Für diejenigen, die sich bewegen (im Jahr 2023): 2016 im Rückspiegel
Bericht von der Eroberung der Demospitze bei den Protesten gegen das Arbeitsgesetz durch Anarchisten.
Innerhalb des Protestspektakels in Franreich 2016 kam es zu einer bemerkenswerten Spaltung der offiziellen Demonstrationszüge, indem deren Spitze regelmäßig von jugendlichen Radikalen übernommen wurden, die dann den Cortège de Tête bildeten. Schnell und zum Verdruß etwa der Gewerkschaften wurde dieses randständige Geschehen zum eigentliche Zentrum desselben und drückte dem Protest einen eigenwilligen Stempel auf.
(Näheres hierzu in den Collagen French Rag (2014) und Rondo Alla Francese (2016), der Broschüre Ni loi, ni travail – Texte zur periodischen Unruhe in Frankreich 2016 und im Buch Winter is coming – Soziale Kämpfe in Frankreich von Sebastian Lotzer.)
Der folgende Text behandelt die Geschichte und vor allem Vorgeschichte dieses Angriffs auf die situierte Demokultur, der bei aller Überraschung doch „nicht aus dem Nichts auftauchte“. Er erschien ursprünglich auf Lundi Matin und in Übersetzung auf www.bonustracks.blackblogs.org.
Von den Gewerkschaftszentralen bis zum Innenministerium sind sich alle einig: Wenn es nach der Zahl der Demonstrantinnen geht, ist die Mobilisierung gegen die Rentenreform die größte soziale Bewegung in Frankreich seit Jahren. Auf Pflastersteinhöhe erscheint die Stimmung auf den Straßen jedoch relativ gedrückt, es fehlt an Energie und die polizeiliche Betreuung erstickt. Viele vermissen das Jahr 2016 und seine Nachwirkungen, d. h. das Aufkommen neuer Erscheinungsformen des Demonstrierens und der Überschreitung des gewerkschaftlichen Rituals, was üblicherweise als Cortège de Tête bezeichnet wird. Im folgenden Text blicken ehemalige Schüler, die an der MILI (Mouvement Inter Luttes Indépendant) teilgenommen haben, auf diese Zeit und die Entstehung des berühmten Cortège de Tête zurück. Sie erinnern uns daran, dass es manchmal einiger „objektiver Bedingungen“ bedarf, um neue Formen zu erfinden, die Breschen schlagen und neue Möglichkeiten eröffnen können, aber vor allem und immer Kühnheit.
„Die Welt zieht sich proportional zu unserem Mut zusammen oder dehnt sich aus.“ (Keine Panik, kleine Krabbe, Anaïs Nin)
Am kommenden Donnerstag findet der fünfte von den Gewerkschaften organisierte Kampftag gegen die Rentenreform statt. Der fünfte bereits. In den letzten Wochen haben Gruppen mit revolutionärem Anspruch, die ihre Schwierigkeiten, in den Demonstrationen Fuß zu fassen, aber auch einen Mangel an gemeinsamen Ambitionen feststellen mussten, begonnen, verschiedene Analysen über „die Bewegung“ zu schreiben, die manchmal nostalgisch und selbstkritisch gefärbt sind. Darunter war auf Lundi Matin ein Aufruf zu lesen (s.d. Übersetzung auf bonustracks, d.Ü.), die „Weitergabe der Kampfsequenz von 2016 an die neuen Generationen“ zu gewährleisten. Das ist in gewisser Weise das, worauf der folgende Text abzielt: zu sehen, wie eine situierte Erzählung der 2016 erfolgten Überwindung die gegenwärtige Situation beleuchten kann. Es wird also von „2016“ die Rede sein. Oder besser gesagt, von der Bewegung gegen La Loi Travail aus der Sicht der MILI (1), um die Rolle zu aufzuzeigen, die bestimmte Gruppen in dieser Sequenz gespielt haben. Es geht darum, die Kehrseite einer Bewegung zu zeigen, die bis heute in der kollektiven Vorstellung existiert, sei es durch alte Bilder von Riot Porn oder in bestimmten Formen, die heute noch fortbestehen, manchmal im Modus der Folklore, insbesondere des Cortège de Tête. Diese Überbleibsel aus dem Jahr 2016 können zu Nostalgie verleiten oder eine „gesegnete Zeit der Demos in Paris“ suggerieren und damit vergessen lassen, dass man sich das Zbeul (2) immer noch verdienen muss. Es ist auch eine Gelegenheit, daran zu erinnern, dass wir 2016 zögerten, ausflippten und mehrfach glaubten, in eine Sackgasse geraten zu sein.
