II. Von Frankreich lernen, heisst kämpfen lernen
Es ist nur eine unsichtbare Grenze, die beide Länder voneinander trennt. Um ein Vielfaches unsichtbarer, seit der institutionelle Weg einer Europäischen Union gegangen wird. Bezogen auf die Kämpfe um ein würdevolles Leben in der jüngeren Vergangenheit könnte man meinen, man habe es mit zwei Welten zu tun. Dabei ist der Gedanke absurd. Die Ähnlichkeit der täglichen Abläufe gleicht sich rund um den Globus und kennt geschichtliche Perioden. Sie zeugen vom Begehren nach der unumkehrbaren Situation oder Sehnsucht nach rasendem Stillstand. Utopie oder Traurigkeit. Die Wahl der Mittel unterscheidet beide Länder immens und macht den entscheidenden Unterschied. Deutschland und Frankreich, es gibt einiges zu lernen.
Die Voraussetzungen sind denkbar ungleich. Das fängt mit der im kollektiven Gedächtnis verankerten Geschichte des Landes an und endet im Jetzt der Lehren aus vergangenen Kämpfen. Der kollektive Sturm auf die Zentrale der Herrschaft in Form der Bastille ist Zeugnis von Gegenmacht. So etwas lebt fort. Es ist antreibende Kraft, wenn Ohnmacht der Aktion im Weg steht. Man weiß um die Möglichkeit des Umsturzes und der damit verbundenen Freude am Leben. Anders in Deutschland. Der große Umsturz währte zu jeder Zeit nur kurz. Jedes überschießende Potenzial sozialer Kämpfe wusste die Regierung zu integrieren. Die radikalen Momente wurden im Kugelhagel erschossen, wenn sich grundsätzliche Widersprüche nicht befriedigen ließen. Das Organisationstalent überrascht bis heute, aber Bürokratie kann nie den sichtbaren Konflikt ersetzen. Die Detailverliebtheit der Deutschen entzückte bereits Marx im 19. Jahrhundert. Doch waren es letztlich die chaotischen Zustände spontaner Aufstände und Räte vor 100 Jahren, die bleibenden Eindruck hinterlassen haben. Sie sorgten für Restbestände demokratischer Prinzipien, welche bis heute verwässert nachwirken und als Common Sense gelten. Der radikalen Herkunft wird sich zumeist entledigt. Sie bleibt Splitter der Geschichte. Verstaubt in Archiven grauer Literatur oder verpackt als Event in nostalgischen Rückblenden. Das Weiter-so hat das Weitermachen ersetzt.
Auch sollte man den realpolitischen Rahmen nicht außer Acht lassen. Die Rolle des Präsidenten spielt in Frankreich eine deutlich größere Rolle als in Deutschland. Hierzulande spiegelt sich das moralische Gewissen in Gestalt des Präsidenten. Es gibt ethische Betrachtungen zur Lage der Nation, mehr aber auch nicht. Ein weit verzweigtes Netz föderativer Bundesländer sorgt für die gegenseitige Schuldzuweisung gegen den Bund oder umgekehrt. Die Kanzlerschaft bietet dabei noch die größte Zielscheibe für allgemeinen den Frust und die Wut. Doch auch hier nimmt das Parlament einen größeren Raum in der Wahrnehmung vieler Bevölkerungsteile ein. Hatte ich schon erwähnt, dass die Perfidie ein Meister aus Deutschland ist? Letztlich genießt das Parlament ein hohes Ansehen im Austausch unterschiedlicher Positionen. Man kennt die Anmerkung bei Verbitterung über die alltägliche Tristesse, man solle doch in die Politik gehen. Gerade nach Ende der Weimarer Republik wisse man doch, dass alle Skepsis bis Gegnerschaft zum Parlament notwendig in der schlechteren Aufhebung enden. Konkreter gesagt: im Faschismus. Da hilft auch jedweder Verweis auf die radikaldemokratischen Prozesse vor der Etablierung der Weimarer Republik nichts. Außenparlamentarischem Agieren wird keine Hoffnung geschenkt, obwohl man anhand französischer Verhältnisse ein gegenteiliges Bild bekommen könnte.
