Ein ganz persönlicher Bericht über den Geist der vergangenen Weihnacht
Nach dem vor den Weihnachtsfeiertagen die Schräubchen der Panikmaschine nochmal angezogen wurden, saß folglich die Angst bei den Insassen der Republik tief: Schreckensmeldungen vor der x-beliebigen Welle, Glühwein nur gegen Injektion, drohender staatlicher Impfzwang und Angriff der Omikron-Mutanten. Überhaupt ins traute Heim, zu Familie, zu den letzten dagebliebenen Schulfreunden zu fahren, womöglich unter ihnen noch Ungeimpfte zu finden, das alles schien dem Zeitgeist entsprechend als absolut ketzerisch. Wer sich trotz aller Drohungen und Propaganda des „medizinisch-politisch-medialen Komplexes“ entschloss, den Moloch Berlin zu verlassen, wurde schon beim Kauf des Bahntickets in der DB-App auf eine gefährliche Überfüllung der Züge, den Maskenzwang und den Abstand zum Nächsten hingewiesen. Man erwartete, dass die Zugfahrt dem berühmten Tanz auf dem Vulkan ähneln würde, aber wie so oft –heutzutage- wurde jeder lebensmüde Zeitgenosse bitter enttäuscht. Am Ostbahnhof angekommen, im Wagon eingestiegen, den Sitzplatz gefunden, stellte sich dann die Ernüchterung ein, der Zug war nicht mal zur Hälfte ausgelastet. Für einen Tag vor Heiligabend war das für mich ein Novum. Die Fahrt in eines der deutschen „flyover countries“ zwischen den Groß- und Universitätsstädten, wo laut selbstgerechter Neobourgeoise der Teufel auf dem Marktplatz tanzt, konnte also beginnen.
Leider hatte die staatliche und mediale Dauerbehämmerung bei meiner Familie mütterlicherseits ihren Erfolg gezeigt. In den letzten 30 Jahren gab es immer eine große Feier in dem Haus meiner Oma, bei der mittlerweile vier Generationen, mindestens einmal pro Jahr zusammenkamen. Es war schön und zugleich traurig, zu sehen wie die alten Mitglieder zwar langsam wegstarben, aber dafür eine junge Generation nachwuchs. Unter Covid krepieren die Alten nun unsichtbar und anonym im Krankenhaus oder Altersheim und den Jungen wird noch die Schuld daran gegeben. Hier findet sich auch der höchste Prozentsatz von Akademikern in meiner Familie. Mein Opa hatte bereits studiert, genauso wie ein Teil seiner Kinder und Enkel. Wie vermutet wird, neigen Kopfarbeiter aufgrund ihrer Distanz zum Schmutz des alltäglichen Lebens, zu zwanghaften Kontrollverhalten, Paranoia und Angststörungen. Also kein Wunder, dass hier vom Knirps bis zur Uroma zwar alle ‚durchgeimpft‘ waren, sich aber keiner mehr traute, ein gemeinsames Zusammenkommen zu veranstalten. Als Alternative blieb nicht einmal der Gottesdienst in der örtlichen Dorfkirche, auch sie hatte die Apartheidregel durchgesetzt und in den Nachbarort zu fahren, bei dem die Predigt wie von einem Muezzin vom Kirchturm heruntergebrüllt wurde, war mir dann doch zu blöd. Was war eigentlich aus der frohen Botschaft über Gottessohn geworden? Steht nicht bei Petrus 1. „durch seine Wunden seid ihr heil geworden“? Meine Mutter ließ mich wissen, dass es „erstmal besser so“ sei, zu fragen, wann genau das „erstmal“ aufhören würde, verkniff ich mir.
