April 20-22: Plan Nord, Plan Mort
Im Frühjahr 2011 machte Charest eine neue Marketing-Kampagne bekannt: den Plan Nord, einen Rettungsanker für seine Wiederwahl und die seiner Partei. Es gab einen Medienrummel rund um „eines der größten sozialen und ökologischen Projekte unserer Zeit“, wie es die Regierungswebseite beschrieb. In den Metrostationen tauchten Propagandaplakate auf, die erklärten, wie dieses Vorhaben Jobs schafft und Wohlstand nach Québec bringt. Anarchisten waren beunruhigt, aber es war zunächst unklar, wie man gegen dieses Projekt mobilisieren könnte.
Natürlich hat der Plan Nord selbst keine eigene Substanz. Es handelt sich schlicht um einen Versuch der Regierung Québecs, den sich in letzter Zeit beschleunigenden Bemühungen, die Labrador-Halbinsel zu kolonialisieren, eine Marke zu verpassen. Diese besteht darin, die Ureinwohner von ihrem Land und Rohstoffen zu enteignen und diese Rohstoffe dazu zu benutzen, schnelles Geld zu machen. Sie sollen das Vertrauen auf die Zukunft von Québecs krisengeschüttelter kapitalistischer Wirtschaft wiederherstellen. Der Süden Québecs wurde bereits gründlicher kolonialisiert und ausgebeutet und jetzt ist dieses Gebiet unproduktiv, verglichen mit anderen fortgeschrittenen kapitalistischen Wirtschaften vergleichbarer Größe. Aber es gibt keinen wesentlichen Unterschied zwischen dem, was „im Norden“, und dem, was „im Süden“ passiert. Es handelt sich einfach um eine Sache des Fortschritts, wobei die Entwicklung des Nordens aus verschiedenen Gründen der des Südens hinterherhinkt. Aus der Perspektive von Kapitalisten macht es Sinn, möglicherweise profitable Gegenden auszumachen, die bislang noch nicht so effizient ausgebeutet werden, wie es möglich wäre – der einzige wirklich politische Aspekt des Plan Nord ist daher das Versprechen der Regierung, diese Sache ernsthaft anzugehen mit bestimmten Zielen für die nächsten 25 Jahre. Der Rest ist Marketing und Propaganda.
Die Québecer Regierung wird es ermöglichen, auf der Labrador-Halbinsel Wälder zu roden, Flüsse aufzustauen und Tagebau in das Land zu graben, darunter Uranminen. Der Zustrom von Arbeitern wird zu einer Bevölkerungsexplosion führen; es wird mehr Bewohner in den vielen nördlichen Städten geben und wahrscheinlich insgesamt viele neue Städte. Im Gespräch ist sogar ein Tiefsehhafen in der Unganva Bay zu errichten, um Vorteile aus der Eröffnung des arktischen Ozeans für den Seehandel zu ziehen. Um all diese neuen Minen, Kahlschläge und Siedlungen zu verbinden, werden neue Autobahnen das Land zerschneiden.
Viele solcher Projekte im Norden sind bereits im Gange, schon lange vor der Bekanntmachung des Plan Nord. Zum einen hat der sich in staatlicher Hand befindende Energiekonzern Hydro-Québec seit 2009 neue Dämme im Rivière Romaine gebaut, trotz des Widerstandes der Innu von Uashat mak Mali-Utenam. Es macht außerdem keinen Sinn, die Entwicklung „im Norden“ von den weiterlaufenden Projekten „des Südens“ zu trennen. Neben anderen Projekten würden Kapitalisten gerne eine in das Land der Mohawk gegrabene Goldmine, gerade im Nordwesten von Montréal, sehen, eine neue Autobahn á la Atlantica, die Sherbrooke und New Brunswick quer durch den Wald von Nordmaine verbindet, sowie eine gewaltige Ausdehnung des Frackings entlang des ganzen Saint-Lawrence-Tals. Es gibt außerdem Bemühungen seitens des Gesetzgebers, die Umweltschutzbestimmungen zu lockern, was ebenso jeden Teil der Provinz betreffen wird. All diese Projekte sind zusammen mit den städtischen Projekten, wie dem Neubau des Autobahnkreuzes von Turcot in Südwest-Montréal, Teil einer Gesamtstrategie, um auf dem ganzen Québecer Gebiet unproduktive Gegenden in produktive zu entwickeln.