2010 bis 2016: Langeweile
Um zu begreifen, inwiefern 2016 ein Bruch in der Geschichte der Proteste der letzten fünfzehn Jahre war, muss man diese Bewegung in ihren Kontext einordnen. Abgesehen von der ZAD und einer Handvoll Ereignisse waren die ersten Jahre des Jahrzehnts 2010 zugegebenermaßen ziemlich deprimierend: keine großen Bewegungen, die ‚Rentenmobilisierung‘ hatte (bereits) die Rückkehr zu traditionellen Formen der Mobilisierung markiert. Die Frage der politischen Gewalt schien anachronistisch und fanatischen Banden von Hammerkobolden vorbehalten zu sein. Abgesehen von einigen wenigen Anlässen löste das kleinste Graffito oder Einschlagen einer Scheibe den Zorn der „guten“ Demonstranten aus, deren Verhalten mindestens genauso problematisch war wie das der Ordnungsdienste oder der Bullen, während die Winzigkeit und Schlaffheit des radikalen Milieus seine Überwachung erleichterte. Es war übrigens nicht ungewöhnlich, von Pazifisten als „Undercover-Bulle“ beschimpft und entlarvt zu werden. Das lag in der Ordnung der Dinge. Niemand wagte es also, sich die Möglichkeit der Entstehung von etwas wie dem, was später „Cortège de Tête“ genannt wurde, vorzustellen, und so marschierten die Radikalen brav am Ende der Demo, hinter der CNT und der FA, in Erwartung einer möglichen „manif sauvage“, dem obersten Horizont des Pariser radicool 2000. Wir überspringen den von den Attentaten geprägten Kontext: Tausende Menschen applaudierten auf der Place de la République den Bullen und dem Ausnahmezustand (und damit den Hausarresten und Demonstrationsverboten wie beim COP 21 im Jahr 2015). Man fand trotzdem einen Weg, ein bisschen zu lachen (big up Laffont), es gab auch den Horizont der ZAD, aber weit entfernt. Kurzum, eine beschissene Zeit.
Die Schaffung eines gewissen Handlungsspielraums vor 2016
Trotz allem wäre es falsch zu sagen, dass die Entwicklung im Jahr 2016 eine völlige Überraschung war, da sie nicht aus dem Nichts auftauchte. Ihr Auftauchen ist mit der Mobilisierung von Gruppen verbunden, im Rahmen der Bewegung, aber auch im Vorfeld. In dem Text von Lundi Matin „À la recherche du saut qualitatif“ wird die MILI als ein „Raum der Organisation“ beschrieben. Es handelte sich jedoch eher um eine Gruppe, die der Politik des Aufruhrs verpflichtet war, neben anderen. Sie unterschied sich jedoch durch ihre Öffentlichkeit und die Resonanz, die ihr Diskurs innerhalb einer Generation von Schülern fand, von diesen.
