfrontativen Weg einschlugen. Örtlichen Nazis wurden nicht mit Bündnisfähigkeit begegnet, sondern Grenzen eigenen Handelns aufgezeigt. Der öffentliche Raum wurde sich genommen und nicht beständig um des Polizeipräsidenten Gnaden gebeten. Die Stadt gewann an Anziehungskraft, gerade weil es diese radikalen Kräfte gab. Das Sodom und Gomorrha vieler Untertanen triumphierte eben im Lichte der gescholtenen Dystopie. In Anbetracht der überschaubaren Größe war die Solidarität untereinander ungemein größer und der Verlass auf andere bei eigener Herausnahme nicht gegeben. Heute bleibt es wenigen Events überlassen ernsthaft große Zahlen auf die Straße zu bringen. Und diese sind mehr an Inszenierung als an Konflikt interessiert. Die kollektive Aktion wird den letzten Hoffnungsvollen genommen, wenn Banalitäten wie Einhaken oder geschlossene Blöcke fast vollständig verschwunden sind. Sie können sich der Solidarität nicht sicher sein und sind Teil eines staatlich gewünschten Happenings.
Das Überleben hat sich verschlimmert. Es geschehen die üblichen Verschiebungen durch Gentrifizierung. Die Mieten werden teurer und das Nebeneinander beliebiger. Mir geht es nicht um die Rettung des diskreten Charme bestimmter Viertel. Auch liegt mir Abscheu auf Zugezogene fern, genau so wenig bezüglich Dresscode oder Habitus. Wer möchte nicht die Einöde gegen Straßen eintauschen, die Abwechslung und Spaß versprechen? Es gibt gute Gründe dies zu tun. Nur äußert sich tatsächliche Freude nicht im Erleben von Selbstwirksamkeit anstatt passiven Konsums? Was bringen dutzende Soliparties, wenn die Herrschaft so wenig Bedrängnis erfährt? Wozu ritualisierte Diskussionen, wenn es beim abstrakten Gedanken bleibt? Die Trauer liegt vielmehr im ungenutztem Potenzial begründet. Es mangelt nicht an Körpern, es mangelt am Konflikt. Wirklichen Konflikt. Keine metaphysischen Scheindebatten. Kritik nicht als Denksport begreifen, sondern wirklichen Eingriff in die Situation. Wer es mit geschichtlicher Erfahrung ernst meint, wird nicht umhin kommen zu begreifen, dass in Zeiten erzeugter Spannung die größte Freiheit und die größte Rezeption schwerer Theorie vorhanden waren. In solchen Abschnitten ist Theorie als Anleitung zu Befreiung lesbar, nicht als Handreichung altklugen Kulturpessimismus. Erkämpfte Freiräume sollten als Stützpunkte begriffen werden, nicht als Freiräume alternativen Konsums. Nicht einmal als Rückzugsräume können diese noch genutzt werden. Schließlich drohe den Projekten Repression und könnte somit die banalen alltäglichen Abläufen unterbrechen. Dem Lifestyle würde ein Ort der Inszenierung fehlen. Es ist ein Trauerspiel. Die Wette wird nicht eingelöst, sie wird gar nicht erst gemacht.
Es passt daher ganz gut, wenn sich hierzulande die beste autonome Organisation im Lifestyle des Ultrá findet. Man kennt diese Verschiebung aus Italien. Eine einzigartige Bewegung jenseits von Partei und Gewerkschaft fand sich unter dem Banner der Autonomia im permanenten Konflikt mit der Staatsmacht. Viele Formen zukünftigen Zusammenlebens und des Kampfes wurden hier gefunden und leben bis heute fort. Offener Staatsterrorismus und eine Welle der Repression beendeten diesen Zyklus sozialen Kriegs. Der bewaffnete Kampf war der verzweifelte Versuch darauf zu reagieren, aber in seiner avantgardistischen Form zum Scheitern verurteilt. Wer weiterhin im legalen Raum der Langeweile zu entfliehen suchte, schuf ein Milieu in der Sphäre des Fußballs. Gesänge, Trommeln und die allgemeine Präsentation als Macht fanden in einem anderen Kontext ihr Weiterleben. Nur waren die Spielregeln natürlich klarer und der gesetzte Rahmen schmal. Aus der Lust am Erlebnis wurden absurde Codes und die beeindruckende Organisation hatte banale Ziele. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Die Verquickung mit politischen Inhalten findet sich auch in Deutschland, was wünschenswert ist. Allerdings ist die komplette Aufhebung darin eine Bankrotterklärung. Ultrá bleibt notwendig immer begrenzt. Das nun viele Aktive ihr Erleben in diesem engem Spiel der Inszenierung entdecken anstatt auf anderen Terrain zu agieren, verwundert nicht und ist trotzdem bedauerlich. Vielleicht werden sie irgendwann eine relevante Kraft darstellen, wie es in Auseinandersetzungen in der Türkei oder in Ägypten bereits zu beobachten war. Doch dazu müsste die Situation erst einmal geschaffen werden. Bis dahin werden sie mit Fahnen malen und Singen beschäftigt sein. Das ist in Leipzig nicht anders als anderswo in Deutschland.

II. VON FRANKREICH LERNEN, HEISST KÄMPFEN LERNEN
Es ist nur eine unsichtbare Grenze, die beide Länder voneinander trennt. Um ein Vielfaches unsichtbarer, seit der institutionelle Weg einer Europäischen Union gegangen wird. Bezogen auf die Kämpfe um ein würdevolles Leben in der jüngeren Vergangenheit könnte man meinen, man habe es mit zwei Welten zu tun. Dabei ist der Gedanke absurd. Die Ähnlichkeit der täglichen Abläufe gleicht sich rund um den Globus und kennt geschichtliche Perioden. Sie zeugen vom Begehren nach der unumkehrbaren Situation oder Sehnsucht nach rasendem Stillstand. Utopie oder Traurigkeit. Die Wahl der Mittel unterscheidet beide Länder immens und macht den entscheidenden Unterschied. Deutschland und Frankreich, es gibt einiges zu lernen.
