Bericht: Lesekreis zur »Theorie der Entsetzung«
»Der Kommunismus ist die wirkliche Bewegung, die den bestehenden Stand der Dinge entsetzt«.
Die fünf im Kreis gelesenen Texte als PDF
Lesekreise nerven. Besucht aus schlechtem Gewissen mangels eigener Tat- und Denkkraft, sind die meisten Lesekreise einfach Beschäftigungstheraphie für gelangweilte Akademiker. Theoretisch wollen sie eine lebendige Welt des Geistes autonom wiederauferstehen lassen, die man an der Universität vergeblich suchte. Praktisch bringen sie oftmals die gleiche Ödnis des Gedankens und dieselbe Abtötung des aufrührerischen Impulses hervor. In der institutionalisierten Form, als intellektuelle Ersatzheimat neigt der Lesezirkel dann auch zur schlechten Unendlichkeit. Schon so manch einer hat über fünf Jahre Hegels Logik, alle drei Bände Kapital oder gar Lukács’ Ontologie des gesellschaftlichen Seins durchgekaut – und hinterher auch nicht mehr von der Welt begriffen. In anderen Fällen zersetzt sich der Lesekreis schnell wieder, weil er das Bedürfnis nach dem Original, der folgen- und konsequenzlosen Rumdenkerei an den Unis, nur variiert, nicht eigentlich zerbricht. »… hört auf zu studieren, fangt an, zu begreifen!«
Selber schuld also, wer solcherlei Zusammenkünfte beiwohnt, oder gar anleiert. Über den Oktober hinweg nämlich hatten sich an fünf Terminen circa ein Dutzend Menschen in einem Kreuzberger Projektraum zusammengefunden, um ihre geistigen und sonstigen Kapazitäten für ein paar Stunden einer sogenannten »Theorie der Entsetzung« zu widmen. Angestachelt von einem landesfernen Mitstreiter, der die Aufforderung, zu den Borniertheiten der deutschen Diskussion doch mal seinen gewiss informierten wie eventuell befreienden Senf zu geben, mit der Einladung zu einer organisierten Debatte quittierte. So strukturiert und produktiv, wie vielleicht erhofft, ging es freilich nicht zu. Die sich dann eingefunden haben, mögen die Veranstaltung dem äußeren Vernehmen nach zumindest nicht als komplett sinnlos empfunden haben – im Gegensatz zu anderen gängigen Formen »politischen Engagements« (Masketragen, Facebookkommentareschreiben, Fähnchenschwenken, …).
Nun, worum ging es? Der Begriff »Entsetzung« kommt, was das allgemeine, also revolutionäre Interesse angeht, erstmal von Walter Benjamin. Diese Denkfigur ist seine spekulative Antwort auf das Problem, dass sich Geschichte bis heute als eine kontinuierliche Abfolge herrschender Mächte darstellt, als »das dialektische Auf und Ab in den Gestaltungen der Gewalt als rechssetzender und rechtserhaltender«. Entsetzung – in dem Wort klingt die gleichnamige militärische Operation genauso an wie der »Schrecken« – ist der Name für das, was sich jener Logik von konstituierter und konstituierender Macht entzieht, sprich: die Ordnung außer Kraft setzt, ohne eine neue zu stiften. Ein »wahrhaft neues Zeitalter«, meint Benjamin, wird erst mit »der Durchbrechung dieses Umlaufs im Banne der mythischen Rechtsform« beginnen und kann sich nur »auf der Entsetzung des Rechts samt den Gewalten, auf die es angewiesen ist wie sie auf jenes, zuletzt also der Staatsgewalt« begründen. Der Kommunismus, hieß es einst, sei das »ungelöste Rätsel der Geschichte« - Entsetzung analog dazu seine »Methode«.
Neben Zur Kritik der Gewalt wurden neuere Texte gelesen, die diese von Benjamin nur angedeutete Idee aufnehmen, entfalten, ergänzen, aus- und weiterführen. Philosophisch-verschwurbelt in Agambens Nachwort zum Gebrauch der Körper; revolutionär-angriffslustig bei Marcello Tari, dessen Buch There Is No Unhappy Revolution: The Communism of Destitution noch auf seine deutsche Übersetzung wartet; hypergenau durchdacht bei Werner Hamacher, den außerhalb der Philologenzunft kaum jemand kennt. Die prägnanteste Fassung einer »Theorie der Entsetzung« findet man derweil beim Unsichtbaren Komitee, in zwei Ausschnitten der Bücher Jetzt und An unsere Freunde. Hier sprangen nicht nur unmittelbar einige teils sinnentstellende Übersetzungsfehler ins Auge (angefangen mit »Absetzung« für das französische »Destitution«), auch war bei der Lektüre die Verbundenheit mit den weltweiten Aufständen zu spüren, die um das Jahr 2010 losbrachen - und ergo die Notwendigkeit auf ihr Umkippen in eine neue Form von Herrschaft zu reflektieren. Also Interesse an konkreten Vorgängen in der Welt anstatt leerer Begriffe. Um einen Eindruck zu geben, und weil die Texte Überlegungen enthalten, die hierzulande durchaus nicht selbstverständlich sind, seien im folgenden zwei Passagen wiedergegeben. Aus ihnen wird auch deutlich, dass mit Entsetzung nicht bloß ein vulgäranarchistischer Nihilismus gemeint ist, sondern es am Ende doch darum gehen muss, sich den Ruinen und Trümmern, die uns umgeben, zu bedienen und ein vernünftiges Allgemeines aufzubauen.