Vor der Bewegung gegen das Arbeitsgesetz bestand die Priorität der MILI darin, die parteilichen Jugendorganisationen und die Schülergewerkschaften, allen voran FIDL und UNL, daran zu hindern, die Schülerdemonstrationen zu lenken. Der Konflikt mit diesen Gruppen hatte mehrere Gründe. Zunächst einmal betrachteten wir, die MILI, diese Formationen als … windelweich. Auf unserer Seite wurde die Blockade übertrieben, während sie zur Ruhe aufriefen und erklärten, man müsse vernünftig sein und sich bereit erklären, den Dialog mit den Institutionen aufzunehmen. Die Linkeren, wie die junge NPA, machten es nicht viel besser und zogen es vor, zu jammern, dass die „objektiven Bedingungen“ nicht gegeben seien. Zweitens gab es eine Meinungsverschiedenheit über den Zweck. Die MILI war nicht unbedingt eine Gruppe von Autonomen und hatte vielleicht nie eine ideologische Homogenität, aber nach 2014 war man sich trotzdem einig, antikapitalistische und revolutionäre Parolen in den Vordergrund zu stellen, um es mal großspurig auszudrücken. Schließlich war es offensichtlich, dass die Mehrheit der Aktivisten in den linken Organisationen ‚Manager-Bürokraten-in-der-Kluft‘ waren, Emporkömmlinge, die in der Politik Karriere machen wollten und wie Politiker handelten. Sie nutzten die Mobilisierungen der Oberschüler, um ihren Organisationen Legitimität zu verleihen. Obwohl sie den meisten Oberschülern unbekannt waren, traten sie dennoch als Vertreter der Bewegung auf. Zu diesem Zweck verfügten sie aufgrund ihrer Nähe zu den politischen Parteien über beträchtliche Mittel. Diese Strategie wurde in der ursprünglichen Version des Treffens „11h Nation“ deutlich. Die Schülergewerkschaften riefen nämlich zu diesem Termin auf, damit die verschiedenen blockierten Gymnasien einen jugendlichen Demonstrationszug bildeten, der sich brav in die Gewerkschaftsdemo einfügen würde, in der sie zu David Guetta tanzen und dumme Slogans singen würden. Kurzum, das Manöver war abscheulich und es schien uns wichtig, der Farce ein Ende zu setzen. Naiv glaubten wir, dass jeder Jugendliche eine Zukunft als Randalierer hat, was genau dieses Gewerkschaftsdispositiv zu leugnen oder zu verhindern versuchte. Wir machten uns also daran, es zu sabotieren, was ganz konkret durch Ohrfeigen für die Führungskräfte, wenn sie Interviews beantworteten, Schlägereien mit dem Ordnungsdienst und bescheidene Überschreitungen des vorgegebenen Rahmens wie Tags, Knallkörper, Rauch, Maskierung usw. geschah. Es war langwierig und mühsam, die aufstrebenden Bürokraten unter Druck zu setzen, und zugleich war es einfach, denn in Wirklichkeit repräsentierten sie nur sich selbst. Schwieriger wurde es, wenn sie uns an die Bullen verrieten oder von dem Ordnungsdienst von SOS Racisme oder der UNEF mit Schlagstöcken und Gasmasken in der Hand unterstützt wurden. Wenn man genau sein müsste, würde man den 14. November 2014, die Demo nach dem Tod von Rémi Fraisse, wählen, um die Ausgrenzung der Schülergewerkschaften genau zu datieren: Zusammen mit einer anderen Bande räumt der MILI den Ordnungsdienst der Demo, antikapitalistische Tags ersetzen die Flaggen der PS und Anti-Cop-Slogans und Böllergeräusche ersetzen David Guetta.
Zwischenfälle und Schlägereien Demonstration von Schülern / Paris
Frankreich 13. November 2014
Die Schülergewerkschaften lassen danach nach und nach die Finger von der Sache. So sehr, dass 2015 die Demonstration gegen das Macron-Gesetz von der MILI organisiert wird und ihre Stimmung sich von den klassischen Schülerdemos abhebt. Kurzum, kurz vor 2016 hatte sich die MILI, unterstützt von anderen und unter dem Einfluss anderer politischer Erfahrungen, im politischen Mikrokosmos der Oberschüler durchgesetzt, sich dort einen kleinen Ruf aufgebaut und genoss ein gewisses Publikum. Wir hatten einen Raum für Interventionen eröffnet.
Demonstration gegen das Macron-Gesetz – 9. April 2015
Zu schnell zu starkt?