Berücksichtigt man, dass die Entwicklung sich überall vollzieht, so gibt es doch bestimmte Gründe dafür, warum die Regierung eine auf „den Norden“ konzentrierte Medienkampagne ausgelöst hat.
Erstens: Greenwashing. Die Regierung verspricht, dass 50 % des Landes nördlich des 49ten Breitengrades auf alle Ewigkeit geschützt würde. Dafür hat Charest bereits das Lob von der Konferenz der Vereinten Nationen über nachhaltige Entwicklung erhalten, indem er von dem Klimaverbrecher und allgemeinen Feindbild Stephen Harper positiv abgehoben wurde. Liberale Umweltschützer, die sonst Ärger verursacht hätten, indem sie eine Facebook-Gruppe gegründet oder eine Anzeige in einer Zeitung geschaltet hätten, werden zufriedengestellt, indem nur die Hälfte des Québecer Teils der Labrador-Halbinsel zubetoniert oder anderweitig zerstört werden soll. Im Ergebnis können radikale, in dieser Sache keine Kompromisse eingehende Erdverteidiger leichter isoliert und als unvernünftig angeschwärzt werden. Genauso betonte die Regierung, dass viele indigene Anführer vollständig an Bord sind, und dass die Schaffung von „wirtschaftlichen Chancen“ für indigene Leute dabei helfen wird, die – durch den Kolonialismus verursachten – „sozialen Probleme“ in ihren Gemeinschaften zu lösen. Und was könnte ein edleres Ziel sein, als die Armut der Ureinwohner zu beendigen?
Zweitens: Schicksal. Die markante Form der Labrador-Halbinsel wurde oft als ein Symbol des Nationalstolzes verwendet und gerade diese Form wurde für das Logo von Plan Nord verwendet. Nationalistische Intellektuelle hegen schon lange Jahre den Traum, dass Québec in seiner weiten Grenze von französischsprachigen Québécois de souche gezähmt und besiedelt wird, weil dies im Falle einer Unabhängigkeit von Kanada den Québecer Anspruch auf das gesamte Gebiet stärken würde und weil es an sich wünschenswert erscheint – selbst wenn dieses Unterfangen von einer föderalistischen Regierung unternommen wird. Anstelle der momentan unter Jugendlichen beliebten linksgerichteten und sozialdemokratischen Spielart des Nationalismus, bietet die Entwicklung des Nordens für diejenigen eine andere Vision des Patriotismus an, die sich als robuste Individualisten auf der Suche nach Abenteuern und Möglichkeiten sehen: ein Nationalismus, der bessere Dinge zu tun hat, als auf der Straße zu protestieren.
Drittens: Das Vertrauen in die Québecer Wirtschaft stärken. Seit dem Frühjahr 2011 flog der Premier in den Vereinigten Staaten und Europa herum sowie zwei Mal nach Brasilien, um potentiellen Investoren eine blinkende Power-Point-Präsentation über den enormen Reichtum vorzuführen, den man aus dem Boden reißen würde. Québec hat wegen seiner (relativ) starken Gewerkschaften, seiner Bürokratie, seiner (angeblich größeren) Korruption und der organisierten Kriminalität, seinen entmutigenden (weitgehend ignorierten) Sprachgesetzen und seiner (etwas) aufsässigen Bevölkerung in internationalen Geschäftskreisen schon lange einen schlechten Ruf. Im Rahmen der weltweiten finanziellen Sorgen betont die Plan-Nord-Kampagne zwei Punkte: erstens, dass es einen soliden Plan gäbe, aus der sozialistischen Malaise Québecs auszubrechen, und zweitens, dass dieses Gebiet eine der größten übergebliebenen Landmassen der Welt ist, die noch nicht gründlich ausgebeutet wird – so dass man dort eine Menge Geld zu machen ist. Die Kampagne zielt auch darauf ab, Vertrauen bei den Québecer Arbeitern zu erwecken, die über die Beschäftigungsmöglichkeiten in der Provinz besorgt sein könnten.
