Zusammenfassungen der Filme von Guy Debord
Guy Debord hat einige Filme erstellt. Die Bilder bestehen im wesentlichen aus Collagen von Bildern aus schon bestehenden Filmen, zu denen er dann sonor einen Text spricht. Ausnahme ist nur der erste Film, in dem es gar keine Bilder gibt und dafür mehrere Sprecher. Die Filme behandeln und reflektieren meist eine Passage aus Debords politischem Leben. Die Lettristen werden in Geheul zugunsten von Sade behandelt, die frühe Situationistische Internationale in Über den Durchgang einiger Personen durch eine ziemlich kurze Zeiteinheit und in Kritik der Trennung. Die eigentliche Phase der Situationistischen Internationale bekommt einen theoretischen Film, genauer die Verfilmung des einzigen theoretischen oder besser pseudo-theoretischen Werks von Debord selbst, der Gesellschaft des Spektakels. Die Reaktionen auf diesen Film seitens einiger sogenannter Kritiker bekommen nochmal einen Antwortfilm: Widerlegung aller Urteile, lobender wie feindlicher, die bis jetzt über meinen Film „Die Gesellschaft des Spektakels“ gefällt wurden. Über die wirkliche Spaltung der Internationale, also ihren vollständigen Untergang, gibt es keinen eigenen Film. Sie wird nur in Debords letztem und längstem Film, In girum imus nocte et consumimur igni, behandelt. Hier unterzieht er sich selbst und sein politisches Leben noch einer rückblickenden Gesamtreflexion. Dieser Film ist sicher der beste, während die Gesellschaft des Spektakels sicher der schlechteste ist.
Insofern diese Filme alle sehr viel Text enthalten und man im Grunde auch ihr Skript lesen kann, zumal wenn man kein Französisch kann und auf die oft nicht perfekten Untertitel angewiesen ist, folgt hier eine teils längliche Zusammenfassung des wesentlichen Inhalts derselben. Sie fügen allerdings den Filmen selbst nichts hinzu, nehmen ihnen nur die Bilder und zahlreiche der dort zusätzlich geäußerten Gedanken. Alle Zitate sind dem jeweiligen Film entnommen, der Rest ist meist Paraphrase.
I. Geheul zu Gunsten von Sade – 1952, 63’
Debords Erstwerk, Geheul zu Gunsten von Sade. schloss die Filmgeschichte ab. Danach konnte es keinen Film mehr geben. „Das Kino ist tot“, eigentlich könnte man zur Diskussion übergehen. Dass die Leinwand in diesem Film zumeist schwarz ist und während dieser schwarzen Perioden nichts gesprochen wird, ist keine dieser typischen modernen Extravaganzen, sondern hätte schlicht Raum für eine überfällige Debatte geben können, deren Nichtzustandekommen allerdings bereits antizipiert war. Das Publikum der Premiere verhinderte lieber die Vorführung des Films und damit auch die Reflexion der eigenen künftigen Praxis. „Und ihre Revolte wurde zum Konformismus.“ Dabei war man gerade erwachsen geworden und „zu allen Handlungen des bürgerlichen Lebens fähig.“ – 2 Minuten Pause.
Der Film handelt vom Glanz und Elend der Lettristen, einer umherschweifenden Rasselbande, in deren Dunstfeld Debord sich bewegte. Im Wesentlichen waren das „unzufriedene Menschen“, die „über die Welt der offiziellen Ausdrucksweisen hinausgehen“ wollten und daher Kunst machten. Man war dabei nicht so naiv, zu glauben, dass diese Kunst im Museum bestaunt werden solle, man wollte im Gegenteil in die feindliche Welt hinein wirken. „Ein ansehnliches lettristisches Kommando, ungefähr aus 30 Mitgliedern bestehend, die alle diese schmutzige Uniform trugen, die ihr einzige wirklich originelles Kennzeichen ist, landete auf der Croisette, mit dem festen Wunsch, irgendeinen Skandal zu verursachen, geeignet, um die Aufmerksamkeit auf sie zu lenken.“ – 3 Minuten Pause.
Innerhalb des lettristischen Milieus gab es immerhin auch etwas stets prekäre Liebe und natürlich Eifersucht: „Sag, hast du mit Françoise geschlafen?“ Die Liebe hatte sich mit der Revolution untrennbar verbunden und zog ihren Wert aus der Wette auf die kommende Revolution. Da das Glück damals in Europa eine neue Idee war, tastete man sich langsam voran: „Die gefangenen Hände“, berühren „in Zeitlupe“, „ihren Mund und ihre Brüste“. Aber die Liebe steigert sich auch zu einem heißen Fluss, wird dann aber sofort etwas kitschig und „klingt nach Kino!“. Hingegeben ist die Staatsmacht sehr real. „Die Pariser Polizei ist 30.000 Knüppel stark.“ – 8 Minuten Pause
So blieben die Liebe wie die gesellschaftliche Praxis Gesten, von denen nichts übrig bleiben sollte. „Die Isère und die Misère gehen weiter. Wir haben keine Macht.“ Die kurzfristige lettristische Avantgarde befand sich in einer Stadt auf einem Planeten in einer Galaxie, die selbst nur eine der Trillionen Inseln des abstrakten Raumes ist. Und so wurden auch die Lettristen wieder von der „Kälte des interstellaren Raumes“ ergriffen. Der Film ist eine Leichenrede für sie, da Leuten, die einst „wahnsinnige Sterne waren“, die Gesichter einfroren, „die Augen geschlossen, vor der übermäßigen Katastrophe.“ – 4 Minuten Pause
Debord hatte den Film gemacht, „als es noch genug Zeit gab, um darüber zu sprechen“. Es ging darum, diese „provisorische Menge zu verlassen“, diese „Witzfiguren“ irgendwelcher künftigen „Gymnasial- und Schulprogramme“. Die Liebe verlor ihre Unschuld, es gab weniger rebellische Viertel als die revolutionäre Romantik sich das ausmalte, während sie die Ruhe des vom Streik unterbrochenen Stadtlebens mit Liebeleien genoss. Der Vorschlag Debords bestand damals darin, den Kampf gegen die alte Welt auf ein höheres Niveau zu heben: „Die zukünftige Kunst wird der Umsturz von Situationen sein oder nichts.“ Die Theorie sollte ernster werden, „ihre Elemente der Psychologie, der Statistik entlehnen, dem Urbanismus und der Moral“, aber zu einem „absolut neuen Zweck“: dem bewussten Eingriff in die Zeit. – 3 Minuten Pause
Die Lettristen wollten die Kunst des Aufstands nicht lernen. Die Kontinentalverschiebung setzte ein und entfernte die Lager, die Liebe wurde schal: „Ich liebe dich. / Auf Wiedersehen. / Du trinkst zu viel. / Was sind die kindlichen Liebschaften? / Ich verstehe dich nicht. / In einer anderen Epoche habe ich das sehr bedauert. / Willst du eine Orange? / Ich habe dir nichts mehr zu sagen.“ Die Lettristen ließen sich altern und die dunkle Nacht brach herein. – 2 Minuten Pause
Der Bruch war hart, aber aus diesem Bruch entstand die Situationistische Internationale, deren Gründungsmitglied Debord war. Und so ist er „gerade nochmal davongekommen“. Bewegung politisierte sich, verlor aber in den Privatbeziehungen. Die Schriften dieses Flügels der revolutionären Partei werden dadurch natürlich interessanter. Bekanntlich ziehen wirkliche Revolutionen ihre Kraft gerade aus dem Alltagsleben und so sollte man, sofern man sich mit der Situationistischen Internationale beschäftigt, den lettristischen Planeten nicht vergessen: „All diese Leute waren vulgär.“ – 16 Minuten Pause.