Die Voraussetzungen sind denkbar ungleich. Das fängt mit der im kollektiven Gedächtnis verankerten Geschichte des Landes an und endet im Jetzt der Lehren aus vergangenen Kämpfen. Der kollektive Sturm auf die Zentrale der Herrschaft in Form der Bastille ist Zeugnis von Gegenmacht. So etwas lebt fort. Es ist antreibende Kraft, wenn Ohnmacht der Aktion im Weg steht. Man weiß um die Möglichkeit des Umsturzes und der damit verbundenen Freude am Leben. Anders in Deutschland. Der große Umsturz währte zu jeder Zeit nur kurz. Jedes überschießende Potenzial sozialer Kämpfe wusste die Regierung zu integrieren. Die radikalen Momente wurden im Kugelhagel erschossen, wenn sich grundsätzliche Widersprüche nicht befriedigen ließen. Das Organisationstalent überrascht bis heute, aber Bürokratie kann nie den sichtbaren Konflikt ersetzen. Die Detailverliebtheit der Deutschen entzückte bereits Marx im 19. Jahrhundert. Doch waren es letztlich die chaotischen Zustände spontaner Aufstände und Räte vor 100 Jahren, die bleibenden Eindruck hinterlassen haben. Sie sorgten für Restbestände demokratischer Prinzipien, welche bis heute verwässert nachwirken und als Common Sense gelten. Der radikalen Herkunft wird sich zumeist entledigt. Sie bleibt Splitter der Geschichte. Verstaubt in Archiven grauer Literatur oder verpackt als Event in nostalgischen Rückblenden. Das Weiter-so hat das Weitermachen ersetzt.
Auch sollte man den realpolitischen Rahmen nicht außer Acht lassen. Die Rolle des Präsidenten spielt in Frankreich eine deutlich größere Rolle als in Deutschland. Hierzulande spiegelt sich das moralische Gewissen in Gestalt des Präsidenten. Es gibt ethische Betrachtungen zur Lage der Nation, mehr aber auch nicht. Ein weit verzweigtes Netz föderativer Bundesländer sorgt für die gegenseitige Schuldzuweisung gegen den Bund oder umgekehrt. Die Kanzlerschaft bietet dabei noch die größte Zielscheibe für allgemeinen den Frust und die Wut. Doch auch hier nimmt das Parlament einen größeren Raum in der Wahrnehmung vieler Bevölkerungsteile ein. Hatte ich schon erwähnt, dass die Perfidie ein Meister aus Deutschland ist? Letztlich genießt das Parlament ein hohes Ansehen im Austausch unterschiedlicher Positionen. Man kennt die Anmerkung bei Verbitterung über die alltägliche Tristesse, man solle doch in die Politik gehen. Gerade nach Ende der Weimarer Republik wisse man doch, dass alle Skepsis bis Gegnerschaft zum Parlament notwendig in der schlechteren Aufhebung enden. Konkreter gesagt: im Faschismus. Da hilft auch jedweder Verweis auf die radikaldemokratischen Prozesse vor der Etablierung der Weimarer Republik nichts. Außenparlamentarischem Agieren wird keine Hoffnung geschenkt, obwohl man anhand französischer Verhältnisse ein gegenteiliges Bild bekommen könnte.
Der Präsident gibt ein gutes Bild vom klassischen Tyrannen ab. Eine Vielzahl von Entscheidungen fließen in seiner Person zusammen, weswegen die Wut so herrlich kanalisiert werden kann. Man könnte es auch in Deutschland tun – ein Irrglaube, wenn nicht gar Ideologie, wenn von ausschließlich unpersönlicher Herrschaft ausgegangen wird – ohne in die Fallstricke autoritärer Sehnsucht zu verfallen. In Frankreich ist der politische Betrieb etwas anders gestaltet. Man weiß um die Macht der Guillotine. Am Volksbegriff ist zwar auch dann nichts zu retten, aber zumindest meint die tatsächliche Zusammensetzung dieses Volkes gemeinhin etwas anderes als in Deutschland. Blut und Boden im Sinne einer Kulturnation sind schließlich die weitaus wichtigeren Stützpfeiler des deutschen Volkes als es die Tyrannei aufgrund sozialer Klassen im französischen Kontext ist. Es stimmt, wenn jetzt empört auf die Popularität ethnopluralistischer Ideologie in Frankreich verwiesen wird. Wichtige Denkschulen und Organisationen dienen als Leuchtturm für ähnliche Gruppierungen im Ausland. Aber in der jüngeren Vergangenheit wurden diese im Eifer des Gefechts an den Rand gedrängt. Kritik im Handgemenge, wie man sie in Deutschland so schmerzlich vermisst.
Die globale Revolte von ’68 hatte in Frankreich eine ungeheuer größere Sprengkraft als es in Deutschland der Fall war. Ein wichtiger Faktor hierfür war die Auflösung der Trennung von studentischen und proletarischen Milieus. Die Kämpfe wurden viel stärker zusammen gedacht und auch gegenteilig angenommen. Der Knall an der Sorbonne imponierte viel eher statt zu entfremden. Der gegenseitige Bezug auf die jeweilige Lage führte zu allgemeiner Solidarität zwischen Studenten und Proletarisierten. Schnell wurden Komitees gegründet und sich im jeweiligen Konflikt gegenseitig unterstützt. Die Stärken und Schwächen der unterschiedlichen Ausgangslagen wurden als allgemeiner Vorteil gedacht und entsprechend gehandelt. In Erinnerung an die militanten Siege vergangener Tage musste sich auch bei weitem keiner so sinnfreien Gewaltdebatte gestellt werden, wie sie doch bis heute beim kleinsten zivilen Ungehorsam in Deutschland vorkommt. Universitäten wurden besetzt und Betriebe bestreikt. Der legendäre Mai ’68 war das Zusammenspiel beider Lager zum größten wilden Generalstreik in der Geschichte.