Vor dem Streik bestand der Widerstand gegen den Plan Nord nur aus ein paar Vortragsveranstaltungen, einigen wenig rowdyhaften Protesten gegen Konferenzen und Ministertreffen, einigen Streichen gegen unpolitische Studenten der Ingenieurwissenschaften und aus Arbeitskreisen, die den Plan Nord in den Zusammenhang mit dem andauernden Kolonialisierungsprozesses von Kanada und Québec stellten. Als der Streik begann, änderte sich dies. Im Zusammenhang mit den Kampf der Studenten gegen die Studiengebühren, aber darüber hinaus blickend, waren Anarchisten in der Lage, eine erhebliche Zahl von Menschen zu Aktionen zu mobilisieren.
Am 12. März, eine Woche nachdem die Sûreté du Québec eine Blockade auflöste, die die Innu von Uashat mak Mali-Utenam auf dem Highway 138 gebaut hatten, um ihre rund um den Fluss Romaine befindlichen Ländereien zu verteidigen, demonstrierten in Montréal etwa 200 Menschen ihre Solidarität vor dem Hauptsitz von Hydro-Québec. Am 2. April gab es eine morgendliche Aktion, bei der Arbeiter vom Betreten eines Wolkenkratzers der Innenstadt abgehalten wurden, in dem sich die Büros von Golden Valley Mines, Québec Lithium und Canadian Royalties befinden, Unternehmen, die in Wirklichkeit keine Geschäftsexistenz haben, die aber stark in in die erneute Kolonialisierung des Nordens verwickelt sind. Diese Aktion, die für etwa eine Stunde eine erhebliche Störung verursachte, kündigte die folgenden größeren Blockaden von Wolkenkratzern an.
Diese Aktionen waren Teil der anwachsenden Welle des Kampfes gegen Plan Nord, aber sie wurden – wie fast alles, was bis zu diesem Zeitpunkt im Verlauf des Streiks geschehen war – von dem überschattet, was passierte, als Charest beschloss, seine einstudierte Rede in der Montréaler Innenstadt zu halten, nämlich auf der Salon Plan Nord, einer riesigen Jobmesse bzw. einem Propagandafestival für die Entwicklung, das am 20. April im wichtigsten Kongresszentrum der Stadt stattfand, dem Palais des Congrès.
Für den 20. August wurde zu 4 Demos aufgerufen: Eine von Kein Mensch ist illegal, eine von einer Gruppe von Unnu-Frauen, die aus Protest von der Côte Nord nach Montréal gelaufen waren, eine von Anarchisten (unter anderem die Organisatoren der Ereignisse vom 12. März und 2. April) und eine vierte – bei weitem die größte – von CLASSE. Alle vier begannen eine Stunde vor Mittag, so dass Aktivisten zu wählen hatten, zu welcher sie sie gehen wollten. Die Anarchisten entschieden sich in der Hauptsache für die kleineren, nicht von CLASSE organisierten Demos.
