Karl Marx (Teilweise zitiert nach Walter Benjamin)
Konspirationen, compagnonnage
[Man kennt die Neigung der romanischen Völker zu Verschwörungen und die Rolle, die die Verschwörungen in der modernen spanischen, italienischen und französischen Geschichte gespielt haben. Nach den Niederlagen der spanischen und italienischen Verschwörer im Anfang der zwanziger Jahre wurden Lyon und namentlich Paris die Zentren der revolutionären Verbindungen. ... Es ist bekannt, wie bis 1830 die liberalen Bourgeois an der Spitze der Verschwörungen gegen die Restauration standen. Nach der Julirevolution trat die republikanische Bourgeoisie an ihre Stelle; das Proletariat, schon unter der Restauration zum Konspirieren erzogen, trat in dem Maße in den Vordergrund, worin die republikanischen Bourgeois durch die vergeblichen Straßenkämpfe von den Konspirationen zurückgeschreckt wurden. … Diese Konspirationen umfaßten natürlich nie die große Masse des Pariser Proletariats. Sie beschränkten sich auf eine verhältnismäßig kleine, stets schwankende Zahl von Mitgliedern, die teils aus alten, stationären, von jeder geheimen Gesellschaft ihrer Nachfolgerin regelmäßig überlieferten Verschwörern, teils aus neu angeworbenen Arbeitern bestand.
Unter diesen alten Verschwörern schildert Chenu fast ausschließlich nur die Klasse, zu der er selbst gehört: die Konspirateurs von Profession.] Mit der Ausbildung der proletarischen Konspirationen trat das Bedürfniß der Theilung der Arbeit ein; die Mitglieder theilten sich in Gelegenheitsver schwörer, conspirateurs d’occasion, d.h. Arbeiter, die die Verschwörung nur neben ihrer sonstigen Beschäftigung betrieben, nur die Zusammen künfte besuchten und sich bereit hielten, auf den Befehl der Chefs am Sammelplatz zu erscheinen, und in Konspirateure von Profession, die ihre ganze Thätigkeit der Verschwörung widmeten und von ihr lebten ... Die Lebensstellung dieser Klasse bedingt schon von vornherein ihren ganzen Karakter. Die proletarische Konspiration bietet ihnen natürlich nur sehr beschränkte und unsichere Existenzmittel. Sie sind daher fortwährend gezwungen, die Kassen der Verschwörung anzugreifen. Manche von ihnen kommen auch direkt in Kollisionen mit der bürgerlichen Gesellschaft überhaupt und figuriren mit mehr oder weniger Anstand vor den Zuchtpolizeigerichten. Ihre schwankende, im Einzelnen mehr vom Zufall als von ihrer Thätigkeit abhängige Existenz, ihr regelloses Leben, dessen einzig fixe Stationen die Kneipen der marchands de vin <Schankwirte, Weinhändler> sind – die Rendezvoushäuser der Verschworenen – ihre unvermeidlichen Bekanntschaften mit allerlei zweideutigen Leuten rangiren sie in jenen Lebenskreis, den man in Paris la boheme nennt. Diese demokratischen Bohemiens proletarischen Ursprungs [– es gibt auch eine demokratische Boheme bürgerlichen Ursprungs, die demokratischen Bummler und piliers d’estaminet <Kneipenstammgäste> –] sind also entweder Arbeiter, die ihre Arbeit aufgegeben haben und dadurch lüderlich geworden sind, oder Subjekte, die aus dem Lumpenproletariat hervorgehen und alle lüderlichen Gewohnheiten dieser Klasse in ihre neue Existenz übertragen. [Man begreift, wie unter diesen Umständen fast in jeden Konspirationsprozeß ein paar repris de justice <Vorbestrafte> sich verwickelt finden.]