Die deutsche Situation in der Revolte ’68 kennt das jugendliche Aufbegehren gegen die Elterngeneration, nicht den allgemeinen Aufruhr. Die sozialrevolutionären Parolen blieben vielerorts im luftleeren Seminarraum, wo hingegen der Marxismus Karriere machte – und blieb. Die gegenseitige Verachtung von studentischen und proletarischen Milieus konnte nicht überwunden werden. Für die einen sind es arbeitsscheue Lumpen, für die anderen bildungsfernes Pack. Obwohl zumindest die versuchte Intervention in Betriebe oder sogar Militär weitaus größeres Bemühen geschenkt wurde als heute. So aber erschöpfte sich der Protest in neuen Jugendkulturen mit passendem Lifestyle. Zerpflückt in der Durchschlagskraft widmete man sich nun Teilbereichskämpfen. Die geschaffenen Nischen wirken bis heute fort und schufen Bilder, wo Inhalte sein sollten. Dem Staat soll es recht sein, so lange die Spielregeln eingehalten werden. Trotz alledem resultiert auch eine Vielzahl neuer Versuche, wie alternative Medien oder Kollektivbetriebe, aus dieser Zeit. Nur gelang eben nicht der große Wurf und die Begierden blieben fragmentiert. Während- dessen ließen sich weite Teile der gehorsamen Bevölkerung für die Hatz auf vermeintliche Führungsfiguren begeistern und setzten zum Schuss mit der Waffe an.
Auch in Frankreich siegte letztlich die Reaktion und nach einem Monat Notbremse sorgten wenige Reformen für ein Ende der Bewegung. Die Erfahrung indes blieb und fand seine Nachahmung einige Zeit später in Italien. Grundlegende gesetzliche Einschnitte in das Leben vieler bewirken ständig eine Flut unterschiedlicher Aktionsformen und deren grundlegende Sympathie in der Bevölkerung Frankreichs. Brennende Bengalen, Reifen und Blockaden gehören zum Repertoire gewerkschaftlicher Kämpfe. Auch der Chef eines Betriebs wird mal so lange eingeschlossen bis eine Lösung gefunden wurde. Was jedoch viel entscheidender ist, ist die schon benannte Solidarität über den Arbeitsplatz hinaus. Schüler und Studenten wissen um das Los der Zukunft und tragen ihre spezifischen Kämpfe in die somit formierte Bewegung ein. Logisch, wenn die Abneigung gegen die Polizei sehr viel verbreiterter ist als in Deutschland. Solche Kämpfe zwingen die Ordnungsmacht zur Umsetzung ihrer Daseinsberechtigung, weshalb man sich nicht der Illusion einer gemeinsamen Ebene hingibt. Der Bürger in Uniform ist nun einmal die Knüppel schwingende Exekutive und wird selbstredend immer die staatlichen Interessen durchprügeln.
In Deutschland hingegen wird Getrötet, Gerasselt und sich in Müllsäcke gekleidet, wenn es zum Streik kommt. Die Kämpfe finden als Begleitmusik zum Treffen der jeweiligen Delegierten statt. Milieu übergreifende Kämpfe gibt es nicht. Selbst stundenweise Niederlegung der Arbeit wird oftmals mit Unverständnis begegnet. Schnell weiß man zu rechnen oder andere Anhaltspunkte zu finden um die Streiks zu diskreditieren. Die Verhältnismäßigkeit wird in Frage gestellt und sich darüber empört, dass sich um die eigene Lage auch niemand kümmert. Die Presse gibt ihr übriges dazu. Es sei beispielhaft an den Streik der GDL 2014 erinnert und an den Hass auf einen Streik abseits bekannter Wegmarken. Selbst die Adresse des Gewerkschaftsführers wurde genannt. Man klagt über das tägliche Leid, aber begehrt selbst nicht auf und verachtet jene, die es wagen. Man frisst die Lügen einiger Wirtschaftsexperten um sich in seiner Passivität zu bestätigen. Man stimmt in das Geheul der Politik zum Erhalt des Standorts ein. Kurzum: Man lässt sich von der Macht der anderen und der eigenen Ohnmacht dumm machen.
Es wäre natürlich falsch, in Frankreich das ersehnte Utopia zu erblicken. Die gesellschaftlichen Kräfte kennen Perioden der Höhen und Tiefen. Die jüngere Vergangenheit und Gegenwart lässt nach Jahren der Flaute jedoch wieder Hoffnung schöpfen. Man erhascht einen Blick auf die Auseinandersetzung gemäß der Zeit. Als neuartigen Beginn kann der Konflikt gegen das Loi Travail im Jahre 2016 gewertet werden. Ein Gesetz mit dem Ziel allumfassender Reformen. Reform klingt zeitgemäß und vernünftig, aber meint zumeist die Erweiterung materieller Ungleichheit zugunsten hierarchischer Systeme. So auch hier. Flexibel müsse man heute sein. Ständig an sich arbeiten, Soft Skills aneignen, ohne festen und schon gar nicht bezahlbaren Wohnsitz. Die Mitsprache im Betrieb erfolgt über den Betriebsrat und dessen Machtpotenzial wird eingeschränkt. Der private Besitz und die Beziehungen entscheiden nach wie vor im großen Maße darüber wohin die Reise von Geburt an gehen wird. Die paar Tellerwäscher die es nach oben geschafft haben werden dann medienwirksam herumgereicht um der Ideologie Ausdruck zu verleihen. Jedenfalls sorgte sich ein Teil der Bewegung um eine Verschlechterung der Tarifverträge und anderer Arbeitsbedingungen, während ein anderer Teil den miesen Zukunftsaussichten und allgemeiner Langeweile den Kampf ansagte. Über einen Zeitraum von vier Monaten wurde wöchentlich demonstriert, randaliert und gestreikt. Die Blockaden waren bekannt, ebenso die Massendemonstrationen der Gewerkschaften mit all den großen Ballons. Nur formierte sich an der Spitze der Demonstration ein faszinierendes Zusammenspiel mit dem Ziel direkter Konfrontation. Das Gespenst des Cortège de Tête war geboren. Ein Mix aus jenen Teilen der Gesellschaft auf der Suche nach Gegenmacht, Erlebnis und Zuspitzung des Konflikts. Sich den gesetzten Spielregeln entziehen, wenn die eigene Misere durch diese Regeln erhalten bleibt. Auch mit Wissen um den Voyeurismus der Medien. Wo kein Krawall, da keine Aufmerksamkeit. Unabhängig von den offiziellen Demonstrationen legten beständig stattfindende spontane Demonstrationen die Route selbst fest und wehrten sich auch gegen polizeiliche Übergriffe. Jung und alt umarmte sich und traf sich am Abend beim Nuit Debout zum Plausch. Nicht wenige Umzüge starteten abermals von hier und sorgten für gehörig Unruhe. Jahre des Ausnahmezustands sorgten für Befugnisse auf Seiten der Polizei, die ein Aufbegehren erschwerten und den Beamten das ersehnte Bild der vertrauensvollen Ordnungsmacht sicherte. Dies fand nun sein jähes Ende. Dutzende Platzwunden und verstopfte Atemwege zeugen davon. Innerhalb kurzer Zeit entdeckte man das aufständische Potenzial des Baumarkts und wusste um die Zweckentfremdung nützlicher Utensilien. Die Taktik des Schwarzen Block war keine Modenschau radikaler Linker, sondern eben strategischer Umgang mit Polizei und Repression. Eine bemerkenswerte Bewegung wurde inmitten autoritärer Tendenzen geschaffen und sorgte für die lang ersehnte Hoffnung.