Wenn Leute die Geschichte des 20. April nacherzählen, wird die Demo von Kein Mensch ist Illegal oft vergessen. Zum einen, weil sie die kleinste der drei konfrontativen Demos war; zum anderen, weil sie ein anderes Thema hatte als die anderen. Die Teilnehmer der anderen Demonstrationen sind vielleicht gegen den Plan Nord, weil die neoliberalen Regierungen den aus den Naturrohstoffen folgenden Wohlstand nicht nach manierlichem, sozialistischem Brauch umverteilt, weil man die Zivilisation genannte industrielle Todesmaschine rücksichtslos zerstören soll oder aufgrund irgendeiner anderen differenzierten, aktuelle Themen berücksichtigenden Analyse – aber alle waren dabei, zum selben Ort zu laufen, um sich der gleichen Politik zu widersetzen und dabei hoffentlich derselben verachtenswerten Person ungemütlich nahe zu kommen. Das Ziel der Kein-Mensch-ist-Illegal-Demonstration war dagegen eher ein Vertreter der Bundesregierung als einer der Provinzregierung: Jason Kenney, der Einwanderungsminister, ein rassistischer Dreckssack, der sicherlich seinerseits einige unbequeme Annäherungen verdient.
Kenney war in der Stadt, um einen Vortrag mit dem Titel „Gezielte, schnelle und effiziente Immigrationssysteme mit dem Schwerpunkt Arbeit und Wachstum“ im Hilton-Bonaventure-Hotel zu halten. Er argumentierte im Wesentlichen dafür, dass die Anforderungen des Marktes der wichtigste Gesichtspunkt sein sollten, der bestimmt, wer nach Kanada einwandern kann und wer nicht. Etwa 100 Leute waren auf den Treppen außerhalb des Hotels bei einer nichtkonfrontativen Demonstration. Es gab außerdem zwei Menschengruppen, die darauf abzielten, im Gebäude zu stören. Die erste Gruppe betrat das Gebäude schon zwei Stunden früher und wartete, verkleidet als Starbuckskunden. Die zweite Gruppe kam an, kurz bevor die Veranstaltung angesetzt war, und rannte dreist in das Gebäude, bevor die Sicherheitsbeamten die Türen verschließen konnten. Beide Gruppen vereinigten sich im Gebäude und kämpften sich den Weg an den Sicherheitsbeamten in der Hotellobby vorbei und warfen die letzten Türflügel aus den Angeln. Sie brachen triumphierend durch und fanden sich – zu ihrer Überraschung – in einem leeren Raum wieder.
An dieser Stelle verpassten sie die Gelegenheit, Tische voller teurem Essen und Glasgeschirr umzuwerfen, aber ihre Gesichter waren nicht vermummt und die Sicherheitsbeamten machten viele Bilder. Die Polizei, die die Demonstranten draußen bei der Treppe überwacht hatte, kam, aber es gelang allen, auf die Straße zu entkommen. Es gab keine Festnahmen und alles war um ein Uhr nachmittags vorbei, so dass die Teilnehmer auch am späteren Geschehen teilnehmen konnten. Später, als die Rede tatsächlich begann, wurde sie von einigen Eindringlingen gestört, die Tickets besaßen.
Inzwischen ging die anarchistische Demonstration vom Phillipsplatz im Innenstadtzentrum los. Vier Gruppen arbeiteten zusammen: La Mauvaise Herbe (ein ökoanarchistisches Kollektiv), Das Kollektiv gegen die Zivilisation, das antikoloniale Solidaritätskollektiv und PASC (Projet accompagnement solidarité Colombie, das lokal die Solidarität mit den Kämpfen der Menschen aus Kolumbien organisiert). Unabhängig davon, ob sich alle Mitglieder dieser Gruppen selbst als Anarchisten bezeichnen würden, der Diskurs um diese Demonstration richtete sich explizit gegen den Staat und verfocht Selbstbestimmung und autonome Aktionen. Es wurden grünschwarze Fahnen an Bambusstöcken in der Menge verteilt.