Der Präsident gibt ein gutes Bild vom klassischen Tyrannen ab. Eine Vielzahl von Entscheidungen fließen in seiner Person zusammen, weswegen die Wut so herrlich kanalisiert werden kann. Man könnte es auch in Deutschland tun – ein Irrglaube, wenn nicht gar Ideologie, wenn von ausschließlich unpersönlicher Herrschaft ausgegangen wird – ohne in die Fallstricke autoritärer Sehnsucht zu verfallen. In Frankreich ist der politische Betrieb etwas anders gestaltet. Man weiß um die Macht der Guillotine. Am Volksbegriff ist zwar auch dann nichts zu retten, aber zumindest meint die tatsächliche Zusammensetzung dieses Volkes gemeinhin etwas anderes als in Deutschland. Blut und Boden im Sinne einer Kulturnation sind schließlich die weitaus wichtigeren Stützpfeiler des deutschen Volkes als es die Tyrannei aufgrund sozialer Klassen im französischen Kontext ist. Es stimmt, wenn jetzt empört auf die Popularität ethnopluralistischer Ideologie in Frankreich verwiesen wird. Wichtige Denkschulen und Organisationen dienen als Leuchtturm für ähnliche Gruppierungen im Ausland. Aber in der jüngeren Vergangenheit wurden diese im Eifer des Gefechts an den Rand gedrängt. Kritik im Handgemenge, wie man sie in Deutschland so schmerzlich vermisst.
Die globale Revolte von ’68 hatte in Frankreich eine ungeheuer größere Sprengkraft als es in Deutschland der Fall war. Ein wichtiger Faktor hierfür war die Auflösung der Trennung von studentischen und proletarischen Milieus. Die Kämpfe wurden viel stärker zusammen gedacht und auch gegenteilig angenommen. Der Knall an der Sorbonne imponierte viel eher statt zu entfremden. Der gegenseitige Bezug auf die jeweilige Lage führte zu allgemeiner Solidarität zwischen Studenten und Proletarisierten. Schnell wurden Komitees gegründet und sich im jeweiligen Konflikt gegenseitig unterstützt. Die Stärken und Schwächen der unterschiedlichen Ausgangslagen wurden als allgemeiner Vorteil gedacht und entsprechend gehandelt. In Erinnerung an die militanten Siege vergangener Tage musste sich auch bei weitem keiner so sinnfreien Gewaltdebatte gestellt werden, wie sie doch bis heute beim kleinsten zivilen Ungehorsam in Deutschland vorkommt. Universitäten wurden besetzt und Betriebe bestreikt. Der legendäre Mai ’68 war das Zusammenspiel beider Lager zum größten wilden Generalstreik in der Geschichte.
Die deutsche Situation in der Revolte ’68 kennt das jugendliche Aufbegehren gegen die Elterngeneration, nicht den allgemeinen Aufruhr. Die sozialrevolutionären Parolen blieben vielerorts im luftleeren Seminarraum, wo hingegen der Marxismus Karriere machte – und blieb. Die gegenseitige Verachtung von studentischen und proletarischen Milieus konnte nicht überwunden werden. Für die einen sind es arbeitsscheue Lumpen, für die anderen bildungsfernes Pack. Obwohl zumindest die versuchte Intervention in Betriebe oder sogar Militär weitaus größeres Bemühen geschenkt wurde als heute. So aber erschöpfte sich der Protest in neuen Jugendkulturen mit passendem Lifestyle. Zerpflückt in der Durchschlagskraft widmete man sich nun Teilbereichskämpfen. Die geschaffenen Nischen wirken bis heute fort und schufen Bilder, wo Inhalte sein sollten. Dem Staat soll es recht sein, so lange die Spielregeln eingehalten werden. Trotz alledem resultiert auch eine Vielzahl neuer Versuche, wie alternative Medien oder Kollektivbetriebe, aus dieser Zeit. Nur gelang eben nicht der große Wurf und die Begierden blieben fragmentiert. Während- dessen ließen sich weite Teile der gehorsamen Bevölkerung für die Hatz auf vermeintliche Führungsfiguren begeistern und setzten zum Schuss mit der Waffe an.