Es war nicht die Militanz, die zum Erliegen der Bewegung führte, mitnichten. Diese sorgte viel eher für den Aufschwung und die Aufmerksamkeit. Den ständigen Schikanen der Bullen trotzen und eine eigene Dynamik entfachen, entsprach dem Bedürfnis einer für gewöhnlich unsichtbaren Masse. Der Wut wurde Ausdruck verliehen und diese Gesten wussten zu verbinden. Die Abscheu gegenüber der Gewalt gab es selbstverständlich auch im eigenen Lager. Aber zur staatlich herbeigesehnten Spaltung der Bewegung kam es nicht. Dazu war der Moment von Selbstermächtigung zu stark und zu massenhaft geworden. Nach dem fulminanten Finale am 14. Juni in Paris folgte ein typisches Abflauen aufgrund der Ferien. Klammheimlich wurde das Gesetz mit wenigen Änderungen verabschiedet. Ein erneutes Aufflammen der Proteste wurde im September versucht, aber verebbte mit einem lautem Knall. Was blieb, war eine Niederlage im konkreten Ziel und ein Sieg im neu geschöpften Mut. Die politische Rechte wusste während der Kämpfe nicht damit umzugehen. Zu sehr ging es um ein würdevolles Leben aller Menschen. Die gewalttätige Begleitmusik des antagonistischen Lagers erzeugte schließlich umso mehr Distanz ordnungsliebender Untertanen. Die wichtigen Themen wurden gesetzt und Entschlossenheit demonstriert. Zukünftig wird man sich dieser Erfahrungen erinnern und Lehren daraus ziehen, soviel sei gewiss.
Lange musste man nicht warten. Bereits ein Jahr später erlebte das alljährliche 1. Mai Spektakel eine ungewöhnlich militante Neuauflage. Der politische Betrieb mit klassischem Personal war mittlerweile völlig am Ende. Die Sozialistische Partei ereilte dasselbe Schicksal wie anderen sozialdemokratischen Parteien: das Geschwafel von sozialer Gerechtigkeit wurde nicht mehr abgenommen, wenn der soziale Frieden am Ende die Kumpanei mit dem Kapital meint. All die feierlich verkündeten Reformen oder abgetrotzten Kompromisse bringen wenig, wenn sich grundsätzlich nichts ändert und die zerstückelten Erfolge keine subjektive Allgemeinheit beinhalten. Die wirtschaftliche Expertise frohlockt, wohingegen die Mehrheit keine nennenswerte Veränderung spürt. Es rächt sich nun, dass die anvisierte Zielgruppe lieber den Konflikt sucht als ständige Kompromissbereitschaft. Zumal der moralische Schein in Anbetracht konservativer Konkurrenz um ein Vielfaches lächerlicher wirkt. Eine neue bürgerliche Partei siegte in den folgenden Präsidentschaftswahlen und nannte sich da Bewegung, wo es den Sitz im Parlament vorzog. Das ganze Dilemma heutigen Liberalismus vereint sich in dieser Partei. Smart und liberal in der Akzeptanz unterschiedlicher Geschmäcker. Hart und liberal in der Missachtung sozialer Gleichheit. Schon früh ahnten Gewerkschaften und soziale Bewegungen, dass die Abwehr der politischen Rechten keine Strategie der radikalen Umgestaltung folgen würde. Die persönlichen Freiheiten orientierten sich an der Wahl individueller Identität, nicht am materiellen Reichtum. Es sollte nicht lange dauern und Frankreich erlebte einen eruptiven Ausbruch, wie man ihn nicht hätte voraus- ahnen können.