Die Entscheidung für diese Demonstration war gefällt worden, lang bevor zur Demo von CLASSE aufgerufen worden war. Der ursprüngliche Plan war es, durch die Innenstadt zu marschieren und an bestimmten Orten Reden zu halten – vor Gebäuden, in denen sich Büros von Unternehmen befinden, die am Minenwesen, dem Baugewerbe usw. beteiligt sind. Schließlich sollte sie am Palais des Congrès ankommen und sich in einen unruhestiftenden und einen kinderfreundlicheren Teil aufspaltete. Das passierte jedoch nicht. Während die Demo noch die Innenstadt durchschweifte, erhielten die Teilnehmenden Anrufe, dass dringend mehr Menschen am Palais des Congrès gebraucht würden.
Die Demonstration von CLASSE ging vom Berri-Platz los und marschierte direkt zum Palast, um Charest entgegenzutreten. Sie erreichte die östliche Seite des Palais über die Saint-Urban-Strasse. Aktivisten umgingen die Kette der Aufstandspolizisten an der Eingangstür, indem sie das Parkhaus stürmten. In der östlichen Lobby des Palastes gab es eine längere Auseinandersetzung zwischen ungepanzerten Polizisten und Demonstranten, die entschlossen waren, die Rolltreppen hoch zur Jobmesse zu nehmen. Schließlich erschien die Aufstandspolizei, um die Menge aus dem Gebäude und dann aus dem gesamten Areal zu drängen. Viele hatten bereits sich für den Rückzug entschieden, bevor die Polizei alle hinaus zwang.
Das waren die Nachrichten, die die Teilnehmer der anarchistischen Demo vom Palais des congrès erhielten. Einige von ihnen wollten den ursprünglichen Plan abbrechen und zum Palast eilen; andere hielten an der geplanten Route fest; während wieder andere sich der Demo der Innu-Frauen vor der Hauptbüro von Hydry-Québec anschließen wollten, vom Palast aus gerade den Hügel hoch. Diese Diskussion, die zweisprachig mitten in einer laufenden Demonstration geführt wurde, dauerte denen zu lange, die sofort zum Palast weitergehen wollten; sie spalteten sich ab. Kurz darauf gaben die Organisatoren kund, dass der Rest zu Hydro-Québec gehen würde. Das bedeutete, dass beide Gruppen dieselbe Richtung auf parallelen Straßen nahmen, die erste Gruppe anderthalb Blöcke voraus.
Zu diesem Zeitpunkt strömten alle vier Demonstrationen in etwa der gleichen Gegend zusammen, aber es war immer noch ein ziemlich großes Gebiet mit einer enormen Zahl von Menschen. Einige Demonstranten waren näher beim Hauptbüro von Hydro-Québec auf dem Boulevard Réné-Lévesque, andere waren auf der Saint-Urban Straße und wurden gerade von der östlichen Seite des Palastes her von der Aufstandspolizei gejagt, während wieder andere sich mit ungepanzerten Bullen herumschlugen und bei der Kreuzung der Bleury Straße und der Viger Allee die Fenster der Westseite des Palastes einschlugen. Bei Hydro-Québec drängten viele darauf, zurück Richtung Palast zu gehen, während andere argumentierten, die Leute sollten da bleiben, um keinen Anlass für Repressionen gegen die Innu-Älteren zu bieten. Unterdessen bewegte sich die Aufstandspolizei die Viger von der östlichen Seite des Palastes zur westlichen Seite herunter. Aus der Menge auf der Réné-Lévesque, von der anarchistischen Demo oder anderswo kommend, strebten die meisten kampfwilligen Aktivisten in Richtung der Kreuzung Viger und de Bleury. Dieser Ort wurde ein beständiger Unruheherd.