Dennoch trat der Cortège de Tête nicht gleich bei der ersten Mobilisierung 2016 in Erscheinung und die Spannung musste erst crescendoartig aufgebaut werden. Wir sind im Übrigen fast zu schnell zu heftig losgezogen. Zu glücklich, die „11 Uhr Nation“ organisieren zu können, galvanisiert von der Vorstellung einer wahrscheinlichen großen Bewegung und unter dem Einfluss der seltenen randalierenden Demonstrationen der letzten Jahre, beschlossen wir, das Niveau zu erhöhen. Nur dass es regnet, dass wir wahrscheinlich nicht mehr als 200 Leute sind und dass wir zwar schon an einigen Krawallsituationen teilgenommen haben, dies aber nicht für die große Mehrheit des Demonstrationszuges gilt. Als die Demonstranten also anfangen, Feuerwerkskörper in alle Richtungen zu werfen, mit Eiern und Farbflaschen zu werfen und sich auf die Banken im Faubourg Saint-Antoine zu stürzen, breitet sich eine Panik in der Demonstration aus, ohne dass sie sich deswegen auflöst. Die Stimmung wird zusätzlich getrübt, als eine Schülerin beim Aufheben eines Knallkörpers eine Fingerkuppe verliert und ein ehemaliger FIDL-Kader mitten im Demonstrationszug, der in einer Gasse stagniert, drei,vier Kartoffeln an den Kopf bekommt. Die Stimmung ist bedrückend, trotz der Musikanlage, die wir mitschleppen, um der Demo einen „festlichen“ Touch zu verleihen. Trotz all dessen und des Drucks der Polizei hält der Zug durch und erreicht den Place de la République für die Gewerkschaftsdemonstration, bei der nichts Nennenswertes passiert. Wir sind mit uns zufrieden, fragen uns aber trotzdem, ob wir für dieses erste Datum nicht wirklich zu schnell zu hart losgelegt haben.
Dennoch, eine Woche später, am 17. März, fangen wir wieder von vorne an….. Diesmal ist das Wetter schön, und es finden sich noch mehr Leute bei 11 Uhr Nation ein. Um die Diskrepanz zwischen den schwarzgekleideten Schülern und dem Rest des Demonstrationszuges auszugleichen, entscheiden wir uns nicht für eine Nivellierung nach unten. Im Gegenteil, wir besorgen uns Masken, die wir auf der Demo verteilen, um möglichst viele Leute dazu zu bringen, sich zu maskieren, wir schnappen uns ein Megaphon, um zu versuchen, Ängste abzubauen, und wir beschließen, uns farbig zu maskieren, um weniger gruselig zu wirken. Ohne dass es strategisch durchdacht war, beschließen wir, Banner mit Punchlines von Rappern, die wir hören, zu machen und sie zu taggen. Das mag harmlos erscheinen, aber es erinnert (uns) daran, dass wir Teil der Schülergemeinschaft sind und dass wir die langweilige Politik all dieser trotzkistischen oder sozialistischen Aktivisten nicht wollen, die selbst dann, wenn sie noch keine 18 Jahre alt sind, bereits wie tausendjährige Bürokraten aussehen. Wir wollen nicht mehr D. Guetta, wir wollen nicht mehr das berühmte „3 Schritte vorwärts, 2 Schritte zurück, das ist die Politik der Regierung“, wir wollen PNL, SCH oder Booba, etwas, das uns wirklich anspricht. Mühsam versuchen wir, einen Demonstrationszug zu bilden, um in den Faubourg Saint-Antoine einzuschlagen, wir haben Mühe, die Transparente nach vorne zu bringen, dann setzt sich der Zug in Bewegung. Eine halbe Sekunde lang glauben wir, dass wir die Demo driften und die ganze Soße crescendoartig überkochen lassen können, bevor wir zu unserer großen Freude von uns selbst, aber auch von einem Teil der Gymnasiasten überrannt werden.
Die Mobilisierung am 17.3.2016 in Paris
Die Demo wird noch weniger weit gehen als beim letzten Mal und ein Großteil des Demonstrationszuges löst sich auf und verabredet sich mit der Gewerkschaftsdemo, ohne dass dort etwas Interessantes passiert.