Ganz anders sah es da am zweiten Weihnachtsfeiertag aus, der traditionellerweise im väterlichen Haus mit angrenzendem Garten und Stall begangen wird. Ein, zwei Panikhäschen hatten sich natürlich vorher schon abgemeldet, aber letztendlich kam man auf eine stattliche Anzahl von 16 Personen, unter denen nur zwei Impflinge waren. Wow, für einen Moment wurde die Minderheit plötzlich zur Mehrheit! Neben Kleinbürgern wie Unternehmern und Akademikern waren auch ein paar Systemrelevante dabei, Polizisten, Lehrer und Krankenschwestern, genauso wie die „Vulnerablen“, Rentner und Vorerkrankte – alle vereint in der Skepsis gegenüber den Herrschenden. Wahrlich, ein Alptraum für jeden überzeugten Lauterbachianer! In irgendeinem seiner Aphorismen hatte Adorno mal kritisiert, dass die Menschen es verlernt hätten, zu schenken, davon konnte hier keine Rede sein, hier war noch ein letzter weihnachtlicher Funke in der Finsternis zu sehen. Auch überkam mich ein gewisser Stolz als ich mich daran erinnerte, wie sich Freunde in Berlin beklagten, dass ihre Eltern aufgrund der Ansteckungsgefahr sie nur noch vorher getestet reinließen oder Weihnachten und Ostern gleich ganz ausfallen lassen würden.
Allerdings soll natürlich nicht verschwiegen werden, dass auch hier, wie bei Familienfeiern so üblich, ab und zu einige krude, fremdenfeindliche oder esoterische Ideen zirkulierten. Es ist dem postmodernen Menschen kaum vorzuwerfen, dass er sich beim Waten durch den Schlamm der kapitalistischen Welt auch irgendwo verläuft. In den Tagen, die ich auf dem Land verbrachte, konnte ich auch erstmals wieder frei durchatmen, ohne unter die demütigende Gesichtswindel gezwungen zu werden. Nur bei einer Vater-Sohn Wandertour waren die Dinger wieder zu sehen, auch einsam im Wald muss der Wissenschaftsgläubige mit seiner schleimigen Frömmigkeit glänzen.
Als sich die Feiertage dem Ende neigten, galt es, leicht verkartet vom letzten abendlichen Abschiedsschnapps, wieder den Rückweg anzutreten. In Berlin am Bahnhof Südkreuz angekommen, war dann der letzte Weihnachtszauber endgültig verflogen. Im Menschengedränge traf ich auf der Rolltreppe zufällig meine Mitstreiterin aus „Der Erreger“ Redaktion. Wir beide sichtlich erleichtert, endlich den Zwangslappen unter das Kinn zu ziehen, um für einen Moment die Stadtluft zu schnüffeln, die ja angeblich frei machen soll, stiegen dann mit Taschen vollgepackt in die Ringbahn. Sie berichtete mir gerade von ihrem schönsten Geschenk, einer Gesamtausgabe von Max Horkheimers Werken, als hinter ihrem Rücken plötzlich etwas aufblitzte – eine junge Frau gab mir passiv-aggressiv zu verstehen, dass ich doch bitteschön meine Maske hochziehen soll. In einem lila Mantel gekleidet und mit rötlich gelocktem Haar sah die Schnepfe schon aus wie die typische Grünenwählerin. Ich fragte mich, wo denn die ganzen maskenverweigernden Heilpraktiker unter den Grünen sind, vor denen bei Jungle World und Co. immer so panisch gewarnt wird. Etwas perplex, weil ich schon unzählige Male problemlos mit der Kinnmaske in der Bahn saß, antwortete ich ihr nur versöhnlich, dass ich gleich meine Maske hochziehen werde und hoffte so ihren Eifer zu besänftigen. Aber sie hatte es auf uns abgesehen und ergriff die Chance endlich einen von diesen Querstänkern und Pandemietreibern, die man sonst nur aus der Tagesschau kennt, zu Recht zu weisen. Sie blökte: „Das machst du doch mit Absicht! Das ist unsolidarisch!“. Worauf mir dummerweise nur einfiel: „Achso und du bist also solidarisch, weil du eine Maske trägst!?“, was sie mit einem zackigen „Ja!“ parierte. Von der Seite erhielt sie dann von einem böse dreinblickenden Maskierten Verstärkung: „Ihr seid Asoziale! Warum fahrt ihr nicht mit dem Fahrrad!“ drohte er uns, unser Gepäck ignorierend. Ich murmelte nur verwundert, „asozial … soso“. Meine Mitfahrerin, die gerade nach achtstündiger Fahrt aus der liberalen Schweiz ankam, schaute mich nur geschockt über so viel deutschen Hass an. Uns blieb nur die resignierte Zustimmung: Dit is Berlin, Hauptstadt der Maskenrepublik!
N. Raskolnikoff, 10.1.2022