Mina Kanewi
Das Verschmelzen von Assimilitäten
Paris, September 1888
Werthe Genossen!
Der Artikel „Unsere Presse“ in Nr. 49 der „Autonomie“, sowie Eure Antwort darauf sind so zeitgemäß, dass deren nähere Diskussion nur von großem Nutzen sein kann. Dieses veranlasst mich denn auch meine Ansichten – Früchte langen und reiflichen Nachdenkens – den Genossen mitzutheilen.
Es liegt im Wesen der allmählichen Entwickelung auf menschlichem Gebiet (wenigstens war dies bis heute der Fall), dass die Theorie der Praxis unendlich weit voraus ist und, dass sie diese meistens erst mit aller Gewalt und mit zahllosen schweren Opfern aus dem Schlamme der Einförmigkeit herausziehen muss.
Betrachten wir [uns] nur einmal selbst: Während unsere Theorien dem geistigen Blick bereits ein ganz neues unabsehbares Feld bieten, ist unsere praktische Thätigkeit, mit wenigen Ausnahmen, noch ganz und gar von dem Bourgeoisschlendrian angekränkelt. Unser Gruppenwesen, die Art der Propaganda etc. sind grösstentheils Nachäffungen oder Überbleibsel alter Vereinsmeierei, welche höchstens als Piedestal ehrgeiziger Krakehler oder als Auskunftsbureaux der Polizei dienen.

Für eine grosse Anzahl von Genossen ist überhaupt nicht so sehr die Propaganda oder die Ausbildung die Haupttriebfeder sich einer Gruppe anzuschliessen, als vielmehr das Bierhaus, das Bedürfniss nach einem Gesellschaftskreis um der Eintönigkeit der Lebensweise auf einen Augenblick zu entfliehen, d.h. sich als Anarchisten aufzuspielen.
Selten wird von Solchen durch den Rest der Woche das Gehirn mit Principienfragen angestrengt; wozu auch! In Grundprincipien ist man sich ja einig (?) und das Übrige ist ja reine Nebensache – dazu ist in der Gruppe Zeit genug! Da gibt es schon Redner, die eine Diskussion einleiten. – O, die schrecklichen Diskussionen, welche mit der Zeit zur mechanischen Abwickelung von Gewohnheitsphrasen ohne tieferes Verständniss werden, die anstatt den Geist zu erfrischen, ihn nur ermatten und allen Absurditäten zugänglich machen.
Alles was Genosse X. gegen die Zeitungen anführt, ist viel richtiger auf die Gruppen anzuwenden, ja es ist von noch eingehend grösserem Nachtheil, da hier der Eindruck auf den Indifferenten, durch die persönliche Gegenwart noch viel peinlicher ist. Nicht so sehr die Zeitungen, als vielmehr die Gruppen im heutigen Sinne, für die Genosse X. so sehr eintritt, sind es, welche geeignet sind, uns geistig und materiell zu paralysiren. So wie dort die Papierhändler, so sind es da die Wirthe, welche den Löwenanteil kriegen und es jedem armen Genossen unmöglich machen mitzuwirken.
Täglich mehrt sich auch die Zahl der Genossen, welche mit den Gruppen, dem Propagandawesen und anderen Dingen unzufrieden sind, deren Gebrechen und das sie durchschleichende Gift der Corruption erkennen und davon angeekelt oder entmuthigt zu Pessimisten oder unerträglichen Stänkern werden. Eines so tadelhaft wie das Andere.
…
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Der Platz eines wahren Anarchisten ist nicht so sehr in einer Gruppe von Seinesgleichen, als unter dem Volke. Er darf sich ebenso wenig heute als während der Revolution mit der Rolle eines blossen Mitgliedes begnügen, sondern jeder Einzelne soll einer Anzahl unaufgeklärter Proletarier als Leuchtthurm, als Kompass dienen. Wenn wir so handeln, dann sind wir nicht Anarchisten dem blossen Namen nach, sondern wir sind es wirklich.
O göttliche Einfalt, sich zu 20, 30 oder noch mehr in einem wo möglich abgeschlossenen Lokale versammeln und auf die Indifferenten wie Hanswurst auf die gebratenen Tauben wartend, um ihnen das Schauspiel unserer Kleinkrämereien und unseres prinzipiellen Rothwelsches zu bieten, anstatt einzeln oder zu zweien von Schenke zu Schenke, von Markt zu Markt und von Dorf zu Dorf (als Sonntagsausflüge) zu wandern und am Tischgespräch die Tagesereignisse und politischen Tageshelden mit echt anarchistischer Logik zu geisseln.
Was ist die Quintessenz anarchistischer Gruppirung anders als das Verschmelzen von Assimilitäten, gerade so wie es in der Natur oder in der Chemie stattfindet! Da aber heutzutage Assimilitäten durch die herrschenden Zustände in ihrer Entwicklung gehindert, ja sehr oft im Keime erstickt werden, so ist es selbstverständlich, dass eine anarchistische Gruppe unmöglich zahlreich sein kann, dass sie überhaupt das Gegentheil von der heutigen Gruppe sein muss.
Hier ein Entwurf zum besseren Verständniss:
B. Y, Z und W sind meine Freunde. d. h. unsere Charaktere harmoniren miteinander, unsere Ansichten vervollkommnen einander. Der gegenseitige Verkehr, je nach Umständen durch private Diskussionen oder brieflich, ist uns dadurch zur Notwendigkeit geworden, wir bilden somit eine natürliche Gruppe, und wenn auch Land und Meer uns trennen. Dem geistigen Bedürfniss gemäss erörtern wir nach und nach alle zeitgemässen Fragen, und die daraus folgenden Resultate trägt jeder mündlich unter das Volk. Jeder meiner Freunde hat somit wieder Freunde, mit denen er eine ähnliche Gruppe bildet.
Ihre Pflicht ist es nun sich unter dem Volke zu zerstreuen, dessen Gesammtcharakter und dessen Lebensweise zu studiren, alle politischen und ökonomischen Ereignisse für unsere Idee auszunützen und zu handeln, so bald diese eine Flugschrift oder ein Meeting notwendig machen. (Und sollen beide von guter Wirkung sein, so müssen sie stets am rechten Ort und zur rechten Zeit ins Werk gesetzt werden.)
Was bedarf es dazu? Der Mittel! Ich wende mich an meine Freunde und Gesinnungsgenossen. Diese wenden sich an die ihrigen u.s. w.. und bei etwas gutem Willen werden wir mit wenigen Opfern sicher schneller und mehr zusammen kriegen, als dies heute durch alle Lockmittel möglich Ist.– Oder die Organisirung? Zwei tüchtige Genossen sind mehr zu thun im Stande, als alle heutigen Gruppen mit ihren oft grotesken Anträgen, Beschlüssen und anderer Vereinsmeierei.
Verfolgen wir nun im Geiste diesen gewiss sehr rohen Entwurf weiter, so sehen wir eine unendliche Verkettung zahlloser harmloser Gruppen, ein grossartiges, für die Polizei unerfassbares Ganzes, ein kräftiges Ineinanderwirken vollständig autonomer Individuen ohne jede Spur von äusserer Organisation und ohne Grund zu Stänkereien.
Wir werden aufhören eine „Partei“ zu sein was meiner Ansicht nach ein grosser Fortschritt ist aber unsere Idee wird sich mit uns unter das Volk zerstreuen und sich erst dann in seinem Thun und Lassen verkörpern. Wir sind endlich nicht nur theoretisch sondern auch wirklich Anarchisten geworden. […]
Mina Kalewi