Die Demonstranten versuchten wiederholt, sich dem Palais de Congrès zu nähern, während die Polizei dies zu verhindern versuchte, wobei sie Demonstranten blutig schlugen. Zunächst führte die Aufstandspolizei einige Angriffe durch und trieb dabei einmal die ganze Menge den Vigar runter, westlich auf der Höhe des Victoriaplatzes. Aber die Leute blieben dabei, kamen zurück und begriffen schnell, dass sie nicht alle geradewegs die Straße hinunter rennen mussten, sondern genauso auf den offenen Platz südwestlich der Kreuzung entkommen konnten oder Richtung Parkplatz auf dem Hügel, nordwestlich. Wenn die Polizei sich zu weit hervorwagte, konnte sie ihrerseits umstellt werden: Eine ganze Gruppe Aufstandspolizisten wurde kurzzeitig umzingelt und mit Steinen beworfen, bevor sie ihre überlegene Bewaffnung und Rüstung benutzen konnten, um sich einen Fluchtweg zu erzwingen. Sie konnten auch verletzt werden: Während eines Polizeiangriffs wurden zwei Bullen mit Steinen niedergestreckt und mussten weggetragen werden. Der eine schien bewusstlos und der andere hinkte stark. Die Leute griffen den Palast zwei Stunden lang an, rannten weg und griffen erneut an.
Zur Überraschung derer auf den Straßen, erhielt das kleine, diese Seite des Palastes schützende Aufgebot der Aufstandspolizei während der ganzen Zeit nicht ein einziges Mal Verstärkung. Die Polizei war an diesem Tag bedenklich unterbesetzt. Über die ganze Innenstadt verteilt, war eine große Anzahl von Polizisten dabei, die Ereignisse zu überwachen, aber Montréal setzt häufig eine massive Zahl Aufstandspolizisten ein, um Krawallsituationen zu kontrollieren, sogar bis zu 300. Dagegen schienen es jetzt nur 50 oder 60 zu sein. Der offensichtliche Grund war, dass der 20. April auf einen Freitag fiel, den letzten Tag einen langen Woche voller kraftvoller Aktionen und passiver Demonstrationen – die Polizei wusste oft nicht, welche welche sein würde und musste sich für beide vorbereiten –, und diese Woche folgte mehreren ähnlichen Wochen auf den Fersen. Die Polizeikräfte waren in ihrer Gesamtheit verschlissen und nicht in ihrer besten Verfassung. Das ist der Grund, warum es der 20. April war, als die SQ zum ersten Mal in die Straßen Montréals beordert wurde: sie wurde gebraucht, um Druck von den Bullen der SPVM zu nehmen.
Die Ereignisse des 20. April zeigten die wachsende Macht der Aktivisten auf der Straße. Viele waren im Laufe einiger Wochen zu erfahrenen Straßenkämpfern geworden; viele waren durch die andauernden Polizeiangriffe auf ihre Demonstrationen und Streikposten in Wut versetzt worden. Der Gegenangriff auf diese Kräfte war nicht nur pragmatisch sondern auch kathartisch.
Auch die Geographie hat geholfen. Der Kongresspalast liegt auf einer niedrigeren Anhöhe, als seine Umgebung, mit einem niedrigerem Hügel sowohl an der Nord-, wie der Südseite. Die Gegend ist voller enger Straßen und Gassen, in denen Kämpfer in leichter Kleidung mobiler sind als die Polizei, aber auch voller großer Freiflächen, auf denen es logistisch unmöglich ist, Demonstranten zu kesseln. Auch der Parkplatz spielte eine große Rolle: Er bot Schutz vor den mit Gummigeschossen schießenden Scharfschützen, einen Zufluchtsort, um vor Polizeiangriffen in Deckung zu gehen und einen Aussichtspunkt, von dem aus man Steine schmeißen konnte. Es schien außerdem so, als ob die Polizei zögerte, die dort parkenden Autos mit Tränengas zu begießen. Zu guter Letzt ist diese Gegend der Innenstadt voller Schutt und Trümmer, geeignet für die Herstellung von Barrikaden.