2018 stand im Zeichen von 50 Jahre ’68. Überall erschienen Bücher um über das Erbe dieser folgenreichen Jahre zu resümieren. Zeitzeugen wurden eingeladen um sich für ihr einstiges Engagement zu feiern. Die politische Rechte tobte über den seitdem grassierenden Sittenverfall, was Auskunft über einige wirkliche Siege der damaligen Bewegung gibt. Doch im Großen und Ganzen war es ein nostalgisches Erinnern. Eine Ermutigung zu neuen Tatendrang suchte man vergebens. Wenige Zeitzeugen in Deutschland haben sich mittlerweile in reiner Provokation verloren und gefallen sich in der Rolle des konservativen Revolutionärs. Die radikale Kritik mancher Strömungen ist vergessen und man nimmt den moralischen Schein der Regierung für bare Münze. Sodann ist man Teil der „schweigenden Mehrheit“ um Heimatliebe als mutigen Gegenentwurf zu kultivieren. In der intellektuellen Pose gibt man sich als Realist, wo Mythos und Irrationalismus herrschen. Oder sie meinen, wie der Posterboy der Alt-Right, dass der Hype um die ganze alte Scheiße der zeitgemäße Punk ist. Was für kümmerliche Gestalten. In Frankreich kennt das Gedenken viel radikalere Erzählungen. Den unbekümmerten Plausch über vergangene Zeiten gibt es jedoch auch hier. Ein Graffito mit dem Ausspruch „Fuck May 68, Fight Now“ bringt die Trostlosigkeit auf den Punkt. Begleitet von Streiks im öffentlichen Dienst wurde zum 1. Mai diesmal international geladen. Was folgte, war ein imposanter Schwarzer Block und lange Straßenschlachten. Im historischen Quartier Latin gab es in den Abendstunden noch ein paar Scharmützel und so keimte zumindest kurzzeitig der Bruch mit der bestehenden Ordnung auf. Das sie einen langen Atem behalten sollten, hofften nur die größten Optimisten. Der spontane Charakter von 2016 wich der bekannten Choreografie. Die Polizei agierte planvoller, so dass neben dem Krawall vielmehr die massenhafte Annahme desselben zu beeindrucken wusste. Es war erkennbar, welche Anziehungskraft die französischen Zustände mittlerweile auf viele Leute auch außerhalb des Landes ausübt. Das Zusammenspiel von Jung und Alt in Konfrontation mit der Staatsgewalt hat Vorbildfunktion. Man sieht die Setzung eigener Interessen im Lichte von wirklich gelebter Gegenmacht. Das ermöglicht Handlungsräume von denen vorher kein Winkel zu erkennen war.
Die Regierung unter Macron wird in Deutschland als starke Kraft europäischen Denkens wahrgenommen. Sein ausdrücklicher Wunsch nach einer wirkmächtigeren EU lässt ihn kosmopolitisch erscheinen. Dem Einknicken vor der Wirtschaft zu Ungunsten der Lohnabhängigen tut das keinen Abbruch. Es verträgt sich geradezu prächtig mit den seit Jahren bekannten Hartz 4 Zwängen in Deutschland. Nicht umsonst, wurden die Arbeitsgesetze von 2016 in ihren Auswirkungen mit denen von Hartz 4 verglichen. 2004 übte sich die radikale Linke bei den damaligen Montagsdemonstrationen in Distinktion und der große Wurf gelang natürlich nicht. Man beließ es schließlich beim ordnungsgemäßen Demonstrieren ohne wirklich Druck auszuüben. Auch Macrons Regierung spürte bei den ersten Arbeitskämpfen seit Antritt seiner Präsidentschaft keinen allzu großen Druck. Die Mittel der Gewerkschaften waren bekannt, genauso wie ihre beschränkte Reichweite. Es konnte also nach Jahren der sozialen Proteste kein wirklicher Erfolg erreicht werden. Mit dieser Erfahrung im Hinterkopf entfachte ein vollkommen unterschätzter Funke einen Flächenbrand, der in seiner Tragweite dann doch noch knapp vor Jahresende ein würdiges, diffuses Gedenken an 50 Jahre ’68 herstellte. Der Beginn der Gelbwesten-Bewegung.
Im November 2018 sorgte ein Gesetz zur Erhöhung der Spritpreise zu Beginn des kommenden Jahres für Unmut in den Provinzen. Die Städte der Reichen sorgen für ständiges Pendeln verdrängter Proleten aus der Provinz. Das Auto ist unabdingbare Voraussetzung zum Verkauf der eigenen Arbeitskraft. Neben den sonstigen Kosten nun auch noch mehr für das Pendeln zum Arbeitsplatz zu bezahlen, sorgte für reichlich Ärger. Die existenziellen Sorgen verschafften sich Ausdruck in den sozialen Medien des Internets. Die Wichtigkeit, aber auch Ambivalenz, des Internets – einerseits Plattform zur Schaffung und Organisation sozialer Bewegungen, andererseits Kotztüte für all die anonymen Ekelhaftigkeiten dieser Welt – zur Schaffung sozialer Bewegungen im 21. Jahrhundert wurde so einmal mehr deutlich. Eine kollektive Identität, für alle annehmbar, wurde erkoren: die Warnweste. Ein gelungener Clou, findet sich die gelbe Weste doch in jedem gut sortierten PKW und ist als Sichtbarmachung bei Gefahr gedacht. In Videos wurde zu Blockaden der Verkehrskreisel aufgerufen. Auch Mautstellen wurden genannt. Was als originelle Idee anfing, fand seinen Widerhall in 300 000 Körpern mit Warnweste. Parallel zu den Blockaden gab es in Paris auch erste Zusammenstöße mit der Polizei. Die Klassenzusammensetzung der Bewegung war sich seiner Frontstellung gegen die Regierung im Allgemeinen und Macron im Besonderen einig. Uneinigkeit bestand, wie so oft, über das Danach. Die Symbolpolitik des Geschehens kannte auch unterschiedliche Facetten. Eine generelle Skepsis war jedoch bei allen etablierten Organisationen und Parteien jeglicher Couleur vorhanden. Zu diffus war das Geschehen. In jedem Fall gelang die Überraschung und sorgte für weiteren Auftrieb. Es folgte der bis heute stattfindende Turnus von täglichen landesweiten Blockaden und samstäglichen Demonstrationen. Dem Spektakel gebührend werden die Demos als „Akt“ bezeichnet. Die Peripetie soll der Rücktritt Macrons sein, zumindest für ein Gros der Bewegung. Bereits beim 2. Akt kam es zu heftigen Ausschreitungen auf den Champs Élysées in Paris. Diese Meile der Arroganz und Herrschaft war Angriffsfläche böser Leidenschaften. Was auffiel, war der zahlenmäßig geringe Protest. Es werden später 5000 Menschen bei den Zerstörungen gezählt, die einen Handlungsdruck und Aufmerksamkeit erzeugten wie sie schon lange keine soziale Bewegung zu schaffen wusste. Wer braucht auch schon Massen, wenn es an Entschlossenheit fehlt? Die Regierung geriet zunehmend unter Druck. Für den kommenden Akt wurde das Polizeiaufgebot erheblich aufgestockt und Empörung über die Casseurs bekundet. Die alte Leier zu Gewaltverzicht mit Folge der Aufspaltung einer Bewegung um den Preis ihrer kompletten Zerlegung ging jedoch nicht auf. Der 1. Dezember 2018 sorgte für eine Verwüstung des Champs Élysées und anderer Teile Paris, wie sie von manchen selbst zum historischen Mai ’68 nicht beobachtet wurde. Es wurde zerstört und geplündert. Ein Fanal stellte die heilige Entweihung des Arc de Triomphe dar. So etwas hatte es vorher noch nicht gegeben. Spätestens jetzt war das Thema omnipräsent in der französischen Gesellschaft. Parallel dazu gab es auch erste landesweite Blockaden von Schulen um abermals eine Reform der Regierung zu verhindern. In einer ersten Reaktion verkündete die Regierung die Verschiebung der geplanten Spritpreiserhöhung um ein halbes Jahr. Ein schlechter Scherz! Denn was würde sich innerhalb eines halben Jahres groß an der Lebenssituation ändern?