Auch in Frankreich siegte letztlich die Reaktion und nach einem Monat Notbremse sorgten wenige Reformen für ein Ende der Bewegung. Die Erfahrung indes blieb und fand seine Nachahmung einige Zeit später in Italien. Grundlegende gesetzliche Einschnitte in das Leben vieler bewirken ständig eine Flut unterschiedlicher Aktionsformen und deren grundlegende Sympathie in der Bevölkerung Frankreichs. Brennende Bengalen, Reifen und Blockaden gehören zum Repertoire gewerkschaftlicher Kämpfe. Auch der Chef eines Betriebs wird mal so lange eingeschlossen bis eine Lösung gefunden wurde. Was jedoch viel entscheidender ist, ist die schon benannte Solidarität über den Arbeitsplatz hinaus. Schüler und Studenten wissen um das Los der Zukunft und tragen ihre spezifischen Kämpfe in die somit formierte Bewegung ein. Logisch, wenn die Abneigung gegen die Polizei sehr viel verbreiterter ist als in Deutschland. Solche Kämpfe zwingen die Ordnungsmacht zur Umsetzung ihrer Daseinsberechtigung, weshalb man sich nicht der Illusion einer gemeinsamen Ebene hingibt. Der Bürger in Uniform ist nun einmal die Knüppel schwingende Exekutive und wird selbstredend immer die staatlichen Interessen durchprügeln.
In Deutschland hingegen wird Getrötet, Gerasselt und sich in Müllsäcke gekleidet, wenn es zum Streik kommt. Die Kämpfe finden als Begleitmusik zum Treffen der jeweiligen Delegierten statt. Milieu übergreifende Kämpfe gibt es nicht. Selbst stundenweise Niederlegung der Arbeit wird oftmals mit Unverständnis begegnet. Schnell weiß man zu rechnen oder andere Anhaltspunkte zu finden um die Streiks zu diskreditieren. Die Verhältnismäßigkeit wird in Frage gestellt und sich darüber empört, dass sich um die eigene Lage auch niemand kümmert. Die Presse gibt ihr übriges dazu. Es sei beispielhaft an den Streik der GDL 2014 erinnert und an den Hass auf einen Streik abseits bekannter Wegmarken. Selbst die Adresse des Gewerkschaftsführers wurde genannt. Man klagt über das tägliche Leid, aber begehrt selbst nicht auf und verachtet jene, die es wagen. Man frisst die Lügen einiger Wirtschaftsexperten um sich in seiner Passivität zu bestätigen. Man stimmt in das Geheul der Politik zum Erhalt des Standorts ein. Kurzum: Man lässt sich von der Macht der anderen und der eigenen Ohnmacht dumm machen.
Es wäre natürlich falsch, in Frankreich das ersehnte Utopia zu erblicken. Die gesellschaftlichen Kräfte kennen Perioden der Höhen und Tiefen. Die jüngere Vergangenheit und Gegenwart lässt nach Jahren der Flaute jedoch wieder Hoffnung schöpfen. Man erhascht einen Blick auf die Auseinandersetzung gemäß der Zeit. Als neuartigen Beginn kann der Konflikt gegen das Loi Travail im Jahre 2016 gewertet werden. Ein Gesetz mit dem Ziel allumfassender Reformen. Reform klingt zeitgemäß und vernünftig, aber meint zumeist die Erweiterung materieller Ungleichheit zugunsten hierarchischer Systeme. So auch hier. Flexibel müsse man heute sein. Ständig an sich arbeiten, Soft Skills aneignen, ohne festen und schon gar nicht bezahlbaren Wohnsitz. Die Mitsprache im Betrieb erfolgt über den Betriebsrat und dessen Machtpotenzial wird eingeschränkt. Der private Besitz und die Beziehungen entscheiden nach wie vor im großen Maße darüber wohin die Reise von Geburt an gehen wird. Die paar Tellerwäscher die es nach oben geschafft haben werden dann medienwirksam