„Wir haben die Mittel, dich glücklich zu machen“
Fußball – Ziel einer ziellosen Welt, eines ziellosen Lebens…
…Opium des Volkes
Aus Anlass der WM in Brasilien denunziert der folgende Beitrag eines englischen Genossen das moderne Fußballspektakel und seine Zuschauer. Sein Vorbild ist dabei die dialektische Religionskritik von Feuerbach und Marx. Er geht über die gängige Kritik hiesiger Oppositioneller hinaus, die bei jeder Weltmeisterschaft reflexartig das Schwenken von Nationalfahnen geißeln, denen aber nichts mehr zum Thema einfällt, sobald die Fans nicht in Schwarz-Rot-Gold, sondern in den Farben „ihres“ Vereins XY auftreten.
Was vor langer Zeit im Wesentlichen als ein Arbeitersport begann, der von den Armen auf der Straße oder an anderen nicht überwachten Orten entwickelt wurde, ist nun zu einer Methode geworden, um jene Arbeiter in Zuschauer zu verwandeln, diese Straßen und Orte zu kontrollieren und das Leben der Armen zu verschlechtern.
Das scheinbar endlose Spektakel des Sports hat die Unterwerfung kämpfender Gemeinschaften zur Grundlage. Im Gefolge der Zerschlagung von Gemeinschaften des Klassenkampfs, die Mitte der 1980er begann und bis vor ein paar Jahren andauerte, wurde der Fußball immer mehr zur „proletarischen“ Ersatzbeziehung zur Welt; er ist die partizipatorische Entschädigung und Tröstung für die Unterdrückung jener Kämpfe, für die Unterdrückung einer wirklichen Beziehung zur Geschichte. Die Leute geben ungeheure Geldsummen aus, um zu reisen und diese Spiele zu konsumieren, um sagen zu können: „Ich war dabei!“ Eine Ersatzgeschichte, vermittelt durch Sporthelden, Fanklamotten etc. Geschichte als Ware. Geschichte als Prestigekonsum.
Aber mit der WM in Brasilien wurden die Widersprüche der Show offensichtlich: Krankheit und Baracken für die Armen – Gesundheit und Villen für die Reichen. Das Warenspektakel hat seine Prioritäten, und Investitionen in Bilder und Ablenkungsunterhaltung sind mittlerweile profitabler als die Produktion von Gütern für den Grundbedarf. Die Methode heutigen Herrschenden ist eine geringfügige Variation des üblichen Brot-und-Spiele-Verfahrens, das seit dem römischen Reich bekannt ist: genetisch veränderte Krümel und Fußball, der von Millionären gespielt wird.
John Dennis, ein radikaler Bergarbeiter zur Zeit der Streiks in den 70ern und 80ern, erzählte mir einmal, dass er als Teenager ein Sheffield Wednesday-Fan war. Aber er habe immer das Gefühl gehabt, dass dies eine Rolle sei, die er spielen müsse – Freude zeigen, wenn die Mannschaft gewann, traurig sein, wenn sie verlor; es war etwas, wozu er sich verpflichtet fühlte wie durch ein ungeschriebenes Gesetz seiner Freundschaft zu den anderen Fans. Heute unterstützt diese Rolle, die die Fans annehmen, wenn sie ihr Gesicht in Nationalfarben anmalen, ganz offensichtlich den Terror der FIFA und der brasilianischen Bullen. „Wir wissen, dass diese Welt scheiße ist – lasst uns einfach genießen, was sie im Angebot hat.“ – mit einem Achselzucken wird Kritik und kritische Selbstreflexion durch eine konventionelle Mischung aus Naivität und Zynismus abgewehrt. Ein Taxifahrer in Fortaleza sagte am 16. Juni: „Es gab bei den Protesten etwas sinnlose Gewalt, aber jetzt ist es Zeit, den Fußball zu genießen.“ (bloomberg.com, 16.06.2014) Die rohe Gewalt der Bullen, des Staates und aller Kräfte, die diese kranke Show unterstützen, wendet sich gegen die bewusste Gewalt der Opposition, um diese als „idiotische Spielverderber“ abzutun. Getrennt vom Kampf für eine Gemeinschaft gegen diese Welt wird die Sehnsucht dazuzugehören einfach eine erstickende Pflicht, der man gehorchen muss. Sie zeigt sich in der übertriebenen Weise, mit der die Fans ihre aufdringliche Bejahung dessen zu Schau stellen, von dem man ihnen gesagt hat, dass sie es bejahen sollen. Egal, was die Leute wirklich fühlen, erfinden oder initiieren, es gilt, den Schein zu wahren. Was auf Facebook erscheint ist gut, was gut ist, erscheint auf Facebook.