Die Proteste gingen weiter. Für den 8. Dezember wurden Sehenswürdigkeiten in Paris geschlossen, Luxusläden mit Sperrholz dekoriert und die selten gesehenen Räumpanzer der Polizei fuhren auf. Es nützte alles nichts. Wieder kam es zum Krawall, wieder gingen landesweit mehrere zehntausend Menschen auf die Straße. Sowieso war die Breite der Proteste beachtlich. Größere und kleinere Städte, wie auch Provinzen, nahmen auch an diesem Akt teil. Der Präsident hielt sich bis dahin mit einer offiziellen Rede zur Bewegung zurück. Dies änderte sich zwei Tage später. Ein milliardenschweres Sozialpaket wurde angekündigt. Natürlich mit all seinen Zwischenzeilen, die erst beim zweiten Lesen die falsche Umverteilung der Gelder deutlich machen und an der generellen Ungleichheit nichts ändern. Trotzdem kann das Abtrotzen vom Monsieur le Capital als großer Erfolg verbucht werden. Der sonst so siegestrunkene Macron musste öffentlich einknicken. Ein Freudentag. Endlich Teil einer Bewegung. Es gibt wieder Hoffnung. In Riot we trust.
Um zumindest die Dynamik der Proteste zu verringern, wurde eine landesweite Debatte angekündigt. Ließ sich die Bewegung nicht mit der Gewaltdebatte befriedigen, so musste es eben im Palaver sein. Eine Website wurde eingerichtet und Fragen durften eingereicht werden. Monsieur Macron schaute demonstrativ auch in den hinterletzten Ecken von Frankreich vorbei und stelle sich einigen Fragen. Fundamental ändern durfte sich natürlich nichts. Parallel sahen einige bekanntere Gesichter innerhalb der Bewegung ihren großen Auftritt für gekommen und meinten sich als Repräsentanten der Gelbwesten mit der Regierung treffen zu müssen. Die Erkenntnis der ersten Stunde – lass dich niemals von einer Organisation vereinnahmen – fand glücklicherweise auch hier ihre Anwendung. Unter Drohungen musste das angekündigte Treffen abgesagt werden. Die erhoffte Karriere fiel aus. Unterdessen gingen die Zusammenkünfte der Gelbwesten unbeeindruckt weiter. Selbst die Ferien sorgten für keine Atempause, so dass es auch im neuen Jahr weiterging. Ein Ende ist aktuell nicht in Sicht. Für viele Spezialisten haben wir es mit der wirkmächtigsten Bewegung der letzten Jahrzehnte zu tun.
Der Verlauf der Bewegung kennt Phasen der inneren Gemengelage. Gerade zu Beginn war es kein seltenes Bild, wenn es zu Schlägereien zwischen faschistischen und antifaschistischen Gelbwesten kam. Die jeweilige Ausgangssituation der Städte spielt bei der Intensität der Kämpfe selbstredend eine wichtige Rolle. Wie überall, wurden unterschiedliche Antworten auf die soziale Frage gegeben. Doch wurde eine Elitenkritik mit dem Ziel einer autoritären, homogenen Gemeinschaft zunehmend zurück-gedrängt. Die Intervention von faschistischen Gruppen ist gegenwärtig faktisch nicht mehr vorhanden. Vielmehr ist man in Hochburgen der Bewegung wie Lyon dazu übergangen Teile der Demonstration anzugreifen. Es zahlt sich also aus neben all der Scheu vor ungemütlicher Sprache, Verhalten und fehlender Erfahrung eigene Perspektiven in die Bewegung zu integrieren und notfalls zu verteidigen. Ein Schritt, den weite Teile der radikalen Linken in Deutschland aktuell nicht gehen würden. Zu ungewohnt ist das Terrain und zu alt die gesammelten Erfahrungen. Direkte Aktionen bleiben autonomen Bezugsgruppen überlassen, die mit kleinen Nadelstichen in den Boulevardblättern der Metropolen für Schlagzeilen sorgen. Eine massenhafte, permanente Revolte ist das aber leider nicht. So bleibt man, versteckt in der Dunkelheit, der mysteriöse Bürgerschreck und kann Erfahrungen nicht teilen, die sich an Widerstand gegen die Ohnmacht versucht. Doch wäre es selbstgefällig und langweilig in den Kanon der Kritik einzustimmen. Eher sind solche atomisierten, mutwilligen Vandalen zu begrüßen. In ihren besten Tagen sorgen sie für soviel Aufsehen, dass allgemeines Interesse entsteht und der Staat unter Druck gerät. Der Kampf um die Rigaer 94 in Berlin war so ein Ereignis, wenngleich es ein kurzer Wimpernschlag war. Die Frage ist: Warum bleibt so etwas der Dunkelheit überlassen und findet seine Anwendung nicht auch bei Tageslicht?