herumgereicht um der Ideologie Ausdruck zu verleihen. Jedenfalls sorgte sich ein Teil der Bewegung um eine Verschlechterung der Tarifverträge und anderer Arbeitsbedingungen, während ein anderer Teil den miesen Zukunftsaussichten und allgemeiner Langeweile den Kampf ansagte. Über einen Zeitraum von vier Monaten wurde wöchentlich demonstriert, randaliert und gestreikt. Die Blockaden waren bekannt, ebenso die Massendemonstrationen der Gewerkschaften mit all den großen Ballons. Nur formierte sich an der Spitze der Demonstration ein faszinierendes Zusammenspiel mit dem Ziel direkter Konfrontation. Das Gespenst des Cortège de Tête war geboren. Ein Mix aus jenen Teilen der Gesellschaft auf der Suche nach Gegenmacht, Erlebnis und Zuspitzung des Konflikts. Sich den gesetzten Spielregeln entziehen, wenn die eigene Misere durch diese Regeln erhalten bleibt. Auch mit Wissen um den Voyeurismus der Medien. Wo kein Krawall, da keine Aufmerksamkeit. Unabhängig von den offiziellen Demonstrationen legten beständig stattfindende spontane Demonstrationen die Route selbst fest und wehrten sich auch gegen polizeiliche Übergriffe. Jung und alt umarmte sich und traf sich am Abend beim Nuit Debout zum Plausch. Nicht wenige Umzüge starteten abermals von hier und sorgten für gehörig Unruhe. Jahre des Ausnahmezustands sorgten für Befugnisse auf Seiten der Polizei, die ein Aufbegehren erschwerten und den Beamten das ersehnte Bild der vertrauensvollen Ordnungsmacht sicherte. Dies fand nun sein jähes Ende. Dutzende Platzwunden und verstopfte Atemwege zeugen davon. Innerhalb kurzer Zeit entdeckte man das aufständische Potenzial des Baumarkts und wusste um die Zweckentfremdung nützlicher Utensilien. Die Taktik des Schwarzen Block war keine Modenschau radikaler Linker, sondern eben strategischer Umgang mit Polizei und Repression. Eine bemerkenswerte Bewegung wurde inmitten autoritärer Tendenzen geschaffen und sorgte für die lang ersehnte Hoffnung.
Es war nicht die Militanz, die zum Erliegen der Bewegung führte, mitnichten. Diese sorgte viel eher für den Aufschwung und die Aufmerksamkeit. Den ständigen Schikanen der Bullen trotzen und eine eigene Dynamik entfachen, entsprach dem Bedürfnis einer für gewöhnlich unsichtbaren Masse. Der Wut wurde Ausdruck verliehen und diese Gesten wussten zu verbinden. Die Abscheu gegenüber der Gewalt gab es selbstverständlich auch im eigenen Lager. Aber zur staatlich herbeigesehnten Spaltung der Bewegung kam es nicht. Dazu war der Moment von Selbstermächtigung zu stark und zu massenhaft geworden. Nach dem fulminanten Finale am 14. Juni in Paris folgte ein typisches Abflauen aufgrund der Ferien. Klammheimlich wurde das Gesetz mit wenigen Änderungen verabschiedet. Ein erneutes Aufflammen der Proteste wurde im September versucht, aber verebbte mit einem lautem Knall. Was blieb, war eine Niederlage im konkreten Ziel und ein Sieg im neu geschöpften Mut. Die politische Rechte wusste während der Kämpfe nicht damit umzugehen. Zu sehr ging es um ein würdevolles Leben aller Menschen. Die gewalttätige Begleitmusik des antagonistischen Lagers erzeugte schließlich umso mehr Distanz ordnungsliebender Untertanen. Die wichtigen Themen wurden gesetzt und Entschlossenheit demonstriert. Zukünftig wird man sich dieser Erfahrungen erinnern und Lehren daraus ziehen, soviel sei gewiss.