Wir erwarten nicht viel von Gewerkschaftsdemos, wir sind jung, ein bisschen verrückt, aber für uns bleibt es ein abgeriegelter und feindlicher Raum. Wir haben uns dort schon ein paar Mal daneben benommen und wissen genau, dass offensive Aktionen von einem Großteil der Demonstranten und der Gewerkschaftsorganisationen abgelehnt werden. Einige von uns haben 2010 flüchtig an der ‚Rentenbewegung‘ teilgenommen. Wir erinnern uns an die manifs sauvage, bei denen 100 oder 150 Personen einen Demonstrationszug mit zehntausenden Teilnehmern hochgezogen haben, an die Affäre um den „Ninja-Tritt“ und an die Interventionen der BAC in Zivilkleidung in der Demonstration. Wir konnten diesen Rahmen sogar 2014 bei einer Anti-FN-Demonstration testen: Beim ersten zerbrochenen Schaufenster wurden wir von Hunderten von Demonstranten ausgebuht, unter deren Augen wir mit der BAC, die uns verfolgte, Katz und Maus spielen mussten. Kurzum, das erklärt, warum wir zögerten, in das Objekt zu investieren.
Die gane Wahrheit über die Geschichte der tatsächlichen Entstehung des Cortège de Tête
In der Woche darauf beschließen wir, zu einer Schülerdemonstration um 11 Uhr am Place d’Italie aufzurufen, die es uns erleichtern sollte, uns dem Gewerkschaftszug anzuschließen, der am 24. März von Montparnasse nach Invalides zieht. Obwohl wir nicht sehr zahlreich waren und nicht unbedingt mit den Lycéens von Paris-Sud auf einer Wellenlänge lagen, begann der Tag stark: Flaschenwürfe und Vertreibung der BAC von Hand und mit Gewalt.
Die Zusammenstöße bei der Demonstration in Paris, 24.3.2016
Diesmal erklärt sich das Ausmaß der Ausschreitungen vor allem durch die Ankunft anderer Banden auf den „Oberschulen“-Demos. Wir hatten eine kleine Streitmacht und schafften es mehr oder weniger, der Oberschülerbewegung einen Rhythmus zu geben, andererseits konnten wir die Frage der Polizei nicht allein bewältigen. Wir luden ein und begannen, uns mehr oder weniger formell mit anderen Banden zu koordinieren, mit denen wir seit einiger Zeit zu tun hatten, nicht mit dem verkümmerten Pariser Milieu, sondern mit denen, die noch an die Strategie des Aufruhrs glaubten, die sich bewegten und sich die Mittel dazu verschafften. Doch auch wenn man sich über den Willen einig war, das Niveau der Konfrontation zu erhöhen, gab es keine ideologische Homogenität. Darüber hinaus handelte es sich nicht um eine unterkühlte Koordination von Gruppe zu Gruppe. Was diese Banden zusammenhielt, waren Komplizenschaften, Kameradschaftsbande und manchmal auch Freundschaften. Das hohe Maß an kollektivem Einsatz und die Diskussionen stärkten diese Bindungen ebenso wie die Nebenschauplätze. Allerdings gab es auch keine Homogenität in Bezug auf die Lebensformen. Kurzum, ohne diese Koordination wäre der „qualitative Sprung“ von 2016 in Paris nicht möglich gewesen, und sie spielte eine wichtige Rolle bei den ersten Terminen der Bewegung.
Der Schülerkorso schafft es mehr oder weniger, nach Montparnasse zu gelangen, und wieder einmal wird nicht viel von ihm erwartet. Aber auch hier wurden wir von einem Teil der Oberschüler überholt, und auch das erfreute uns. Aus Kühnheit oder Naivität, wir werden es nie erfahren, beschließt ein Teil des Zuges, sich vor dem Gewerkschaftsblock zu positionieren, da er nicht versteht, warum er ans Ende der Demonstration verbannt werden soll. Wir entscheiden uns natürlich dafür, die Initiative zu unterstützen, denn wir hassen die Linke in all ihren Formen: politische Parteien, Schüler- und Studentengewerkschaften oder Gewerkschaftszentralen. Für uns sind sie Reformisten, mit denen man weder die Mittel noch die Ziele teilt, und dieses Gefühl wird durch die PS-Regierung noch verstärkt. In vielerlei Hinsicht war 2016 für uns eine Bewegung gegen die traditionellen Formen des Protests. Den Gewerkschaften gefiel die Bewegung nicht (wie? Jugendliche wollen vorne mitmarschieren, weigern sich, sich vertreten und führen zu lassen?), ebenso wenig wie den Bullen, die die Gelegenheit nutzten, um einen Aktivisten in diesem allerersten Cortège de Tête zu verhaften. Der Cortège de Tête, der mehrheitlich aus Schülern besteht, bewegt sich schließlich weiter, während der Ordnungsdienst dafür sorgt, dass mindestens 100 Meter zwischen ihm und dem Rest der Demonstration liegen. Bis zum Invalidendom ist es ziemlich ruhig, dann geht es wild zu. Man ist gewillt, die Bourgeoisie in Unordnung zu bringen, zumal sich die Zusammensetzung der Demonstration nicht auf das radikale Milieu beschränkt.