II. Über den Durchgang einiger Personen durch eine ziemlich kurze Zeiteinheit – 1959, 19’
Über den Durchgang einiger Personen durch eine ziemlich kurze Zeiteinheit dokumentiert die Anfangszeit der aus dem Untergang der Lettristen hervorgegangenen Situationistischen Internationale. Er wird mit Diskussionsfetzen der 3. Konferenz dieser Internationale eingeleitet, die 4. Konferenz brachte bereits eine neue Spaltung. Um die neuerliche Spaltung wird sich dann Kritik der Trennung drehen, der nächste Film von Debord. Im Grunde gehören beide Filme zusammen, berichten von der ersten Periode dieses Vereins. Der erste Film dokumentiert die Fragen dieser Gruppe, der zweite Film dokumentiert das vorläufige Scheitern der Antworten.
Im Zuge der Politisierung des ursprünglich lettristischen Künstlertums wird mit dem historischem Materialismus kokettiert: „Man muss das Bewusstsein mit Hilfe der Widersprüche des materiellen Lebens erklären, mit Hilfe des bestehenden Konflikts zwischen den gesellschaftlichen Produktivkräften und den gesellschaftlichen Verhältnissen.“ Letztere bleiben hinter ersteren zurück, das „alltägliche Leben war noch nicht den Fortschritten gefolgt, die in der Beherrschung der Natur erreicht wurden.“ Es geht darum, „das Monopol der herrschenden Klasse auf die Werkzeuge“ zu brechen. Selbst von der „Diktatur des Proletariats“ ist die Rede und vom „erbitterten Kampf gegen die Kräfte und die Tradition der alten Welt“.
Aber diesen Phrasen zum Trotz ging man vom Individuum aus und zwar nicht vom abstrakten Individuum, sondern von sich selbst: „Sie wollten jeden Tag alles neu erfinden, Herr und Besitzer ihres eigenen Lebens werden.“ Man entwickelte „systematische Zweifel an allen Vergnügungen und Leistungen einer Gesellschaft“. Indem man von sich selbst ausging, fand man sich isoliert, „am Rande der Ökonomie“, strebte dabei „eine Rolle des reinen Konsums an“ und fand sich so „unmittelbar mit den qualitativen Änderungen des Alltags beschäftigt“. Letztlich ging es darum, „an Lebensmittel zu kommen, ohne zu arbeiten“.
Nun entbehrte man aber „jegliches Eingriffsmittel“ in diese Welt. Die Bourgeoisie hatte schließlich das Monopol auf das Werkzeug und Maschinerie. „Der Bewegungsraum dieser Gruppe war sehr beschränkt“, und so musste man bei Strafe des Untergangs nach Mitteln suchen, in die Welt einzugreifen. Dafür „musste man wieder zu den Massen gehen“, aber um sie „herum war Schlaf“. Entsprechend wollte von diesem verlorenen Haufen niemand früh schlafen gehen und es wurde schwer, noch mehr zu trinken. Derweil gingen die Massen „gedankenlos die ein für allemal gelernten Wege zu ihrer Arbeit und ihrer Wohnung, zu ihrer voraussehbaren Zukunft. Für sie war die Pflicht schon zu einer Gewohnheit geworden und die Gewohnheit zu einer Pflicht.“ Die Praxis war daher tastend, ein Spiel, um die „fremde Umgebung unserer Geschichte“ anzueignen, obwohl man doch wusste, dass die falsche Gesellschaft bis in ihre Poren wirkt, insbesondere bis in die Architektur. So blieb es beim Träumen über eine „zukünftige Macht einer Architektur, die man schaffen müssen würde, damit sie Untergrund und Rahmen für weniger mittelmäßige Spiele ist.“
Die ganze Sache ist von Anfang an romantisch, den Fieberphantasien dieser Zeit zum Trotz ging die Welt ihren Lauf: „Das, was abgeschafft werden muss, geht weiter und damit einhergehend unser Verschleiß. Man zerreibt uns. Man trennt uns. Die Jahre vergehen und wir haben nichts verändert.“ Die Realität gehörte den „Ordnungsmenschen“. „Sie haben ihre Macht noch mehr gefestigt.“ Insbesondere gab es den Algerienkrieg und die Machtübernahme durch Charles de Gaulle. Aber bei aller den Film durchziehenden romantischen Stimmung besteht die Hoffnung Debords darauf, dass einige durch die politische Entwicklung dazu gebracht werden, sich der Welt zuzuwenden. „Das Aufkommen von Ereignissen, die wir nicht geschaffen haben, die andere gegen uns geschaffen haben, zwingt uns von da an zur Erwägung des Zeitlaufs, seiner Resultate und zur Umwandlung unserer eigenen Begierden in Ereignisse.“ – Man sieht hier bereits den Grund der nächsten Spaltung angedeutet, indem sich normalerweise die Individuen gegen die Änderung ihrer Sinne sperren und die Idee, sich ernsthaft der Welt des Eigentums zu stellen, sich gerade im Künstlermilieu schwer durchsetzt, nachdem man vor eben dem Eigentum gerade in die scheinbar freie Sphäre der Kunst geflohen ist. Das Künstlermilieu war aber aller postulierten Anti-Kunst zum Trotz doch das hauptsächliche Rekrutierungsfeld der Situationistischen Internationale.