Lange musste man nicht warten. Bereits ein Jahr später erlebte das alljährliche 1. Mai Spektakel eine ungewöhnlich militante Neuauflage. Der politische Betrieb mit klassischem Personal war mittlerweile völlig am Ende. Die Sozialistische Partei ereilte dasselbe Schicksal wie anderen sozialdemokratischen Parteien: das Geschwafel von sozialer Gerechtigkeit wurde nicht mehr abgenommen, wenn der soziale Frieden am Ende die Kumpanei mit dem Kapital meint. All die feierlich verkündeten Reformen oder abgetrotzten Kompromisse bringen wenig, wenn sich grundsätzlich nichts ändert und die zerstückelten Erfolge keine subjektive Allgemeinheit beinhalten. Die wirtschaftliche Expertise frohlockt, wohingegen die Mehrheit keine nennenswerte Veränderung spürt. Es rächt sich nun, dass die anvisierte Zielgruppe lieber den Konflikt sucht als ständige Kompromissbereitschaft. Zumal der moralische Schein in Anbetracht konservativer Konkurrenz um ein Vielfaches lächerlicher wirkt. Eine neue bürgerliche Partei siegte in den folgenden Präsidentschaftswahlen und nannte sich da Bewegung, wo es den Sitz im Parlament vorzog. Das ganze Dilemma heutigen Liberalismus vereint sich in dieser Partei. Smart und liberal in der Akzeptanz unterschiedlicher Geschmäcker. Hart und liberal in der Missachtung sozialer Gleichheit. Schon früh ahnten Gewerkschaften und soziale Bewegungen, dass die Abwehr der politischen Rechten keine Strategie der radikalen Umgestaltung folgen würde. Die persönlichen Freiheiten orientierten sich an der Wahl individueller Identität, nicht am materiellen Reichtum. Es sollte nicht lange dauern und Frankreich erlebte einen eruptiven Ausbruch, wie man ihn nicht hätte voraus- ahnen können.
2018 stand im Zeichen von 50 Jahre ’68. Überall erschienen Bücher um über das Erbe dieser folgenreichen Jahre zu resümieren. Zeitzeugen wurden eingeladen um sich für ihr einstiges Engagement zu feiern. Die politische Rechte tobte über den seitdem grassierenden Sittenverfall, was Auskunft über einige wirkliche Siege der damaligen Bewegung gibt. Doch im Großen und Ganzen war es ein nostalgisches Erinnern. Eine Ermutigung zu neuen Tatendrang suchte man vergebens. Wenige Zeitzeugen in Deutschland haben sich mittlerweile in reiner Provokation verloren und gefallen sich in der Rolle des konservativen Revolutionärs. Die radikale Kritik mancher Strömungen ist vergessen und man nimmt den moralischen Schein der Regierung für bare Münze. Sodann ist man Teil der „schweigenden Mehrheit“ um Heimatliebe als mutigen Gegenentwurf zu kultivieren. In der intellektuellen Pose gibt man sich als Realist, wo Mythos und Irrationalismus herrschen. Oder sie meinen, wie der Posterboy der Alt-Right, dass der Hype um die ganze alte Scheiße der zeitgemäße Punk ist. Was für kümmerliche Gestalten. In Frankreich kennt das Gedenken viel radikalere Erzählungen. Den unbekümmerten Plausch über vergangene Zeiten gibt es jedoch auch hier. Ein Graffito mit dem Ausspruch „Fuck May 68, Fight Now“ bringt die Trostlosigkeit auf den Punkt. Begleitet von Streiks im öffentlichen Dienst wurde zum 1. Mai diesmal international geladen. Was folgte, war ein imposanter Schwarzer Block und lange Straßenschlachten. Im historischen Quartier Latin gab es in den Abendstunden noch ein paar Scharmützel und so keimte zumindest kurzzeitig der Bruch mit der bestehenden Ordnung auf. Das sie einen langen Atem behalten sollten, hofften nur die größten Optimisten. Der spontane Charakter von 2016 wich der bekannten Choreografie. Die Polizei agierte planvoller, so dass neben dem Krawall vielmehr die massenhafte Annahme desselben zu beeindrucken wusste. Es war erkennbar, welche Anziehungskraft die französischen Zustände mittlerweile auf viele Leute auch außerhalb des Landes ausübt. Das Zusammenspiel von Jung und Alt in Konfrontation mit der Staatsgewalt hat Vorbildfunktion. Man sieht die Setzung eigener Interessen im Lichte von wirklich gelebter Gegenmacht. Das ermöglicht Handlungsräume von denen vorher kein Winkel zu erkennen war.