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... Das ganze Leben dieser Verschwörer von Profession trägt den ausgeprägtesten Karakter der Boheme. Werbunteroffiziere der Verschwörung, ziehen sie von Kneipe zu Kneipe, fühlen den Arbeitern den Puls, suchen ihre Leute heraus, locken sie in die Verschwörung hinein, und lassen entweder die Gesellschaftskasse oder den neuen Freund die Kosten der dabei unvermeidlichen Konsumtion von Wein tragen. Der Kneipwirth ist überhaupt ihr eigentlicher Herbergsvater. Bei ihm hält der Verschwörer sich meistens auf; hier hat er seine Rendezvous mit seinen Kollegen, mit den Leuten seiner Sektion, mit den Anzuwerbenden; hier endlich finden die geheimen Zusammenkünfte der Sektionen (Gruppen) und Sektionschefs statt. Der Konspirateur, ohnehin, wie alle Pariser Proletarier, sehr heiterer Natur, entwickelt sich in dieser ununterbrochenen Kneipenatmosphäre bald zum vollständigsten Bambocheur <Zechbruder>. Der finstere Verschwörer, der in den geheimen Sitzungen eine spartanische Tugendsirenge an den Tag legt, thaut plötzlich auf und verwandelt sich in einen überall bekannten Stammgast, der den Wein und das weibliche Geschlecht sehr wohl zu schätzen weiß. Dieser Kneipenhumor wird noch erhöht durch die fortwährenden Gefahren, denen der Konspirateur ausgesetzt ist; jeden Augenblick kann er auf die Barrikade gerufen werden und dort fallen, auf jedem Schritt und Tritt legt ihm die Polizei Schlingen, die ihn ins Gefänghiß oder gar auf die Galeeren bringen können [Solche Gefahren machen eben den Reiz des Handwerks aus; je größer die Unsicherheit, desto mehr beeilt sich der Verschwörer, den Genuß des Moments festzuhalten. ] Zugleich macht ihn die Gewohnheit der Gefahr im höchsten Grade gleichgiltig gegen Leben und Freiheit. Im Gefängniß ist er zu Hause, wie beim Kneipwirth. Jeden Tag erwartet er Befehl zum Losbruch. Die verzweifelte Tollkühnheit, die in jeder Pariser Insurrektion hervortritt, wird gerade durch diese alten Verschwörer von Profession, die hommes de coups de main <Männer des Handstreichs> , hereingebracht. Sie sind es, die die ersten Barrikaden aufwerfen und kommandiren, die den Widerstand organisiren, die Plünderung der Waffenläden, die Wegnahme der Waffen und Munition aus den Häusern leiten, und mitten im Aufstand jene verwegenen Handstreiche ausführen, die die Regierungspartei so oft in Verwirrung bringen. Mit einem Wort, sie sind die Offiziere der Insurrektion.
Es versteht sich, daß diese Konspirateurs sich nicht darauf beschränken, das revolutionäre Proletariat überhaupt zu organisiren. Ihr Geschäft besteht darin, dem revolutionären Entwicklungsprozeß vorzugreifen, ihn künstlich zur Krise zu treiben, eine Revolution aus dem Stegreif, ohne die Bedingungen einer Revolution zu machen. Die einzige Bedingung der Revolution ist für sie die hinreichende Organisation ihrer Verschwörung. Sie sind die Alchymisten der Revolution und theilen ganz die Ideenzerrüttung und die Bornirtheit in fixen Vorstellungen der früheren Alchymisten. Sie werfen sich auf Erfin dungen, die revolutionäre Wunder verrichten sollen; Brandbomben, Zerstörungsmaschinen von magischer Wirkung, Erneuten, die um so wunder thätiger und überraschender wirken sollen, je weniger sie einen rationellen Grund haben. Mit solcher Projektenmacherei beschäftigt, haben sie keinen andern Zweck als den nächsten des Umsturzes der bestehenden Regierung und verachten auf’s tiefste die mehr theoretische Aufklärung der Arbeiter über ihre Klasseninteressen. Daher ihr nicht proletarischer, sondern plebejischer Aerger über die habits noirs <Befrackten, schwarzen Röcke>, die mehr oder minder gebildeten Leute, die diese Seite der Bewegung vertreten, von denen sie aber, als von den offiziellen Repräsentanten der Partei, sich nie ganz unabhängig machen können. Die habits noirs müssen ihnen von Zeit zu Zeit auch als Geldquelle dienen. Es versteht sich übrigens, daß die Konspirateurs der Entwicklung der revolutionären Partei mit oder wider Willen folgen müssen.