Nun sollten unterschiedliche Rahmenbedingungen nicht nivelliert werden. Die Polizeigewalt in Frankreich funktioniert durch frontale Angriffe und besonders brutale Gadgets. Die Menge wird durch Tränengas zerstreut und die Existenz durch Gummigeschosse in Frage gestellt, was eine kollektive Erfahrung für alle Beteiligten auslöst. Es ist nicht das psychologische Spiel der BFE um schließlich bei allgemeiner Paranoia alles sein zu lassen. Es ist das gemeinsame Weinen und Würgen um schließlich gemeinsam zurückzuschlagen. Klar, gibt es auch in Frankreich die allseits gehassten Flics. Die Aktivität und die Kontrolle einer ganzen Demonstration wird in den meisten Fällen in Deutschland trotzdem hermetischer ausgeführt. Wobei die ständig vorhandenen Möglichkeiten bei einer entsprechend großen Masse schneller und sinnvoller genutzt werden, wo man sich in Deutschland mehr an kreativer Inszenierung erfreut. Die Kreativität einer chaotischen Szenerie wird nur von wenigen erkannt. Brutalität der Polizei findet eine viel größere Akzeptanz, trifft sie doch schließlich gezielt einzelne Störer mit denen man nichts zu haben möchte. In Frankreich gibt es auch die Verurteilung von Gewalt, nur schadet sie nicht zwangsläufig einer ganzen Bewegung. Mehreren Umfragen zufolge erfreuten sich die Gelbwesten auch nach den Krawallen hoher Zustimmung in der gesamten Bevölkerung. Es wurde im gleichen Atemzug auf Handyvideos und Ähnliches verwiesen, wenn es um Polizeigewalt ging – ein Treppenwitz, der in Deutschland nicht aufgeht, wo selbst die schlimmste Prügelorgie mit Recht und Ordnung begründet wird. Am Ende siegt immer das Gesetz über die Würde.

III. DIE WELT ZUR ZAD
Die Eruption der Gelbwesten Bewegung hat einmal mehr den Beweis für schlummernde Kräfte deutlich gemacht, die von den Spezialisten der Gesellschaft nicht einmal ansatzweise erahnt wurden. Es ist letztlich ein spontanes Ereignis – eingebettet in deskriptive Verhältnisse, aber in seiner Form nicht voraussehbar und überfordernd für Realisten. Ein ganz normaler Gang der Geschichte. Die Mystik solcher Aufbrüche sollte nicht fetischisiert werden, aber muss in alle Überlegungen mit einbezogen werden. Gerade daran scheint es innerhalb linksradikaler Zirkel in Deutschland zu mangeln. Man könnte bei all dem betriebenen Denksport meinen, man habe die Wunschvorstellung des deutschen Wesens verinnerlicht. Nur nicht ausarten, Denken sei dir gestattet. Alles darf man sagen, nichts darf sich verändern. Das Geschwätz von Meinungsfreiheit dient dem Austausch hohler Phrasen, wo Konflikt sein müsste. Die radikale Linke in Deutschland spielt dabei mit, wenn auch mit Rückendeckung eloquenter Theorie. Man suhlt sich in der Exegese kritischer Theorie, beständig im Wetteifer um die meisten Zitate und dem höchsten Grad an Abstraktion. Die Denkschulen unterscheiden sich und natürlich wird gestritten, diffamiert und gespalten. Was eint, ist kritische Theorie als Anleitung für folgenlose Rechtfertigung eigener Genügsamkeit zu verwenden. Die paar letzten relevanten Gruppen werden ihrer Aktionsformen wegen belächelt, wo man selbst keine besseren Ideen hat. Aber gerade darum sollte es laut einiger Experten auch nicht gehen. Ist doch Kritik auch Praxis und hat für sich zu stehen. Nur tut sie den Verhältnissen eben nicht weh und jede noch so kleine Geste verspricht mehr Flächenbrand als der Plausch im Lesezirkel.
Die Gelbwesten geben Vertrauen in altbewährte Prinzipien. Die Ablehnung der Repräsentation vollzieht unbewusst die Politik der ersten Person. Man verzichtet auf etablierte Organisationen und weiß um das Werbeformat, wenn man sich darauf einlassen würde. Eigene Wege werden eingeschlagen und der Konflikt mit der Staatsgewalt nicht gescheut. Die vorgegebenen Routen und der friedliche Ablauf sorgen nun einmal für keinen Druck. Ein kurzes Event dient der Bestätigung gemeinsamer Interessen. Der Regierung schaden tut es nicht. Wiederholende Exzesse halten die Wut aufrecht, sorgen für öffentliches Interesse und trotzen letztlich dem Leben ein Mehr an Würde ab. Überdies verdichten sich Beziehungen oder gehen auseinander – im Konflikt lernt man Sichtweisen kennen, die theoretisch nie erfasst werden können. Dabei gilt es die Probe aufs Exempel zu machen. Wie greifen meine theoretischen Überlegungen in der Wirklichkeit? Was ist Geschwätz, was ist Wissen? Darum geht es. Die eigentümliche Weise eines jeden zu berücksichtigen um es Stachelschweinen gleich zu tun: zu viel gemeinschaftliche Nähe schmerzt dem Einzigen, wenngleich dieser ohne Kollektiv sozialer Kälte ausgesetzt ist. Prinzipien wirken idealistisch, wo materialistisches Denken angebracht scheint. Doch verirren sich zu viele Kopfgeburten im Labyrinth weiser Worte.