Die Regierung unter Macron wird in Deutschland als starke Kraft europäischen Denkens wahrgenommen. Sein ausdrücklicher Wunsch nach einer wirkmächtigeren EU lässt ihn kosmopolitisch erscheinen. Dem Einknicken vor der Wirtschaft zu Ungunsten der Lohnabhängigen tut das keinen Abbruch. Es verträgt sich geradezu prächtig mit den seit Jahren bekannten Hartz 4 Zwängen in Deutschland. Nicht umsonst, wurden die Arbeitsgesetze von 2016 in ihren Auswirkungen mit denen von Hartz 4 verglichen. 2004 übte sich die radikale Linke bei den damaligen Montagsdemonstrationen in Distinktion und der große Wurf gelang natürlich nicht. Man beließ es schließlich beim ordnungsgemäßen Demonstrieren ohne wirklich Druck auszuüben. Auch Macrons Regierung spürte bei den ersten Arbeitskämpfen seit Antritt seiner Präsidentschaft keinen allzu großen Druck. Die Mittel der Gewerkschaften waren bekannt, genauso wie ihre beschränkte Reichweite. Es konnte also nach Jahren der sozialen Proteste kein wirklicher Erfolg erreicht werden. Mit dieser Erfahrung im Hinterkopf entfachte ein vollkommen unterschätzter Funke einen Flächenbrand, der in seiner Tragweite dann doch noch knapp vor Jahresende ein würdiges, diffuses Gedenken an 50 Jahre ’68 herstellte. Der Beginn der Gelbwesten-Bewegung.
Im November 2018 sorgte ein Gesetz zur Erhöhung der Spritpreise zu Beginn des kommenden Jahres für Unmut in den Provinzen. Die Städte der Reichen sorgen für ständiges Pendeln verdrängter Proleten aus der Provinz. Das Auto ist unabdingbare Voraussetzung zum Verkauf der eigenen Arbeitskraft. Neben den sonstigen Kosten nun auch noch mehr für das Pendeln zum Arbeitsplatz zu bezahlen, sorgte für reichlich Ärger. Die existenziellen Sorgen verschafften sich Ausdruck in den sozialen Medien des Internets. Die Wichtigkeit, aber auch Ambivalenz, des Internets – einerseits Plattform zur Schaffung und Organisation sozialer Bewegungen, andererseits Kotztüte für all die anonymen Ekelhaftigkeiten dieser Welt – zur Schaffung sozialer Bewegungen im 21. Jahrhundert wurde so einmal mehr deutlich. Eine kollektive Identität, für alle annehmbar, wurde erkoren: die Warnweste. Ein gelungener Clou, findet sich die gelbe Weste doch in jedem gut sortierten PKW und ist als Sichtbarmachung bei Gefahr gedacht. In Videos wurde zu Blockaden der Verkehrskreisel aufgerufen. Auch Mautstellen wurden genannt. Was als originelle Idee anfing, fand seinen Widerhall in 300 000 Körpern mit Warnweste. Parallel zu den Blockaden gab es in Paris auch erste Zusammenstöße mit der Polizei. Die Klassenzusammensetzung der Bewegung war sich seiner Frontstellung gegen die Regierung im Allgemeinen und Macron im Besonderen einig. Uneinigkeit bestand, wie so oft, über das Danach. Die Symbolpolitik des Geschehens kannte auch unterschiedliche Facetten. Eine generelle Skepsis war jedoch bei allen etablierten Organisationen und Parteien jeglicher Couleur vorhanden. Zu diffus war das Geschehen. In jedem Fall gelang die Überraschung und sorgte für weiteren Auftrieb. Es folgte der bis heute stattfindende Turnus von täglichen landesweiten Blockaden und samstäglichen Demonstrationen. Dem Spektakel gebührend werden die Demos als „Akt“ bezeichnet. Die Peripetie soll der Rücktritt Macrons sein, zumindest für ein Gros der Bewegung. Bereits beim 2. Akt kam es zu heftigen Ausschreitungen auf den Champs Élysées in Paris. Diese Meile der Arroganz und Herrschaft war Angriffsfläche böser Leidenschaften. Was auffiel, war der zahlenmäßig geringe