Demonstration mit elektrisierter Stimmung, Paris, 24.3.2016
Ohne dass dies einer linearen Entwicklung folgte, stieg die Spannung von Termin zu Termin, sei es gegenüber den Bullen oder dem Ordnungsdienst. Am Morgen im Rahmen der „Schülerdemonstrationen“, die immer mehr nur dem Namen nach Schüler sind: Angriff auf eine Polizeistation am 25. März nach dem Angriff von Bergson.
Schüleraufstand nach Polizeigewalt am Bergson-Gymnasium, Paris - 26.3.2016
, Zusammenstöße auf der Austerlitzbrücke in der folgenden Woche:
Randale, Regen, Schwarzer Block, Paris, 31.3.2016
In der Folge begannen die 11-Uhr-Treffen Nation unter dem Einfluss der Repression zu schwinden, die Bullen behandelten sie immer mehr wie ein Treffen von Radikalen und immer weniger wie eine Schülerdemonstration. Das erste Treffen im April wurde übrigens stark unterdrückt: schwere Geschütze und gestellte Fallen, den Glücklichsten gelang die Flucht durch die ehemalige Kaserne von Reuilly.
Provokationen und Polizeigewalt, Paris, 5.4.2016
Schlägereien
Die bald folgende Auflösung dieses Raumes erweist sich nicht sofort als problematisch. Er wird es ermöglicht haben, der Mobilisierung einen Rhythmus und eine Intensität außerhalb des Rahmens der Gewerkschaftsdemonstrationen zu verleihen, die sich übrigens unter dem Impuls des Cortège de Tête zu öffnen beginnen.
Auch hier war es nicht einfach, man musste sich gegen die Bullen und vor allem gegen den Ordnungsdienst durchsetzen, für den der Cortège de Tête die Hegemonie der Gewerkschaften über die soziale Bewegung bedroht und sicherlich, was für sie noch wichtiger ist, ihre Rolle als „gros-bras-à-grosses-couilles“ in Frage stellt. Der Legitimitätsverlust der Gewerkschaften zugunsten des Cortège de Tête lässt sich durch verschiedene Elemente erklären, denn obwohl das Kräfteverhältnis durchaus materiell war, ging es vor allem um die Frage der Legitimität radikaler Praktiken und derer, die sie tragen. Zunächst galt es, sich physisch durchzusetzen. Am 31. März kam es zu einer ersten Schlägerei mit der FO, der es jedoch nicht gelang, den Kopfzug zu zerschlagen. Eine weitere große Schlägerei brach am 17. Mai aus, der Ordnungsdienst wurde in die Flucht geschlagen (danke Monceau Fleurs).