Ansonsten enthält dieser Dokumentarfilm noch ein wenig Kritik seiner eigenen Form. „Das Absterben der Kunst sowie aller Werte der alten Verhaltensweisen hatte unsere soziologische Grundlage gebildet. Ein Kunstfilm über diese Generation kann nur ein Film über die Abwesenheit ihrer Werke sein.“ Tatsächlich sieht man ständig Mitglieder der Internationale beim Trinken, Rauchen und Diskutieren, aber nie, was sie eigentlich in ihrem famosen Alltagsleben treiben, aus dem aber diese Bewegung ihre Kraft bezog. Der Film gibt sich daher, was seinen dokumentarischen Anteil angeht, als klägliche Rekonstruktion zu erkennen. Es handelt sich eigentlich um ein mit Bildern unterlegtes Kommunikee, das die Fragen dieser Zeit andeutet und Rechenschaft ablegt. Nicht jedenfalls um einen Film, auch keinen Dokumentarfilm. „Auch der Film muss zerstört werden.“
III. Kritik der Trennung – 1961, 17’
Am Ende verlor sich der erste Versuch der Situationisten. Unfähig, den eigenen Ansprüche zu genügen, und eben nicht den politischen Kampf aufnehmend, verfloss das Leben und glich wieder dem in der alten Welt. „Nach all der toten Zeit und den verlorenen Augenblicken bleiben diese endlos durchquerten Postkartenlandschaften. Diese zwischen allen und jedem organisierte Distanz. Wir treffen in zufälligen Situationen vereinzelte Menschen, die umher irren.“ Man musste sich das eigene Terrain erst schaffen, „vor der gemeinschaftlichen Naturbeherrschung gibt es noch keine Individuen“. Man suchte „eine zentrale Aktivität“, und heraus kam ein gewisses politisches Spezialistentum, während die meisten Mitglieder nicht mit gingen. „Ihre divergierenden Gefühle neutralisieren sich und erhalten ihre stabile Umgebung der Langeweile.“
Immerhin, „einige einsame Begegnungen kündeten von einem intensiveren Leben“, das aber „nicht wirklich gefunden worden ist.“ Es bleiben Traumreste. Im „Halbschlaf werden die Ereignisse noch einen Moment lang für real gehalten.“ Doch die Sinne klären sich, werden vernünftiger, und es „kommt das Bewusstsein, dass alles falsch ist, dass alles nur ein ‚Traum‘ war.“ Es gibt kein Zurück, keinen Halt. „Diese Träume sind Scherben der ungelösten Vergangenheit“: „Aber so viele Dinge, die man anstrebte, sind nicht erreicht worden, oder nur teilweise, und nicht so, wie man glaubte. Welche Kommunikation hat man begehrt oder gekannt oder lediglich simuliert?“ Indem man im Augenblick lebte und das Vergessen predigte, bleibt die eigene Geschichte unreflektiert; man weiß kaum noch, wie man „ins alltägliche Leben vorgedrungen ist“, und schon ist es zu spät. „Man passt sich mit einigen Nuancen ins Netz der möglichen Wege ein. Man gewöhnt sich daran, scheint es.“ – „Der Wein des Lebens ist verschüttet, und nur der Bodensatz bleibt in diesem pompösen Keller zurück.“
Debord gibt zu, dass alles nicht klar ist, ein Monolog eines Trinkers, „ganz klassisch mit seinen unverständlichen Andeutungen und seinem ermüdenden Redefluss. Mit seinen nichtigen Sätzen, die keine Antwort erwarten, und seinen schulmeisterlichen Erklärungen und seinen Pausen.“ So verbreitet er Konfuses darüber, dass die Langeweile des offiziellen Lebens auf den Tatendrang einer Avantgarde trifft, die in der falschen Welt ihre Abenteuer erleben will. Das ist der einfache Gegensatz von dem die Situationistische Internationale ausging. „An dieser Kreuzung haben wir uns gefunden und verloren.“ Man liebte das Abenteuer, sah sich in König Arthurs Gefolge auf der Suche nach dem Gral, den keiner wollte. Man wusste aber auch, dass man die „Totalität herauszufordern“ hätte. Man musste erwachsen werden, in einer Welt, in der man nicht erwachsen werden kann.
Man müsste die wirkliche Welt ins Visier nehmen. Aber die „Ereignisse, die in diesem individuellen Leben passieren, so wie es organisiert ist, diejenigen, die uns wirklich angehen und unsere Zustimmung verlangen, sind gerade die, die nichts anderes verdient haben, als uns als distanzierte, gelangweilte und gleichgültige Zuschauer zu finden.“ Das ist eben die wirkliche Welt: Nicht nur sind wir ihr gegenüber ohnmächtig, man hält sich besser fern davon. Dass sei auch der Grund, warum man weder vom Alkohol noch von der Kunst wegkäme, die im Gegensatz zum wirklichem Leben interessant scheinen. Denn es sind „oft Situationen, die durch irgendeine künstlerische Vermittlung erfahren werden, die anziehend wirken und es verdienen, dass man zum Akteur wird, zum Teilnehmer.“ Das ist aber Schein, ein notwendiger Schein. Man müsse daher die Kunstliebhaber entmutigen. „Jeder konsistente künstlerische Ausdruck drückt bereits den Zusammenhang der Vergangenheit aus: die Passivität.“
Die Würfel sind gefallen. „Schöne Kinder, das Abenteuer ist tot,“ die offizielle Berichterstattung ist anderswo. Der meisten Mitglieder dieser jungen Organisation kehrten zurück in die Bahnen der alten Welt, die Situationistische Internationale musste sich fast vollständig neu rekrutieren. Währenddessen drehte sich die Welt weiter: „Nichts bleibt in ihr stehen. Sie erscheint ständig beweglicher.“ Es war ein wenig wie heute: Die Vorbeben nahmen zu. Zwar gibt es keine bewusste Revolte und so träumt die Macht anhäufende Epoche davon, vernünftig zu sein. „Aber niemand erkennt sich in dieser Macht wieder.“ Dabei kommt es nicht darauf an, dass die Leute mehr oder weniger arm sind – und was die materiellen Güter angeht, waren viele Franzosen damals ganz gut versorgt –, sondern darauf, dass sich den Menschen ihr Leben entzieht. Bei allem Schmerz über die verflossenen Illusionen bleibt der Blick in die Zukunft gerichtet: „Diejenigen, die die Welt Tag für Tag und gegen sich selbst produzieren, können sie sich auch aneignen, das weiß ich genau.“