Protest. Es werden später 5000 Menschen bei den Zerstörungen gezählt, die einen Handlungsdruck und Aufmerksamkeit erzeugten wie sie schon lange keine soziale Bewegung zu schaffen wusste. Wer braucht auch schon Massen, wenn es an Entschlossenheit fehlt? Die Regierung geriet zunehmend unter Druck. Für den kommenden Akt wurde das Polizeiaufgebot erheblich aufgestockt und Empörung über die Casseurs bekundet. Die alte Leier zu Gewaltverzicht mit Folge der Aufspaltung einer Bewegung um den Preis ihrer kompletten Zerlegung ging jedoch nicht auf. Der 1. Dezember 2018 sorgte für eine Verwüstung des Champs Élysées und anderer Teile Paris, wie sie von manchen selbst zum historischen Mai ’68 nicht beobachtet wurde. Es wurde zerstört und geplündert. Ein Fanal stellte die heilige Entweihung des Arc de Triomphe dar. So etwas hatte es vorher noch nicht gegeben. Spätestens jetzt war das Thema omnipräsent in der französischen Gesellschaft. Parallel dazu gab es auch erste landesweite Blockaden von Schulen um abermals eine Reform der Regierung zu verhindern. In einer ersten Reaktion verkündete die Regierung die Verschiebung der geplanten Spritpreiserhöhung um ein halbes Jahr. Ein schlechter Scherz! Denn was würde sich innerhalb eines halben Jahres groß an der Lebenssituation ändern?
Die Proteste gingen weiter. Für den 8. Dezember wurden Sehenswürdigkeiten in Paris geschlossen, Luxusläden mit Sperrholz dekoriert und die selten gesehenen Räumpanzer der Polizei fuhren auf. Es nützte alles nichts. Wieder kam es zum Krawall, wieder gingen landesweit mehrere zehntausend Menschen auf die Straße. Sowieso war die Breite der Proteste beachtlich. Größere und kleinere Städte, wie auch Provinzen, nahmen auch an diesem Akt teil. Der Präsident hielt sich bis dahin mit einer offiziellen Rede zur Bewegung zurück. Dies änderte sich zwei Tage später. Ein milliardenschweres Sozialpaket wurde angekündigt. Natürlich mit all seinen Zwischenzeilen, die erst beim zweiten Lesen die falsche Umverteilung der Gelder deutlich machen und an der generellen Ungleichheit nichts ändern. Trotzdem kann das Abtrotzen vom Monsieur le Capital als großer Erfolg verbucht werden. Der sonst so siegestrunkene Macron musste öffentlich einknicken. Ein Freudentag. Endlich Teil einer Bewegung. Es gibt wieder Hoffnung. In Riot we trust.
Um zumindest die Dynamik der Proteste zu verringern, wurde eine landesweite Debatte angekündigt. Ließ sich die Bewegung nicht mit der Gewaltdebatte befriedigen, so musste es eben im Palaver sein. Eine Website wurde eingerichtet und Fragen durften eingereicht werden. Monsieur Macron schaute demonstrativ auch in den hinterletzten Ecken von Frankreich vorbei und stelle sich einigen Fragen. Fundamental ändern durfte sich natürlich nichts. Parallel sahen einige bekanntere Gesichter innerhalb der Bewegung ihren großen Auftritt für gekommen und meinten sich als Repräsentanten der Gelbwesten mit der Regierung treffen zu müssen. Die Erkenntnis der ersten Stunde – lass dich niemals von einer Organisation vereinnahmen – fand glücklicherweise auch hier ihre Anwendung. Unter Drohungen musste das angekündigte Treffen abgesagt werden. Die erhoffte Karriere fiel aus. Unterdessen gingen die Zusammenkünfte der Gelbwesten unbeeindruckt weiter. Selbst die Ferien sorgten für keine Atempause, so dass es auch im neuen Jahr weiterging. Ein Ende ist aktuell nicht in Sicht. Für viele Spezialisten haben wir es mit der wirkmächtigsten Bewegung der letzten Jahrzehnte zu tun.