Die Konfrontationen an dieser Kreuzung dauerten vielleicht zwei Stunden. Während dieser Zeit waren die Militanten regelmäßig gezwungen, sich von einem Platz zum anderen zu bewegen, aber einen Ort hielten sie die ganze Zeit: Die Kreuzung von Saint-Allexandre und de la Gauchetière, gerade über dem Parkplatz. Dort sammelten sich die ganze Zeit über Anarchisten. Die Polizei stürmte nie so weit vor, und sie war Außerhalb der Sichtlinie des Palastes. Wann immer Straßenkämpfer von ihren Kameraden getrennt wurden, konnten sie dorthin gehen, um ihre Bekannten zu treffen.
Auch wenn die Ereignisse sich dringend und durchweg schnelllebig anfühlten, scheint es im Nachhinein so, dass es nützlich gewesen wäre, an dieser Kreuzung eine improvisierte Versammlung abzuhalten, um zu entscheiden, ob nicht einige Sachen getan werden könnten, um die Chancen im Straßenkampf zu verbessern. Hätte man von woanders Nachschub erhalten können? Hier war Zeit. Hätte eine kollektive Strategie abgesprochen werden können? Wahrscheinlich nicht, aber man hätte einige Probleme herausstellen können, wie etwa den Umstand, dass viele Leute im grellen Licht der Medienkameras Steine warfen, ohne maskiert zu sein. Es ist unklar, was genau man auf der Straße kommunizieren sollte und was nicht, aber sicher ist, dass Information die Schlagkraft multipliziert und dass diese „sichere Zone“ vielleicht ein guter Ort für den Informationsaustausch gewesen wäre.
Als die Leute sich dazu entschieden, den Brennpunkt am westlichen Ende des Palastes zu verlassen, taten sie das freiwillig, aber ohne jeglichen erkennbaren kollektiven Prozess. Die Teilnehmer fanden sich nach einem weiteren Polizeiangriff in großer Anzahl in der sicheren Zone wieder. Sie waren sicherlich nicht besiegt, aber die Menge begann, zu jubeln und Richtung Victoriaplatz zu ziehen. Von da marschierten sie rüpelhaft über die Saint-Jaques-Straße zur Saint-Urban-Straße und griffen unterwegs das Centre du commerce mondiale und andere Orte an. Am östlichen Ende des Palastes schloss sich der Großteil der Demonstranten der „grünen Zone“ [11] des Protestes an. Im Unterschied zum üblichen Konzept einer „Grünen-Zonen“-Gruppe bot diese Gruppe den vorbeischneienden Straßenkämpfern Sandwiches und Rückenmassagen an, einschließlich derjenigen in „Schwarzer-Block“-Kleidung. Während sie das taten, musizierten sie und unterhielten einige verhinderte Beschäftigung Suchende – die für die Dauer des Chaos aus dem Salon Plan Nord ausgeschlossen waren – mit schrägem antizivilisatorischem Straßentheater.
Auf der östlichen Seite der Viger Allee, dort wo sie die Saint-Urban-Straße kreuzt, blockierte eine Kette ungepanzerter Polizisten die Straße. Als einige Demonstranten nördlich in das chinesische Viertel vordrangen, griffen Militante die Bullen mit Wurfgeschossen an; schon bald schlossen sich andere an. Als sich die Kämpfer näherten, zogen sich die Bullen zurück, bis sie sich umdrehten und westlich die Allee hinunterflohen, um sich hinter den Linien der vom westlichen Brennpunkts nach Osten rennenden Aufstandspolizei zu verstecken. Die Straßenkämpfer jagten die verletzten Polizisten wie Blut witternde Haie. Es war das erste Mal während des Streiks, dass eine große Anzahl Polizisten nicht nur langsam vor der wütenden Menge zurückwich, sondern in nackter Angst floh. Eine gewisse Theoriebildung besagt, dass solche Ereignisse für die Moral der unterdrückten Leute wichtig sind; die Ereignisse kurz nach dem 20. April scheinen das zu bestätigen. In den folgenden zwei Wochen gab es drei weitere extrem konfrontative Demos: am 25. April, am 1. Mai und am 4. Mai in Victoriaville.