Demonstranten, Polizei und Ordnungsdienst, Paris, 17.5.2016
Gleichzeitig wird der Kontrast zwischen dem Cortège de Tête, der entschlossen ist, das Konfliktniveau zu erhöhen, und sich angesichts der Repression organisiert, und der Halbherzigkeit der Gewerkschaftsorganisationen immer stärker. Der Cortège de Tête verkörpert die radikalste Opposition gegen das Gesetz, die Regierung und den Kapitalismus und sicherlich auch gegen die traditionellen Methoden des Protests, der seit Jahrzehnten eine Niederlage nach der anderen einstecken muss. Nach und nach schließen sich ihm dann all jene an, die sich nicht auf die „Smarguez-bon-enfant“-Demos beschränken wollen, darunter auch Gewerkschafter. Die Gewerkschaften und ihre Ordnungsdienste scheinen das Ausmaß dieses Umschwungs nicht begriffen zu haben. Als die Ordnungsdienste am 17. Mai mit Baseballschlägern, Teleskopschlagstöcken, Helmen und Gaspatronen bewaffnet versuchte, den Cortège de Tête wieder unter Kontrolle zu bringen, wurde sie von einer massiven und heterogenen Gruppe (Jugendliche, schwarz gekleidete Radikale, Gewerkschafter, normale Leute, alte Leute usw.) ausgebuht, die „Ordnungsdienst-Kollaborateur“ skandierte. Letzterer hat am selben Tag die Schlägerei und seine Legitimität im Demonstrationsraum verloren, seitdem nagt er am Hungertuch. Die Demütigung der Gewerkschaftszentralen wird noch später, am 1. Mai 2018, deutlich: Die Zahl der Demonstranten im Cortège de Tête übersteigt bei weitem den Gewerkschaftsblock, der an diesem Tag, der einen riesigen schwarzen Block gesehen hat, nur noch eine Anekdote ist.
1. Mai, Paris, 1.5.2018
Neben den Gewerkschaftsdemonstrationen entfaltet sich die Konflikthaftigkeit weiterhin in anderen Räumen: Besetzung von Tolbiac, manifs sauvage, Nuit Debout und ihr berühmter Aperitif bei Valls und die Blockaden der Gymnasien.
Generalversammlung in Tolbiac und wilde Demo gegen das Arbeitsgesetz, 21.3.2016
Aperitif bei Valls, wilde Demonstration, 9.4.2016
Wir haben keine Kontrolle mehr, wir sind schon lange überfordert, und das ist auch gut so. Auch wenn die Bewegung uns galvanisiert, verlieren wir paradoxerweise an Geschwindigkeit, die Gruppe beginnt unter der (Re-) Pression zu zerfallen. Wir spüren, dass wir im Fadenkreuz stehen, wir werden als „Ultra“-Bewegung dargestellt; als die ersten Demonstrationsverbote für uns ausgesprochen werden, werden einige auf dem Heimweg von der Polizei misshandelt, und es gibt auch das verbrannte Bullenauto. Kurzum, es wird immer schwieriger, eine öffentliche Existenz und öffentliche Aktionen anzunehmen, und vielleicht am problematischsten: Man kann sich nicht auf eine gemeinsame Ebene des Engagements einigen. Generell gibt es die Abnutzung einer Gruppe, die vielleicht zu schnell verbrannt ist und eine Tendenz zum Nihilismus und zur Selbstzerstörung hatte. Die Implosion unserer Gruppe hatte keine Auswirkungen auf die Bewegung, sie hatte einen eigenen Rhythmus gefunden und begann, ihre eigenen Banden zu generieren. Der 14. Juni war ein eindrucksvoller Beweis dafür. Wir sind dort nicht als Team präsent und es gibt eine Vielzahl anderer Gruppen, die die Arbeit erledigen werden.
Overthrow, Paris, 14.6.2016
Dasselbe passiert im Herbst: Wir rufen zu einer Schülerversammlung auf, 50 Jugendliche sind Anfang September im Saal, sie haben das Gefühl, nicht viele zu sein, und wir antworten ihnen, dass wir vier Jahre lang nicht mehr als zehn waren.
Never grew up?
Der Cortège de Tête entstand nicht auf magische Weise. Er war nicht weniger ein Produkt der Spontaneität als der „objektiven Bedingungen“. Es ist eine Form der Konfliktualität, die sich unter dem Impuls der Banden allmählich in der Gewerkschaftsdemo durchgesetzt und verbreitet hat, um sich dann von ihr zu verselbstständigen. Es ist übrigens dieselbe Energie, derselbe Dissens, der versucht hat, sich anderswo zu entfalten – 11 Uhr Nation, Nuits Debout, manifs sauvage – und dort in begrenzterer Weise seinen Platz gefunden hat. ohne auf das gleiche Echo zu stoßen (mit punktueller Relevanz, aber nicht mit der gleichen Beharrlichkeit). Der Cortège de Tête veränderte sich übrigens während der gesamten Sequenz, bevor sich seine Form stabilisierte, folkloristisch wurde oder gar sklerosierte. Er wurde mal von seiner festlichen Seite dominiert, mal von einem Black-Block-Modus, oder auch von einem K-way-schwarze-schasubles-rote-Ton: So verkörperte sich der Konflikt in ihm nicht immer auf die gleiche Weise. Dennoch bedeutete er für diese Bewegung eine Zeit lang den „qualitativen Sprung“, die angemessene Form.