Eruptionen im Gefüge der Welt würden ja tatsächlich schon bald die Karten neu mischen. „Jedes bestehende Gleichgewicht wird wieder in Frage gestellt, sobald unbekannte Menschen versuchen, anders zu leben.“ Ernüchternd ist die Bilanz; insbesondere konnte man nicht mal im Ansatz in den Algerienkonflikt eingreifen. „Das war immer weit weg. Man erfährt es aus den Zeitungen, den Wochenschauen. Man bleibt außerhalb, wie gegenüber einem weiteren Spektakel. Wir sind davon durch unsre eigene Nichteinmischung getrennt. Das ist, was uns betrifft, sehr enttäuschend. In welchem Augenblick wurde die Entscheidung versäumt? Wann wurde die Gelegenheit verpasst? Wir haben die nötigen Waffen nicht gefunden. Wir haben es geschehen lassen.“ Und so bleibt die trotzige Feststellung: „Man muss über diese partielle Niederlage hinausgehen. Selbstverständlich.“ Aber „wie macht man das?“ Und „wer wird Widerstand leisten?“ – „Sämtliche Schlüsse müssen noch gezogen, die Kalkulationen neu gemacht werden. Das Problem bleibt weiter gestellt, seine Formulierung verkompliziert sich. Man muss zu anderen Mitteln greifen.“
IV. Die Gesellschaft des Spektakels – 1973, 87’
Bis zum nächsten Film dauerte es eine Weile. Während der im eigentlichen Sinne dieses Wortes politischen Phase der Situationistischen Internationale folgte Debord seinem Credo: „Gegen den Film“ konsequent, erst nach dem Pariser Mai versucht er sich erneut in diesem Metier. Während die Filme Debords bislang immer das Scheiterns seines eigenen Vereins reflektieren, reflektiert der Film Die Gesellschaft des Spektakels den Pariser Mai 68. Allerdings weniger dessen Scheitern als dessen negatives Potential und dessen negativer Inhalt. So entstammt der Text seinem gleichnamigen, knapp vor 68 veröffentlichten Buch. Es beansprucht, den Geist seiner Zeit auszudrücken, so dass der Pariser Mai 1968 als Verallgemeinerung der Phantasien der Situationisten erscheint und die in Die Gesellschaft des Spektakels zusammengefasste Kritik als der wesentliche Inhalt der damaligen Unruhe, selbst wenn diese empirisch meist anderes im Sinn hatte.
Wie bei all den textlastigen Filmen Debords braucht man eine Weile, um hineinzukommen, sei es allein schon, weil man längliche Untertitel lesen muss, sei es, weil die Übersetzung sehr holpert, sei es, weil die Sätze sich schon im Französischen ein wenig der Aufnahme sperren. Das Buch Die Gesellschaft des Spektakels ist das theoretischste Werk Debords, und einige verbuchen es mit seinem sperrigem Stil sogar eher unter Satire, lesen es als eine Persiflage auf die Theorie. Dafür würde sprechen, dass gerade dieses Buch als einziges von den Theoretikern akzeptiert wird, die freilich alle über dasselbe erhaben sind, wie sie gleichzeitig jegliche Negativität vermissen lassen, die das Buch Debords überhaupt lesbar macht. Jedenfalls könnte das der Grund sein, dass es sein ungenießbarster Film ist.
Wie dem auch sei. Jedenfalls ist der Film erneut einfach eine Collage aus Bildern des Spektakels zusammen mit sonor von Debord vorgetragener Polemik gegen dasselbe. Zunächst wird in Koketterie mit einigen hegelmarxischen Formulierungen das Spektakel eingeführt, die ganze wundersame Bilderwelt, die sich im 20. Jahrhundert zwischen Mensch und Wirklichkeit schob: „Das ganze Leben der Gesellschaften, in welchen die modernen Produktionsbedingungen herrschen, erscheint als eine ungeheure Ansammlung von Spektakeln. Alles, was unmittelbar erlebt wurde, ist in eine Vorstellung entwichen.“
Aber zugleich wird dieses getrennte Traumwelt aus Bildern und Einbildungen, die sich selbst für die ganze Sache und sogar für Glück ausgibt, auf sein kapitalistisches Wesen zurückgeführt, und er erkennt in ihm „unsere alte Feindin wieder“, „die Ware.“ Überhaupt ist das Spektakel nur „die allgegenwärtige Behauptung einer Wahl, die bereits in der Produktion getroffen wurde“, etc. Man kann sagen, dass die Sache von daher wenig originell ist. Der Überbau leitet sich klassisch marxistisch von der Basis her, und wie gesagt, gefällt sich Debord darin, unmittelbar mit leicht veränderten Phrasen von Marx – sowohl dem der Frühschriften, als dem des Kapitals – zu argumentieren. Andererseits enthält der Text moderne Theorie, indem die Kategorien des Kapitals nicht ahistorisch genommen werden, sie sich selbst ändern dürfen, und er auf diese Weise Gedanken nahe kommt, die auch in Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung stehen könnten: „Der Tauschwert konnte sich zwar nur als Agent des Gebrauchswerts bilden, aber sein durch seine eigenen Waffen errungener Sieg hat die Bedingungen seiner autonomen Herrschaft geschaffen. Der Tauschvorgang ist mit jedem möglichen Gebrauch identisch geworden und hat ihn von seiner Gnade abhängig gemacht. Der Tauschwert ist der Söldnergeneral des Gebrauchswertes, der endlich den Krieg für seine eigene Tasche führt. Der Gebrauchswert, der im Tauschwert mit einbegriffen war, muss jetzt explizit verkündet werden“. Und das nun wieder ist das Spektakel, welches den abwesenden Gebrauchswert verkünden muss.