Wenn die Leute bunte Masken und lustige Kleider tragen und ständig Selfies machen, sind das Leben und das Selbst alt geworden und können nicht mit grellen Farben verjüngt werden. Sie können nur als ins Netz gestelltes Foto beschworen werden. Die Bedeutung dieses Kostümschauspiels wächst in dem Maße, in dem das Leben seinem Sonnenuntergang entgegengeht und die Mitternacht des Planeten droht.
Diese banale Vorführung unterstützt recht bewusst den Positivismus, den das Kapital in eine Verpflichtung zu verwandeln versucht – trotz der sehr offensichtlichen fürchterlich negativen Konsequenzen dieses Positivismus (Besetzung der Favelas, Räumungen, Gentrification, mehr Armut und Krankheit, Sextourismus, Tränengas und Kugeln, Todesfälle auf den Baustellen, Ermordung vieler Obdachloser etc.). Die Bewegung proletarischer Subversion der letzten zwölf Monate in Brasilien hat es unmöglich gemacht, sich dieser negativen Konsequenzen nicht bewusst zu sein.
Wir können kaum die FIFA und den Rest der Bourgeoisie dafür tadeln, dass sie gemäß ihres chronisch kranken Klasseninteresses handeln – aber wir können die Zuschauer kritisieren, die Zuschauer bleiben wollen, die bei der Aufrechterhaltung ihres Elends kollaborieren – sie sind der feige innere Feind, gehen immer auf Nummer sicher, tun immer so als ob, vermeiden stets die Tiefen und bleiben an der Oberfläche, schwimmen immer mit dem Strom, bis er sie schließlich ertränkt.
Die Fußballweltmeisterschaft ist eine subtilere Version der Methode hierarchisch organisierten Freizeitkonsums, die kürzlich von der herrschenden Klasse Thailands angewendet wurde:
„Brauchst du einen Muntermacher? Wie wär’s mit einem kostenlosen Haarschnitt oder einer Mahlzeit? Einer Tanzvorführung mit Frauen in Miniröcken aus PVC? Oder möchtest du vielleicht ein Pony streicheln?
All dies – und mehr – wird dir freundlicherweise zur Verfügung gestellt von der Freudenkampagne der Königlichen Thailändischen Armee, die nach dem Militärputsch im letzten Monat überall in Bangkok kostenlose Feste veranstaltet, um der thailändischen Öffentlichkeit ‚die Freude zurückzubringen‘.
Diese ‚Parties‘, eine bizarre Mischung aus von der Armee kontrollierten Straßenfesten und Musikfestivals, finden in Parks und auf Plätzen statt. Die Menge wird mit kostenlosem Essen und Getränken überschüttet und hat Gelegenheit, der Armee beim Singen und Tanzen zuzusehen – und Selfies neben Soldaten in voller Montur zu machen…
Die Kampagne wurde von Gen Prayuth Chanocha ins Leben gerufen, der vor zwei Wochen durch einen Militärputsch die Macht in Thailand übernahm. […] Prayuth sagte, der Putsch solle gefeiert werden, da er den Thais die Möglichkeit gebe, sich gut zu fühlen, nachdem eine lange Periode politischer Grabenkämpfe das Land tief gespalten habe. ‚Das thailändische Volk war, genau wie ich, wahrscheinlich seit neun Jahren nicht fröhlich‘, sagte er letzten Monat. ‚Aber seit dem 22. Mai gibt es Freude.‘“ (The Guardian, 4. Juni 2014)
Das Ziel des WM-Spektakels, wie des Freizeitspektakels insgesamt, ist es, als über der Politik stehend gesehen zu werden – es präsentiert sich als eine Gemeinschaft der falschen Freundschaft, vermittelt durch das, was diese Gesellschaft als „Freude“ definiert: „‚Es herrscht ein Klima der Verbrüderung vor‘, erklärte die brasilianische Präsidentin Rousseff gestern Abend in Brasilia gegenüber Reportern. Rousseff sagte, der Stimmungsumschwung erinnere sie daran, wie sie 1970 die Weltmeisterschaft anschaute, während sie unter der Militärdiktatur im Gefängnis saß. Durch seine Erfolge habe das brasilianische Team damals nach und nach auch diejenigen unter ihren Mitgefangenen für sich einnehmen können, die sich geweigert hätten, die Nationalelf zu unterstützen, da sie davon ausgingen, dass ein Sieg nur das Militärregime stärken würde. ‚Die brasilianische Mannschaft verkörpert unsere Nationalität‘, sagte sie gestern in einer Emailbotschaft. ‚Sie steht über Regierungen, politischen Parteien und den Interessen jeglicher Gruppen.