Der Hauptkarakterzug im Leben der Konspirateurs ist ihr Kampf mit der Polizei, zu der sie gerade dasselbe Verhältniß haben, wie die Diebe und Prostituirten. [Die Polizei toleriert die Verschwörungen, und zwar nicht bloß als ein notwendiges Übel: Sie toleriert sie als leicht zu überwachende Zentren, in denen sich die gewaltsamsten revolutionären Elemente der Gesellschaft zusammenfinden, als Werkstätten der Emeute, die in Frankreich ein ebenso notwendiges Regierungsmittel geworden ist wie die Polizei selbst, und endlich als Rekrutierungsplatz für ihre eignen politischen Mouchards. Grade wie die brauchbarsten Spitzbubenfänger, die Vidocq und Konsorten, aus der Klasse der höheren und niederen Gauner, der Diebe, escrocs <Betrüger> und falschen Bankeruttiers genommen werden und oft wieder in ihr altes Handwerk zurückfallen, geradeso rekrutiert sich die niedere politische Polizei aus den Konspirateurs von Profession. Die Verschwörer behalten unaufhörlich Fühlung mit der Polizei, sie kommen jeden Augenblick in Kollision mit ihr; sie jagen auf die Mouchards, wie die Mouchards auf sie jagen. Die Spionage ist eine ihrer Hauptbeschäftigungen. Kein Wunder daher, daß der kleine Sprung vom handwerksmäßigen Verschwörer zum bezahlten Polizeispion, erleichtert durch das Elend und das Gefängnis, durch Drohungen und Versprechungen, sich so häufig macht. Daher das grenzenlose Verdachtsystem in den Verschwörungen, das die Mitglieder vollständig blind macht und sie in ihren besten Leuten Mouchards und in den wirklichen Mouchards ihre zuverlässigsten Leute erkennen läßt. Daß diese aus den Verschwörern angeworbenen Spione sich mit der Polizei meist in dem guten Glauben einlassen, sie düpieren zu können, daß es ihnen eine Zeitlang gelingt, eine doppelte Rolle zu spielen, bis sie den Konsequenzen ihres ersten Schritts mehr und mehr verfallen, und daß die Polizei wirklich oft von ihnen düpiert wird, ist einleuchtend. Ob übrigens ein solcher Konspirateur den Schlingen der Polizei verfällt, hängt von rein zufälligen Umständen ab und von einem mehr quantitativen als qualitativen Unterschied der Charakterfestigkeit.
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In demselben Maß, wie das Pariser Proletariat selbst als Partei in den Vordergrund trat, verloren diese Konspirateurs an leitendem Einfluß, wurden sie zersprengt, fanden sie eine gefährliche Konkurrenz in proletarischen geheimen Gesellschaften, die nicht die unmittelbare Insurrektion, sondern die Organisation und Entwicklung des Proletariats zum Zweck hatten. Schon die Insurrektion von 1839 hatte einen entschieden proletarischen und kommunistischen Charakter. Nach ihr aber traten die Spaltungen ein, über die die alten Konspirateure so viel klagen; Spaltungen, die aus dem Bedürfnis der Arbeiter hervorgingen, sich über ihre Klasseninteressen zu verständigen, und die sich teils in den alten Verschwörungen selbst, teils in neuen propagandistischen Verbindungen äußerten. Die kommunistische Agitation, die Cabet bald nach 1839 mit Macht begann, die Streitfragen, die sich innerhalb der kommunistischen Partei erhoben, wuchsen den Konspirateuren bald über den Kopf. Chenu wie de la Hodde geben zu, daß die Kommunisten zur Zeit der Februarrevolution bei weitem die stärkste Fraktion des revolutionären Proletariats gewesen seien. Die Konspirateure, um ihren Einfluß auf die Arbeiter und damit ihr Gegengewicht gegen die habits noirs nicht zu verlieren, mußten dieser Bewegung folgen und sozialistische oder kommunistische Ideen adoptieren. …