Die Aufstandspolizei griff unglücklicherweise energisch an und drängte die Aktivisten in die Hauptmenge zurück. Diese marschierte nach Norden durch das chinesische Viertel bis zur Saint-Catherine-Strasse. Es ist unsicher, warum genau der Zug die Gegend verließ. Es ist durchaus möglich, dass zu diesem Zeitpunkt, nach wenigstens drei Stunden Straßenkämpfen in dieser Umgebung, die Leute einfach von diesem Ort gelangweilt waren und nun daran gehen wollten, Verwüstung im Rest der Innenstadt anzurichten. Jedenfalls kam etwa zu dieser Zeit endlich die Sûreté du Québec an, um die SPVM von der Pflicht zu befreien, den Palast zu verteidigen, und so den Montréaler Polizeikräften eine Neugruppierung zu ermöglichen und einen unerbittlicheren Angriff auf die Demo zu starten, der diese schließlich auflöste.
Viele Leute waren zu diesem Zeitpunkt bereits gegangen, zufrieden mit dem, was sie erreicht hatten und alle waren erschöpft. Bevor sie sich zerstreuten, lief die Menge an dem Sitz der DPVM in der Saint-Catherine-Strasse vorbei und fand viele leere Polizeifahrzeuge auf dem Parkplatz. Einige Straßenkämpfer rannten auf den Platz, zerschlugen die Scheiben mit Hammern, ließen Betonblöcke auf die Windschutzscheiben fallen und richteten überhaupt so viel Schaden, wie möglich an, bis die Bullen in Transportern anrollten und sie angriffen.
Am zweiten Tag der Jobmesse regnete es stark. Es tauchten nur etwa 200 Leute auf, um zu demonstrieren. Mutmaßlich betrat eine Gruppe von ihnen wieder das Parkhaus und begann damit, die dort parkenden Autos mutwillig zu beschädigen. Das war für die SPVM die Rechtfertigung, an diesem Tag insgesamt 90 Personen zu verhaften.
Am Sonntag, dem 22. April, war das Wetter wieder gut und die vereinte Demonstration für den Earth Day und den Studentenstreik war größer als die letzte „landesweite“ Demonstration am 22. März. Es waren zwischen 250.000 und 300.000 Menschen auf der Straße.
Viele betrachten das Wochenende vom 20. April als den Moment, an dem die Bewegung ihre Beschränkungen als Studentenbewegung oder sogar als Bewegung gegen die Sparmaßnahmen überschritt und in einer genuin antikapitalistischen und gegen das System gerichteten Revolte aufblühte, unterfüttert mit einer allgemeineren Kritik. Die Ziele der Demonstranten beinhalteten die liberale Regierung, aber auch viele Institutionen des Kapitalismus, insbesondere die Polizei. Vielleicht war das so, weil der Plan Nord der Atmosphäre eine enorme Menge an Kohlenstoff zusetzen wird – wenn es einen Punkt gab, der alle vereinigt hat, dann dieser – und weil er ein Ausdruck des Kapitalismus in seiner grundlegenden akkumulierenden Form ist. Wie auch immer: Es fühlte sich gut an, und dieses Gefühl wurde auf die folgenden Wochen übertragen.
[11] Bei den Gegengipfelkonzentrationen der Jahrtausendwenden-„Antiglobalisierungs“-Ära, wurden unterschiedliche Demonstrationen oft in grüne, gelbe und rote Zonen eingeteilt. Rote Zonen waren zum Demonstrieren die gefährlichsten Orte, oft die Gegend in der Straßenkämpfe stattfanden. Gelbe Zonen umfassten weniger Unruhe stiftende oder weniger konfrontative Formen der direkten Aktion und wurden daher als weniger gefährlich angesehen. Es wurden alle Anstrengungen unternommen, um die grünen Zonen dagegen zu „sicheren Orten“ zu machen, ohne erhebliches Repressionsrisiko.