‘“ (bloomberg.com, 16.06.2014) Sogar Gefangene unter einer brutalen Diktatur können den positiven Wert der Nation anerkennen, deren Botschafter der Fußball ist – vorausgesetzt, sie schlagen sich den schwachsinnigen Gedanken aus dem Kopf, dass Fußball Militärregimes stärke (und natürlich dürfen sie nicht auch noch einen Schritt weiter gehen und erkennen, dass diese militarisierten Regimes sowohl eine diktatorische als auch eine demokratische Form annehmen können.) Aber indem er von der Fußball- Show und ihrer Verbrüderungsideologie überwältigt wird, kann sogar ein Gefangener seinen wütenden Standpunkt aufgeben und in das gefügige Selbst verwandelt werden, das es dieser Gesellschaft ermöglicht, die Leute leichter zu brechen.
Angesichts der extremen Brüchigkeit des Selbstgefühls jedes Einzelnen in einer Welt, die alle Individualität ebenso zerstört wie jede auf Solidarität beruhende Gemeinschaft, welche es den Individuen ermöglicht, einander anzuerkennen – angesichts dieser Lage wird die Bejahung von Situationen, die sich vollständig außerhalb der Mitwirkung oder Kontrolle des Einzelnen befinden, zu einem pathologischen Bedürfnis, zu einem verzweifelten Versuch, sich mit jemandem zu verbinden – in diesem Fall durch den Sport (wobei die kulturellen Vermittlungen für gewöhnlich ebenso entfremdet sind). Die Fans versuchen sich selbst vorzutäuschen, dass sie irgendwie an allen Entscheidungen mitwirken, indem sie sich wie Möchtegernmanager „ihres“ Teams verhalten: „Wir sollten X in Position Y bringen und uns mehr auf Z konzentrieren, und dieser Bastard Q hätte schon vor Jahren entlassen werden sollen“, blah, blah, blah. Sie wetteifern miteinander, indem sie ihr Expertenwissen zur Schau stellen und merken sich dafür alle Einzelheiten der Teamgeschichte und allen Tratsch über ihre und die gegnerischen Mannschaften. Eine stellvertretende Gemeinschaft, eine simulierte Form der Entscheidungsfindung – die einzige, die das Kapital hervorbringt; und die es en masse hervorbringt, je mehr es wirkliche Gemeinschaft und das Treffen relevanter Entscheidungen verunmöglicht. All die fieberhafte Leidenschaft und Überschwänglichkeit für die unvorhersagbare, nicht geprobte, keinem Skript folgende Spannung des Spieles konzentriert sich auf das Fußballfeld, eine Vermittlung, die sich vollständig außerhalb der Kontrolle der Fans befindet, deren Augen sich nie treffen. Wie immer ist das Spektakel – ob im Sport, in der Politik oder in der Kultur – ein Ersatz für wirkliches Leben – das einzige Spiel, das es tatsächlich wert ist, gespielt zu werden.
Dieses Spiel wird überall mit Ablenkungen, Lügen und Tränengas unterdrückt: die unvorhersagbare, nicht geprobte, keinem Skript folgende Spannung des revolutionären Abenteuers.
PS: Angesichts der allgemeinen Bedingungen äußerster Isolation finden Leute natürlich Vorwände, um mit anderen Leuten zusammenzukommen. Und manchmal gehen Fans über die ihnen zugeteilte Rolle als Fans hinaus, z.B. hier, hier und hier.