Dies gilt a priori nicht mehr für das Jahr 2023.
Auch wenn sich der Cortège de Tête dauerhaft und bis zu den aktuellen Demonstrationen gegen die Rentenreform etabliert hat, steht er nicht mehr für die Überwindung von Hindernissen (Anfechtung der Vereinnahmung des Raums der politischen Repräsentation durch den Linkskonservatismus, Mittel einer kollektiven Offensivität, Thematisierung der Bewegung jenseits eines reformistischen Kampfes). Es ist ein Ersatz, der auf eine automatische Form angewiesen ist, die jedoch allmählich ihrer Substanz beraubt wird: ein Wartesaal. Dort hofft man noch auf das Ereignis – manche versuchen manchmal, es zu aktivieren -, aber es kommt nicht oder nur selten.
Man vergisst vielleicht, dass ein solcher Ort im Jahr 2016 nur durch ständige Spannung und Kampf errichtet wurde und dass die Möglichkeit seiner Existenz einen Fuß in die Tür (und manchmal auch ins Gesicht) setzen musste. Die Schwierigkeiten waren zahlreich, die Aussichten – wie heute – gering, und doch musste man es versuchen, erfinden und dann durchhalten. Um manchmal – wie am 16. März 2018 oder im vergangenen Oktober in Sainte-Soline erneut zu sehen war – die berühmte Grenzüberschreitung zu erreichen.
Im Grunde handelt es sich hier nicht um einen Aufruf zu einem authentischen oder ewigen Cortège de tête. Auch wenn man ihn wahrscheinlich nicht in den Papierkorb werfen sollte – und die offensive Kontinuität seiner gegenwärtigen Sturheit in Betracht ziehen sollte -, sollte man seine Stagnation als eine Glaubenskrise verstehen. Die Zeit der Begeisterung, des Zusammenhalts und der starken Entschlossenheit, die man dort suchte, ist vorbei. Die Qualität und das Niveau der allgemeinen Konfliktivität, die dort zum Tragen kamen, haben sich aufgelöst. Die ungezügelten Angriffe der Bullen auf ihn, insbesondere in Paris, seit 2016 haben ihn vor allem nicht unversehrt gelassen. Und doch ist es immer noch besser, als in den hinteren Teil des hintersten Teils zurückzukehren, in den hintersten Teil der Fahnenparaden, in einen Minderheitenpfad, der in die Unendlichkeit führt.
Wenn man schon hingeht, dann sollte man auch mit dem Wunsch nach Selbstüberwindung hingehen, wobei nicht auszuschließen ist, dass das, was an die Stelle des Cortège de tête tritt, noch vom Cortège de tête selbst ausgehen kann. Es geht also darum, sich auf die Suche nach neuen Wegen zu begeben, um seine politische Hypothese zu aktualisieren, die da lautete: Intervention und Straßenkonfliktualität.
Die Spaltung wiederfinden, auch innerhalb der sozialen Bewegung, die Offensive vorantreiben.
(1) Mouvement Inter Luttes Indépendant (Unabhängige Bewegung zwischen den Kämpfen). Wie sich im weiteren Verlauf des Textes herausstellen wird, war die MILI sowohl eine "Bande" als auch ein Raum für die Organisation zwischen Pariser Schülern und jungen Studenten.
(2) Nach WWW: Das Wort kommt vom Arabischen „زبل, zebl“ und heisst wörtlich Gestank oder Dung. In den Banlieues wird das Wort in der Form „sbeul“ als Begriff für Durcheinander, Unordung und Radau verwendet, ferner auch für ein Puff (Bedeutung sowohl Bordell als auch Chaos).