Nun verlieren sich nicht ebenso wenige freiheitliche Gedanken im Reich des Riots. Die Aufhebung von Autorität wird im ewigen sozialen Krieg vermutet, ohne Umrisse eines besseren Lebens. Wo sich manche im Lesezirkel die Legitimation für Passivität abholen, ignorieren andere eine Perspektive aufzuzeigen und suchen beständig das nächste Abenteuer. Diese Abenteuerlust wird sodann als einzig wahres Leben bezeichnet und vergisst so vieles – vom Glück der eigenen Lage, des biologischen Alters und schlussendlich von der eigenen Sackgasse. Auch hier regiert das Bilderverbot, nur ergötzt man sich eben am Bild des Kriegers im Jetzt. Jegliche Reform wird belächelt und sei sie noch so radikal herbeigeführt worden. Statt sich zusätzlich mit Produktionsweise auseinanderzusetzen wird sich, nah am Kitsch, nur noch der eigenen Gefühlslage hingegeben. Derweil sollte man sich bestimmter Forderungen nicht schämen. Den Vorwurf der Sozialdemokratie kassiere ich gerne, wenn mir die Mittel radikal und ein Horizont der Möglichkeiten erscheinen. Forderungen können zur schnellen Besänftigung sozialer Umbrüche führen, aber diese ebenso schnell entfachen. Ein vor sich hin Wabern bestimmter Phrasen motiviert keine Massen. Und die braucht es in einem gewissen Maß, ob man sich das eingestehen mag oder nicht. Gegenwärtig kann dieser Umstand an den Gelbwesten studiert werden.
In der Kommune steckt immer noch die umfassendste Sprengkraft neuer sozialer Beziehungen. Wo sie auch immer historisch auftauchte, enthielt sie einen Ausblick auf das Bessere. Das Wissen darum ist allgemein schlecht verankert. Kritik wird maximal im Sinne von Naivität geäußert. Die Katastrophen realsozialistischer oder kommunistischer Regierungen fehlen. Austausch und Entscheidungsfindung werden unmittelbar spürbar und bleiben doch dem Einzigen überlassen. Die vorhandene Möglichkeit ist, was zählt. Schnell waren Wirtschaftsexperten dabei die Gelbwesten als dumme Leute ohne Verstand für die Wirtschaftsweise darzustellen. Doch was bringen mir schwarze Nullen, wenn es mein Leben nicht berührt? Zumal die wirklichen wirtschaftlichen Katastrophen vormals selten als solche erkannt wurden und das Schreckgespenst nur bei Missgunst des Empires auftaucht. Die Kommune sorgt für Überschaubarkeit und denkt förderativ. In alten Bewegungen tauchte die Parole des „Think global, act local“ auf und meint eben diesen Umstand. Kein borniertes Gefasel von Mythen umrankter Souveränität einzelner Staaten, sondern Wissen um die globale Verzahnung des Lebens und Handeln vor der eigenen Haustür. Es wird be- und greifbar – und somit veränderbar. Reden wir nicht vom Menschen neuen Typs, vielmehr von der einzig gültigen Aussage über die Gattung Mensch: die Gewohnheit erfährt Umformung. Das benötigt Zeit, aber weiß die bisherige Menschheitsgeschichte mit all seinen Wendungen auf seiner Seite.
Man sollte sich also nicht schämen, wenn man sich nicht komplett dem Projekt Abenteuer hingibt und zuletzt immer in der isolierten, abgemagerten Illegalität ankommt. Ich denke, allein Militanz wird ein Teil von Menschen immerzu aktiv ablehnen – den bewaffneten Kampf umso mehr. Dabei geht es auch nicht um die Ablehnung an sich, sondern um die geduldete Akzeptanz. Das Konzept Massenmilitanz verspricht da mehr Hoffnung und feiert nach wie vor seine größten Erfolge. Gegenwärtig sind wir Zeuge bei Betrachtung der Gelbwesten-Proteste. Darum muss es immer gehen. Allen Szenedünkel und aller Repression zum Trotz gilt es sichtbar die Themen unter der Ägide egalitärer Prinzipien zu setzen. Sich also an die Spitze einer Bewegung stellen, wie es beim Cortège de Tête so beeindruckend gelingt. Immer mit dem Wissen, dass die Entschlossenheit wichtiger ist als eine maximale Anzahl an Personen. In dieser so passiven Gesellschaft reicht bereits ein kleiner, wilder und permanenter Haufen um Diskurse zu bestimmen. Was aber viel wichtiger ist: handlungsfähig zu werden, Gegenmacht zu ergreifen und materiellen Nachdruck zu hinterlassen.
Wenn in einem kleinem Landstrich von Frankreich zur Verhinderung eines Flughafens der vorgesehene Platz zur Zone à défendre erkoren wird und ein Schmelztiegel unterschiedlicher Mittel zum Vorschein kommt, dann gibt das einen Ausblick auf zukünftige Kämpfe. Zumindest in seiner Anfangszeit. Milieu übergreifendes Handeln ohne Spaltung in der Frage der Militanz. Permanent vorhanden, permanent mobilisierbar. Erst der Abbruch des Projekts durch den Staat und somit des gemeinsamen Nenners, ließ die Bewegung sich spalten. Nicht hinsichtlich der Frage von Gewalt, sondern um staatliche Anerkennung eigener Projekte. Die Nicht-Verhandelbaren wurden mal wieder den Bullen zum Fraß vorgeworfen. In seinem Ende tragisch, doch trotzdem imponierend. Weitaus weniger konfrontativ gab es in Deutschland zuletzt einige gelungene Interventionen. Erinnert sei an die Verteidigung des Hambacher Forst oder die Verhinderung eines Google Campus in Berlin-Kreuzberg. Beides vielseitig in den Mitteln und auch permanent. Hingegen mangelt es nicht an Massendemonstrationen, wie die Proteste gegen neue Polizeigesetze oder für eine offene Gesellschaft. Aber sie verpufften als kurzes Happening. Eine Randbemerkung ohne Nachdruck, obwohl es an Leuten nicht gefehlt hat. Man muss sich dem Palaver um Gewalt entziehen, wenn es sich doch in seiner Mehrheit um Sachbeschädigung in einer Hemisphäre des Überflusses handelt.
Und so bleibt letztlich der Gedanke von Hoffnung ständiger Begleiter in trüben Zeiten. Was im Augenblick zäh und festgefahren scheint, kann innerhalb kurzer Zeit Lichtblick für bessere Zeiten sein. Italien, Deutschland, Griechenland, Frankreich… das antagonistische Lager wechselt beständig seinen Ort und imponiert doch gleichwohl woanders. Spuren werden hinterlassen, Splitter bleiben und Botschaften vermittelt. In der steten Hoffnung, aus der Flaschenpost möge ein Molli entstehen.
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