Danach werden unterschiedliche Oppositionen auf dem Boden der spektakulären Warenwelt angedeutet und fundamental zwischen konzentriertem und diffusem Spektakel unterschieden. „Das konzentrierte Spektakuläre gehört wesentlich zum bürokratischen Kapitalismus, auch wenn es gelegentlich als Technik der Staatsgewalt über rückständigere gemischte Ökonomien oder in Krisenzeiten des fortgeschrittenen Kapitalismus eingeführt sein mag.“ Hierunter fallen die ganzen Entwicklungsdiktaturen von Nasser bis Che Guevara und natürlich der ehemalige Ostblock, der reale Sozialismus, China. Debord lässt keinen Zweifel, was er von dieser damaligen Alternative hält: Nichts. Er geht sogar soweit, uns diese Formation als Staatskapitalismus zu verkaufen. „Das diffuse Spektakuläre“ wiederum „begleitet den Warenüberfluss, die ungestörte Entwicklung des modernen Kapitalismus. Jede Ware ist dabei für sich genommen gerechtfertigt im Namen der Großartigkeit der Produktion der Gesamtheit von Gegenständen, von dem das Spektakel ein apologetischer Katalog ist.“ Das ist unsere westliche Welt, bzw. dieselbe, wie sie sich bis ca. 1989 darbot, als noch der Schein bestand, der reale Kapitalismus wäre eine reiche Konsumgesellschaft. Jahre später, in seinen neuerlichen Kommentaren zur spektakulären Warengesellschaft – ein sehr gutes Buch –, wird Debord mit dem integriertem Spektakel noch eine moderne Mischform angeben. Man denke etwa an unsere heutige Europäische Union.
Es folgt eine kurze Abhandlung über Raum und Zeit bzw. über die Synthese dieser beiden Kategorien, der Geschichte. Zum einen also die Kritik des Urbanismus oder Städtebaus, also des abstrakten von der Herrschaft definierten Raums, den das Proletariat sich aneignen und mit Leben füllen muss. Und zum anderen eine Kritik der modernen Zeit, eine Freude für Philosophen. Die ursprüngliche in Kreisen verlaufene Zeit der Bauern, die von den Kreisen der Natur abhängig war, wird durch die „Zeit der Produktion“ abgelöst. Sie löst sich von den Schwingungen, wird zur linearen Zeit, „eine unendliche Akkumulation von gleichwertigen Intervallen. Sie ist die Abstraktion der unwiederbringlichen Zeit, deren Abschnitte alle auf dem Chronometer ihre alleinige quantitative Gleichheit beweisen müssen.“ Aber indem die Produzenten in der einfachen Warenzirkulation verbleiben – alles was darüber hinausgeht, gehört bekanntlich dem Kapital und wird von dessen Personifikationen verwaltet –, bleiben sie in der kreisförmigen Zeit befangen. „Die pseudozyklische Zeit stützt sich auf die Überreste der zyklischen Zeit und stellt aus ihnen zugleich neue entsprechende Kombinationen her: den Tag und die Nacht, Arbeitswoche und Wochenende, die Wiederkehr der Ferienzeiten.“
Indem nun einerseits der Sieg der Bourgeoisie mit der Erfindung einer „zutiefst historischen Zeit“ einhergeht, weil unter ihrem Regiment sich „die Gesellschaft fortwährend und von Grund auf verändert.“, während er andererseits den Arbeitern „deren Gebrauch“ verweigert, kulminiert die Sache bei Debord in der Revolution als eigentlich geschichtlicher Tat, indessen die Welt der Bourgeoisie letztlich Pseudogeschichte bleibt. Zunächst äußert er sich zur klassischen Arbeiterbewegung, dem ersten Ansturm auf die Herrschaft der Bourgeoisie: „Der Mangel der Marx’schen Theorie ist natürlich der Mangel des revolutionären Kampfes des Proletariats seiner Epoche. Die Arbeiterklasse hat nicht die permanente Revolution ausgerufen, im Deutschland von 1848, die Kommune wurde in der Isolierung besiegt. Die revolutionäre Theorie konnte daher noch nicht zu ihrem eigenen vollständigen Dasein gelangen.“ Die erste Arbeiterbewegung ging in zwei Weltkriegen unter. Der Pariser Mai wird dann in diesem Sinne als Beginn einer neuen Epoche aufgenommen, aber eben nur deren Beginn, die Enkel müssen es besser ausfechten: „Um diese Gesellschaft vollständig zu zerstören, müssen wir zehnmal oder öfter einen Ansturm wagen, der dem des Mai 68 nicht nachstehen darf, und als unvermeidliche unangenehme Nachteile wird es eine Anzahl von Niederlagen und Bürgerkriegen geben.“ Das wird dann aber nur als Text eingeblendet.
Als Coda gibt es noch eine Fabel über Freundschaft, eine Hommage an einige schließlich gescheiterte menschliche Beziehungen innerhalb der Situationistischen Internationale und eine Fabel über die Debord’sche Negativität, verkleidet als Skorpion. Dazu gibt es einen Ansturm der Nordstaaten. Und noch eine gute Charakterisierung des umstrittenen Verhältnis von Theorie und Praxis in den Worten von Clausewitz: „Man kann nicht oft genug wiederholen, dass die Theorie eher das Urteil des Praktikers schärfen und ihn ausbilden soll, als dass sie für jeden einzelnen seiner Schritte auf dem Weg zum Ziel unerlässliches Orientierungsmittel wäre.“
V. Widerlegung aller Urteile, lobender wie feindlicher, die bis jetzt über meinen Film „Die Gesellschaft des Spektakels“ gefällt wurden – 1975, 21’
Einige Leute haben sich schriftlich über den Film Die Gesellschaft des Spektakels geäußert. Debord weißt ihr Geschreibsel kurz in einer weiteren Collage kategorisch zurück. „Die spektakuläre Organisation der gegenwärtigen Klassengesellschaft“ würde überall die Produkte wie das Denkvermögen fälschen, diejenigen, die sie nicht bekämpfen können und/oder wollen seien apriori dazu verdammt, seinem Film mit Unverständnis zu begegnen. Es ist dabei egal, ob jemand vorgab, den Film zu mögen, oder ob er vorgab, ihn nicht zu mögen: „Denjenigen, die behaupten, ihnen gefalle dieser Film, gefiel zu viel anderes, um ihn mögen zu können. Und diejenigen, die ihn nicht mochten, auch sie ertrugen zu viel anderes, als dass ihr Urteil von Gewicht sein könnte.“ Letztlich folge ihre armselige Rede, der „Schwachsinn ihrer Reaktionen“ einfach aus ihrem armseligen Alltagsleben und das wiederum „geht einher mit dem Verfall ihrer Welt.“ Solche Leute würden dann feierlich das Für und Wider eines Films abwägen, um sich sich so über einen revolutionären Film erhaben zu fühlen, der doch ihre Negation ist und die Negation ihrer Welt. Sie tun so, als „ob die Auflösung dieses Systems eine Meinungsangelegenheit wäre.“
Die Ereignisse in Portugal und Italien verhießen durchaus, dass der Kampf gegen die Gesellschaft des Spektakels sich weiter verbreitet, nachdem der Pariser Mai 68 erst einmal vorbei war. „Ihr System wird jetzt in der Realität angegriffen, es verteidigt sich mit Gewalt“. Letztlich verstehen nur Leute den Film Die Gesellschaft des Spektakels, die „verstehen, dass der Klassenkampf in Portugal zuerst hauptsächlich dominiert wurde von der direkten Auseinandersetzung zwischen den in autonomen Bündnissen organisierten revolutionären Arbeitern und der stalinistischen Bürokratie, erweitert um Generäle auf der Flucht.“ Für Leute die diesen Satz nicht verstehen, macht Debord keine Filme.