Der Verlauf der Bewegung kennt Phasen der inneren Gemengelage. Gerade zu Beginn war es kein seltenes Bild, wenn es zu Schlägereien zwischen faschistischen und antifaschistischen Gelbwesten kam. Die jeweilige Ausgangssituation der Städte spielt bei der Intensität der Kämpfe selbstredend eine wichtige Rolle. Wie überall, wurden unterschiedliche Antworten auf die soziale Frage gegeben. Doch wurde eine Elitenkritik mit dem Ziel einer autoritären, homogenen Gemeinschaft zunehmend zurück-gedrängt. Die Intervention von faschistischen Gruppen ist gegenwärtig faktisch nicht mehr vorhanden. Vielmehr ist man in Hochburgen der Bewegung wie Lyon dazu übergangen Teile der Demonstration anzugreifen. Es zahlt sich also aus neben all der Scheu vor ungemütlicher Sprache, Verhalten und fehlender Erfahrung eigene Perspektiven in die Bewegung zu integrieren und notfalls zu verteidigen. Ein Schritt, den weite Teile der radikalen Linken in Deutschland aktuell nicht gehen würden. Zu ungewohnt ist das Terrain und zu alt die gesammelten Erfahrungen. Direkte Aktionen bleiben autonomen Bezugsgruppen überlassen, die mit kleinen Nadelstichen in den Boulevardblättern der Metropolen für Schlagzeilen sorgen. Eine massenhafte, permanente Revolte ist das aber leider nicht. So bleibt man, versteckt in der Dunkelheit, der mysteriöse Bürgerschreck und kann Erfahrungen nicht teilen, die sich an Widerstand gegen die Ohnmacht versucht. Doch wäre es selbstgefällig und langweilig in den Kanon der Kritik einzustimmen. Eher sind solche atomisierten, mutwilligen Vandalen zu begrüßen. In ihren besten Tagen sorgen sie für soviel Aufsehen, dass allgemeines Interesse entsteht und der Staat unter Druck gerät. Der Kampf um die Rigaer 94 in Berlin war so ein Ereignis, wenngleich es ein kurzer Wimpernschlag war. Die Frage ist: Warum bleibt so etwas der Dunkelheit überlassen und findet seine Anwendung nicht auch bei Tageslicht?
Nun sollten unterschiedliche Rahmenbedingungen nicht nivelliert werden. Die Polizeigewalt in Frankreich funktioniert durch frontale Angriffe und besonders brutale Gadgets. Die Menge wird durch Tränengas zerstreut und die Existenz durch Gummigeschosse in Frage gestellt, was eine kollektive Erfahrung für alle Beteiligten auslöst. Es ist nicht das psychologische Spiel der BFE um schließlich bei allgemeiner Paranoia alles sein zu lassen. Es ist das gemeinsame Weinen und Würgen um schließlich gemeinsam zurückzuschlagen. Klar, gibt es auch in Frankreich die allseits gehassten Flics. Die Aktivität und die Kontrolle einer ganzen Demonstration wird in den meisten Fällen in Deutschland trotzdem hermetischer ausgeführt. Wobei die ständig vorhandenen Möglichkeiten bei einer entsprechend großen Masse schneller und sinnvoller genutzt werden, wo man sich in Deutschland mehr an kreativer Inszenierung erfreut. Die Kreativität einer chaotischen Szenerie wird nur von wenigen erkannt. Brutalität der Polizei findet eine viel größere Akzeptanz, trifft sie doch schließlich gezielt einzelne Störer mit denen man nichts zu haben möchte. In Frankreich gibt es auch die Verurteilung von Gewalt, nur schadet sie nicht zwangsläufig einer ganzen Bewegung. Mehreren Umfragen zufolge erfreuten sich die Gelbwesten auch nach den Krawallen hoher Zustimmung in der gesamten Bevölkerung. Es wurde im gleichen Atemzug auf Handyvideos und Ähnliches verwiesen, wenn es um Polizeigewalt ging – ein Treppenwitz, der in Deutschland nicht aufgeht, wo selbst die schlimmste Prügelorgie mit Recht und Ordnung begründet wird. Am Ende siegt immer das Gesetz über die Würde.