Sam FantoSamotnaf, Juni 2014
Kommentar eines Lesers
Ja, ich denke, der Text fasst gut zusammen, wie ich die ganze Sache sehe – wie die hunderttägigen Spiele des Kaisers Titus, um ein ruheloses Rom zu besänftigen. Ich stimme auch vollkommen mit der Beschreibung des Fans überein – die erlernten Mantras aufsagen über So-und-sos langen Pass und dass Dingsbums das 4-4-2-System gegen Wen-auch-immer hätte anwenden sollen. Und dann das obligatorische „Komm schon, Junge!“ Es ist eine mächtige Sache – ein Gefühl sowohl der Zugehörigkeit, also auch der Macht, das von einer vereinten Menge hervorgebracht wird. Aber leider ist es, wie du gesagt hast, eine falsche Opposition, die ein völlig fabriziertes Team mit einer genauso fabrizierten Identität unterstützt.
Ich nehme an, dass die Liebesgeschichte der Arbeiterklasse mit dem Fußball aus den Industriestädten stammt – oder eher aus bestimmten Vierteln in diesen Städten – die Mannschaften aus ihren eigenen Leuten zusammenstellten und sie gegen rivalisierende Viertel oder Städte antreten ließen. Die Unternehmer sahen wahrscheinlich das Ansehen, das Geld und die leicht erworbene Loyalität der Arbeiter, die sie durch die Sache gewinnen könnten, und steckten Geld hinein, sodass der Sport (oder eher das Spektakel des Sports) sich schnell zur Freizeitbeschäftigung Nummer eins für Männer aus der Arbeiterschaft entwickelte. Diese wiederum nahmen ihre Söhne mit ins Stadion – als eine Art Initiationsritus und vielleicht, weil das ganze Erlebnis einer vereinigten Masse proletarischer Männer einen flüchtigen Eindruck – oder auch nur den Schein – von etwas Anderem bereithielt als das verpestete Elend, die überfüllten und oft sexfreien Wohnungen und das kurze und brutale Arbeitsleben in den Industriestädten. Und natürlich endete das Ganze oft in Besäufnissen und Prügeleien mit der Polizei.
Was auch immer genau passiert ist und wie es dazu kam – jedenfalls ist das, was ich jetzt sehe, ist eine Farce dieses Scheins. Die Einheit der Masse ist der Vereinzelung der sich vor dem Fernseher Ereifernden gewichen, oder den Pseudo-Massen, mit denen die Pubs vollgestopft sind und die vor der Großleinwand grölen. Die Ticketpreise für die Stadien schossen in die Höhe, sowohl, um bei der Menge maximal abzukassieren, also auch, um die unruhigeren Elemente aus den ärmeren Siedlungen und Vierteln auszuschließen, usw.
Ich denke, es geht beim Fan-sein um eine Vielzahl von Dingen, aber die vom oben erwähnten John erwähnten Aspekte – Dazugehören und Loyalität – scheint mir sehr bedeutsam. Und es geht auch darum, akzeptiert zu werden und vielleicht um die Chance, in einem Zeitalter der Banalität etwas Außergewöhnliches zu erleben.
Während einer der letzten Weltmeisterschaften ging ich mit ein paar Kumpels, die sich für Fußball interessierten, ins Pub. Ich merkte, dass ihre Unterhaltung bei jedem Spiel dieselbe war. Ich beschloss, mir die wichtigsten Phrasen zu merken, um mitmachen zu können. Obwohl ich nichts über Fußball weiß, stellte ich fest, dass meine Kommentare – die alle imitiert waren – umstandslos akzeptiert wurden. Es gab da keine Wahrheit außer der, dass wir uns alle innerhalb derselben Lüge bewegten.
Anmerkung des Übersetzers: Der Text wurde zuerst auf englisch unter dem Titel „Ve haf vays of making you happy“ auf dem Blog „dialectical delinquents“ veröffentlicht. Der englische Titel ist eine Abwandlung der dem englischsprachigen Publikum bekannten Film-Phrase „Ve haf vays of making you talk“, die einen Gestapo-Offizier aus dem 2. Weltkrieg parodieren soll. Es ist mir dafür keine adäquates deutsches Pendant eingefallen.
Der Leserkommentar stammt vom selbem Blog. Ich habe ihn mit übersetzt, da er mir als eine sinnvolle Ergänzung zum Text erscheint.