Der Rest ist dann Makulatur. Die einen meinen, er hätte das Buch nicht verfilmen sollen, obwohl oder gerade weil das Buch gut sei, nur, dass ihnen das beim Erscheinen des Buchs noch nicht aufgefallen war und nur jetzt, da sie den Film abwehren müssen, fällt es ihnen plötzlich ein. Andere meinen, der Film wäre schwer zu verstehen, die Bilder lenkten vom Inhalt ab oder der Inhalt von den Bildern. Einige müde Menschen fühlten sich vom Film ermüdet, gaben aber vor, das Buch verstehen zu können und ihm sogar beinahe beizustimmen, nur, um sich weiter in „geistiger Trägheit“ zu gefallen. Es gab sogar Leute, die vom Film begeistert waren. Hier versuchten einfach „die Avantgarde-Konsumenten in einem individuellen Lyrismus einige schöne Merkwürdigkeiten nachvollziehen, die da nicht waren.“ Der Film – der durchaus nüchtern ist – wäre zornig gewesen etc. Kritik aber ist nach Debord gerade nicht zornig. „Kritik begreift, beschreibt und wird verwendet, um eine Bewegung zu beschleunigen, die unter unseren Augen tatsächlich stattfindet.“ Dagegen gäbe es aber den Pseudo-Zorn, mit dem manche ihre Schmiegsamkeit, Kompromisse und Demütigungen kompensieren. Neben den Linken gibt es noch politische Reaktionäre, die sogar den Film mögen, aber eben nicht den Inhalt. Andere finden, dass der Film im großen Kino hätte gezeigt werden sollen, nicht im selbst gewähltem Getto. Debord zog es tatsächlich vor, „mit den Massen im Schatten zu bleiben“, als ihnen „eine feierliche Ansprache zu halten“. Jemand anderes wieder meint, dass der Film schon deshalb Teil des Spektakels ist, weil er in dieser Welt des Spektakels gezeigt wurde, auf das dem Spektakel nie ein Feind erscheine, weil alles apriori integriert ist. Dann ein Vertreter der kritischen Kritik oder auch der Anti-Theorie, der meint, 1967 hätte man den Film machen können, aber 1973 hätte die voranschreitende Praxis jeden Film, alle Bücher überhaupt und Hegel und Marx im Besonderen und überhaupt die Beschäftigung mit der Geschichte unnötig gemacht. Er verschwindet prompt anonym im Nichts des Seins. Diese Stimme kam aus dem Milieu derjenigen, die an der Neo-Universität irgendwo im Mittelbau ihr karges Leben verdienen wollen, wenn sie nicht dumme Reihen mit Sonetten für Verlage herausbringen dürfen oder gar Filme machen. Daher versucht dieser Verächter aller Theorie und der Geschichte dem Publikum dann doch Leute zu empfehlen, „die ihr Feuer vor mehr als 15 Jahren verbraucht haben, ohne dass es ihnen gelang, ihre Zeit sonderlich zu beeindrucken“: „Lyotard, Castioriadis und andere nachhinkende Tischbesen“.
Das sind so die Meinungen der Kritiker Debords. Aber Kritik an der Guerilla kann nur aus der Guerilla selbst kommen, und da diese Kritiker sämtlich zur Verteidigung des Bestehenden gehörten, hatten sie keine Möglichkeit etwas Wahres über einen revolutionären Film zu sagen. „Die Verteidiger des Spektakels werden soviel Zeit benötigen, diesen neuen Gebrauch des Kinos zu verstehen, wie sie benötigten, um die Tatsache zu erkennen, dass eine neue Epoche des revolutionären Protests ihre Gesellschaft aushöhlt“.
VI. In girum imus nocte et consumimur igni – 1978, 135’
Dieser Film hebt mit einer obligatorischen Beschimpfung des Publikums an; es werden ihm „keinerlei Konzessionen“ gemacht. Es sei eine breit gewordenen Mittelklasse aus „kleinen spezialisierten Angestellten aus den diversen Zweigen jener ‚Dienstleistungen‘, die das heutige Produktionssystem so dringend braucht: Verwaltung, Kontrolle, Wartung, Forschung, Lehre, Propaganda, Unterhaltung und Pseudokritik.“ Lohnempfänger, die sich für Eigentümer halten. Lohnsklaven wie eh und je, außer dass sie die Revolte nicht kennen, eingepfercht in üble Städte, abgespeist mit dem übelsten Essen. „Ziffern in von Idioten erstellten Statistiken.“ etc. pp.
Es folgt eine Beschimpfung des Kinos dieses Publikums und seiner Stars, die an deren Stelle stellvertretend leben, bisweilen sogar spektakuläre Revolten ausführen. Robin Hood flimmert durch die Collage. „Das Kino ist eine unsinnige Nachahmung eines unsinnigen Lebens“, und es ist „geschickt darin, eine Stunde die Langeweile zu vertreiben, mit dem Widerschein derselben Langeweile.“ Er selbst macht mit den Bildern dieses Kinos hingegen eine Collage und sagt „nur Wahrheiten zu Bildern, die alle nichtssagend oder falsch sind“. Warum eigentlich? Weil er die Zeit hat und nichts dagegen spricht. Also ersetzt er die „nichtigen Abenteuer, die das Kino erzählt, durch die Untersuchung eines wichtigeren Themas“: Er selbst. Denn: „Von Anfang an habe ich es für gut befunden, mich dem Sturz der Gesellschaft zu widmen und auch entsprechend gehandelt. Ich habe in einem Moment diese Partei ergriffen, in dem beinahe alle glaubten, dass die heutige Niedertracht – in ihrer bürgerlichen oder bürokratischen Ausprägung – die schönste Zukunft hätte.“ Zorro flimmert über die Leinwand.
Der letzte Film ist also eine Dokumentation Debords über sich selbst und damit über die Auseinandersetzungen, an denen er teilnahm. Letztlich also auch ein Film über die Situationistische Internationale und ihre Vorläufer, die aber nicht namentlich genannt werden. „Das war in Paris, einer Stadt, die damals so schön war, dass viele Leute es vorzogen, dort arm zu sein, als anderswo reich.“ Die Musik setzt ein, er setzt den romantischen Ausschweifung dieser Zeit ein Denkmal, in Minute 30 fängt der Film endlich an.
„Paris hat damals innerhalb seiner 20 Arrondissements nie ganz geschlafen und der Ausschweifung gestattet, jede Nacht dreimal das Viertel zu wechseln.“ Die Bevölkerung war immer noch zur Revolte geneigt, man hatte es noch nicht gewagt, die spätkapitalistische Wirklichkeit vollständig einzuführen, „die moderne Ware war noch nicht gekommen, um uns vorzuführen, was man aus einer Straße alles machen kann.“ Die Leute schliefen da, wo sie lebten, die Luft war unverschmutzt, die Sterne leuchten am Himmel, das Brot schmeckte, es war noch nicht der „Inhalt der gesamten Produktion verfälscht“. Doch dann sei dieses Paris untergegangen. „Die Zerstörung von Paris ist nur eine beispielhafte Veranschaulichung der tödlichen Krankheit, die momentan alle Großstädte dahinrafft, und diese Krankheit selbst wiederum nur eines der zahlreichen Symptome des materiellen Niedergangs einer Gesellschaft.“
Aber andererseits hatte Paris „mehr zu verlieren als jede andere Stadt. Es ist ein großes Glück, in dieser Stadt jung gewesen zu sein“, vor allem gab es dort „ein Stadtviertel, wo das Negative Hof hielt“. Der Wein verdrehte allen die Worte und den Kopf, Arbeite nie!, war der Worte ganzer Sinn. „Das Dasein aller aber zeichnete sich vor allem durch eine außergewöhnliche Untätigkeit aus, und unter all den Verbrechen und Delikten, die die Obrigkeit hier zur Anzeige brachte, ist es das, was am bedrohlichsten empfunden wurde.“ Aber es handelte sich auch um Leute, „sehr ernsthaft bereit, Feuer an die Welt zu legen“, an eine „schon schwankende Gesellschaft, die das aber noch nicht wissen will“. Szenen aus Geheul für Sade werden eingeblendet, symbolisch für die Skandälchen des Präsitutionismus. Außerdem stellten sich einige „auch Fragen über die Niederlage so mancher Revolution, fragten sich, ob es das Proletariat wirklich gäbe und für den Fall, was es dann wohl sein könnte.“ Die Gründung der Situationistischen Internationale war im Grunde die bestimmte Negation dieses Milieus, politischer im Geist und konformistischer im Alltag. Letztere Bewegung besser dokumentiert, die S.I. gab immerhin 12 Nummern ihre Zeitschrift heraus. Aber auch davor gab es eine Zeitung: Potlatch. Indem Debord politisch weiter voran ging, ein größeres Terrain für seine Negation suchte und fand, wird die Phase mit der alles anfing zur Episode, zur glücklichen Jugend, auf die Debord immer wieder rekurriert. Er hat ihren Wein getrunken und hält ihnen die Treue. Den Gelagen dieser Zeit ist auch der Titel gewidmet: Wir irren des Nachts im Kreise umher und werden vom Feuer verzehrt. Die Situation war ein wenig wie heute, es gab keine bestehende Unternehmung, die sich der Aneignung der inzwischen industriellen Werkzeuge widmete. Aber dieser Mangel hielt diese Leute auch davon ab, „weniger erbarmungslos“ zu sein, indem sie sich einer bestehenden revolutionären Attrappe anschließen: „Die einzige Sache, die wir verfochten, mussten wir selbst bestimmen und ausführen.“
Als dann der Glanz dieses lettristischen und frühsituationistischen Milieus verblich, einige der Mut verließ und andere der Suff zerfrass, da haben einige andere „gedacht, dass man zweifellos damit fortfahren müsste, uns in die Perspektive des Angriffs zu bringen: Kurzum, anstatt sich in der bewegenden Festung eines Augenblicks zu verschanzen, uns Luft zu verschaffen, einen Ausfall machen, dann das Feld behaupten und uns ganz einfach damit befassen, die feindliche Welt restlos zu zerstören, um sie anschließend wieder aufzubauen, wenn es möglich wäre, auf anderer Grundlage.“ Die Zeit dafür war nicht schlecht, da „nach und nach eine neue Epoche von Großbränden entflammt“ ist, die Kneipenrebellion entpuppte sich als Vorschein größerer Revolten, und dafür braucht es andere Organisationsformen. Die Suche nach ihr ging tastend voran, den heiligen Gral wollte niemand haben. Und verlor sich einer – wie es Ivan Chtcheglov geschehen – „in den Wäldern des Wahnsinns“, so war er doch der schönste Spieler. All die eingeblendeten Comics stammen von Ivan Chtcheglov. Wahnsinnigerer sind allemal die Verhältnisse selbst. „Es gibt keinen Wahnsinn, der größer ist, als die heutige Organisation unseres Lebens.“
Die Situationistische Internationale jedenfalls versuchte sich im Avantgardismus, darin, mit der Zeit Schritt zu halten. „Wie viele hastige Reisen gab es da! Wie viele lange Dispute! Wie viele heimliche Treffen in allen Häfen Europas! Also wurde das beste Programm entworfen, um die Gesamtheit des sozialen Lebens mit vollständigem Argwohn zu belegen: Klassen und Spezialisierungen, Arbeit und Zerstreuung. Ware und Städtebau, Ideologie und Staat – wir haben gezeigt, dass dies alles in den Müll gehörte.“ Das Resultat ist global betrachtet natürlich bescheiden, wenn man dagegen die Zahl der in der SI versammelten Individuen betrachtet, kann es sich sehen lassen. Im Wesentlichen versuchte sie das Programm der überall ausbrechenden Revolten zu formulieren, man kann das in deren Zeitschrift nachlesen. Im Grunde erledigten sie die revolutionäre Propaganda des ganzen französischen Vormais. Es gab natürlich wie heute die vergammelte Linke, aber die holte niemand hinter dem Ofen hervor. Debord kann daher mit einigem Recht sagen: „So groß ist die Macht des zur richtigen Zeit ausgesprochenen Wortes.“
Diese ganze Wühlarbeit der SI hatte ihre Hauptstadt in Paris, das eben gerade im Untergang begriffen war. „Wir sollten sie bald verlassen, diese Stadt, die für uns so frei war, aber ganz und gar in die Hände unserer Feinde fallen wird. Schon wendet man da gnadenlos ihr blindes Gesetz an, das alles nach ihrem Ebenbild umgestaltet, dass heißt nach dem Vorbild einer Art Friedhof. ‚Oh Elend! Oh Schmerz! Paris zittert, bebt‘“. Der Pariser Mai erscheint so als ein letztes Aufbäumen der Negativität. Debord verfällt ins Militärische, beschreibt den damaligen Ansturm gegen die „Ordnung der Welt“ aus der Sicht der Kommandozentrale. Tatsächlich war die SI etwa am Straßburger Skandal deutlich beteiligt und brach dergestalt „aus dem Dunkel hervor“ und rückte dann beständig voran, nicht ohne zahllose Verluste: „Auf diesem Weg sind viele gefallen oder als Gefangene in den Händen des Feindes geblieben, und viele andere haben die Fassung verloren und wurden verletzt, so dass sie niemals wieder bei solchen Treffen erscheinen werden. Und sogar an Mut dürfte es gefehlt haben bei gewissen Elementen, die sich nach hinten fallen ließen.“
Debord versteht als leitender Akteur sogar einiges von Aufständen und setzt sich mit einigem Spott von den zahllosen Schreibtischrebellen ab, die grundsätzlich unpraktische Einwände finden. Etwa: „Leute, die niemals handeln, wollen glauben, dass man in aller Freiheit die Qualität derer aussuchen kann, die bei einem Gefecht erscheinen werden, genauso wie Ort und Stunde, an der man einen unabwendbaren und endgültigen Schlag ausführen wird. Aber nein: Mit dem, was man in der Hand hat und je nach den wenigen wirklich angreifbaren Positionen, wirft man sich auf die eine oder andere, sobald man einen günstigen Moment gewahrt. Andernfalls verschwindet man, ohne überhaupt etwas getan zu haben.“ In diesem Zusammenhang ergeben die Worte von Clausewitz und dem Strategen Sun Tse plötzlich Sinn. Am Ende wurde dann auch diese Avantgarde restlos aufgerieben und im Feuer verzehrt. Der Sinn der Organisation ist ihr Scheitern. Oder genauer: „Avantgarden haben ihre Zeit, und was ihnen bestenfalls passieren kann, ist, im vollen Sinne des Wortes ihre Zeit ausgefüllt zu haben. Nach ihnen beginnen Operationen auf viel größerer Bühne.“
Es ist für Einzelpersonen, die im Bereich des Negativen einige kleine Erfolge haben, immer schwer auch in der nächsten Periode mitzuhalten. Vor allem die narzisstische Kränkung, nicht mehr unmittelbar Teil einer Mikroavantgarde zu sein und sich von neuem bewähren zu müssen, macht zu schaffen, „das Besondere nutzt sich im Kampf ab.“ Viele der sogenannten Revolutionäre dieser Zeit ließen sich nachher auf die Kulturindustrie ein, plapperten in Talk-Shows. „Man weiß, dass diese Gesellschaft eine Art Friedensvertrag mit ihren erklärtesten Feinden unterzeichnet, sobald sie ihnen einen Platz in ihrem Spektakel verschafft hat“. Debord dagegen verließ die Szenerie. Danach hört man weniger von ihm, insbesondere, weil er, indem er einmal eine leitende Funktion innehatte, dies kein weiteres Mal tun durfte. Er lehnte es ab, ein Experte des Aufstands zu werden: „So habe ich, in ganz verschiedenen Gegenden, ablehnen müssen, mich an die Spitze von allerlei Arten subversiver Versuche zu stellen, einer antihierarchischer als der andere, die mir aber dennoch die Führung anboten“. Statt dessen hat er die SI lieber vollständig begraben und alle ausgeschlossen außer Chtcheglov und Sanguineti. Letzterer sollte tatsächlich noch einige Zeit negativ in Italien auffallen, aber auch das sollte bald enden. Debord selbst sagt von sich, er habe sich lieber als Einzelperson „die Mittel verschafft, aus der Ferne einzugreifen“. Er zog das individuelle Dasein danach meistens vor.
Er verließ Frankreich, nahm an einigen Festen in Italien teil, eine gute Wahl, da in Italien das Zentrum des latenten westeuropäischen Bürgerkriegs lag und die Klassen ausnahmsweise sich tatsächlich zu bekämpfen begannen. Man verpasste Debord dort „den Ruf eines Terroristen“, und so verließ er auch dieses Land. Nach dem „katastrophalen Schiffbruch“, an dem Debord gearbeitet hatte, folgt eine Phase der Depression, die Widersprüche erscheinen nicht in ihrer Negativität, allerdings ohne dass die Gesellschaft dieselben losgeworden wäre: „Die Einrichtung einer Epoche für die Kälte der Geschichte, das muss ich schon sagen, hat keine der Leidenschaften beruhigt, von denen ich so schöne und so traurige Beispiele gegeben habe.“ Aber die Scheiße geht von vorne los, und so gehen wir heute seit einer Dekade neuen Unruhen entgegen, das alte Gebäude bekommt wieder Risse, es ist, als wären Dampf und Kälte zurückgekehrt. Versprengte Haufen wie die S.I. könnten so für einen Augenblick auf Interesse stoßen, da es solche Unterfangen heute dringend braucht. – Wenn auch nur für einen Augenblick, solange die sich in Athen, London, Barcelona, Oakland, Ferguson oder jüngst in Paris Bahn brechende Negativität noch kein Bewusstsein findet und kleine Zirkel Gehör finden können. „Nach ihnen beginnen Operationen auf viel größerer Bühne.“
Dezember 2016