»Sich den Institutionen zu entziehen, bedeutet überhaupt nicht, ein Vakuum zu hinterlassen, sondern diese positiv zu ersticken. Destitution bedeutet nicht in erste Linie, die Institution anzugreifen, sondern das bestehende Bedürfnis nach ihr anzugreifen. Es bedeutet nicht, zu kritisieren […] Die Universität abzusetzen heißt, fern von ihr lebendigere und anspruchsvollere Orte der Forschung der Bildung und des Denkens zu errichten, als sie einer ist - was nicht schwer ist-; es heißt zu erleben, wie die letzten entschiedenen Geister, der akademischen Zombies überdrüssig, dorthin strömen, und ihr erst dann den Gnadenstoß zu geben […] Die destituierende Geste widersetzt sich nicht der Institution, führt keinen frontalen Kampf gegen sie, sondern neutralisiert sie, entleert sie ihrer Substanz, macht einen Schritt zur Seite und schaut zu, wie sie ihr Leben aushaucht«.
»Die revolutionäre Geste besteht unterdessen also nicht mehr in einer schlichten gewaltsamen Aneignung der Welt, sondern aus zweierlei: Einerseits gilt es Welten aufzubauen, abseits des Vorherrschenden Lebensformen wachsen zu lassen, die auch wiederverwerten, was beim gegenwärtigen Stand der Dinge wiederverwertet werden kann, und andererseits die Welt des Kapitals anzugreifen, schlicht zu zerstören. Eine doppelte Geste, die noch einmal zweierlei beinhaltet: Selbstverständlich behalten die Welten, die wir aufbauen, ihre Distanz zum Kapital nur durch ihr Einverständnis damit, dieses anzugreifen und sich gegen dieses zu verschwören, und selbstverständlich bleiben die Angriffe, wenn sie im Kern nicht eine andere gelebte Vorstellung von Welt beinhalten würden, ohne reale Wirkung und würden sich in sterilem Aktivismus erschöpfen.«
Berichtenswert war aber gar nicht unbedingt nur der Inhalt, sondern vielmehr auch die Zusammensetzung des Kreises. Die Leser waren sich zwar nicht völlig fremd - die an einschlägigen Orten als Minibroschüren verbreiteten Texte führten sie immerhin in denselben Raum -, die meisten aber waren sich im Vorhinein persönlich unbekannt. Neben Kopfarbeitern, von denen es einige eher mit dem französischen Denken, andere eher mit der Kritische Theorie und wieder andere eher mit einem Krisenmarxismus a la Robert Kurz halten, fanden sich auch Handarbeiter ein; Rentner waren genauso vertreten wie Drittsemester; Tumult-Leser genauso wie Linksautonome und Literaturwissenschaftler. Gerade keine verkehrte Vielfalt, wo jeder nur als Repräsentant seines Attributes auftritt, sondern ein kleines Potpourri von Versprengten, die – mindestens seit zweiundreißig Monaten - nicht (mehr) wissen, was sie sind.
Unbewusst setzte diese Konstellation von Leuten so in Szene, was jene neuere »Revolutionstheorie« als Voraussetzung für alles Weitere formuliert: Die Entsetzung der Szene. Die falsche Trennung anhand politischer und sonstiger repressiver Kategorisierung, die doch allzu häufig plattwalzt, was sich regen könnte, seinerseits »positiv zu ersticken«. Im Grunde die Offenheit der Möglichkeit gegenüber, die menschlichen Beziehungen im selben Maße zu gestalten wie die gedanklichen, indem man sich, wenigstens ein paar Abende lang, als Fremde mit gemeinsamen Interesse, miteinander ins Benehmen setzt. Logisch gab es nicht nur Abtasten, Sichbeziehen und die in manchen Augenblicken geteilte Freude am gemeinsamen Denken, sondern auch Streit, Sichbehaupten und die Kollision der jeweiligen Weltzugänge. Um es mit dem Konspirationistischen Manifest zu sagen, ergab sich die kurzzeitige Suspension der »repräsentativen ›Wir‹, auf denen diese Gesellschaft aufgebaut ist« zugunsten eines »experimentellen, erfahrungsbasierten ›Wir‹« - das natürlich stets auch jene dissonanten Momente mit einschließt.
Ein vermeintliches Beispiel für jene »rechtssetzende Macht« gab übrigens Mitte November die Umverteilen-Demo in Berlin ab, zu dem ein notorisch breites Bündnis aufgerufen hatte, in das sich neben der Antiverschwurbelte Aktion, Fridays for Future, Deutsche Wohnen Enteignen, auch die alt gediegene Aktivisten vom Syndikat Kollektiv, der IL und TOP Berlin gerne einreihten. Als hätten diese Linksbewegten mit ihrer begeisterten Mitarbeit am Virusausnahmezustand nicht schon hinlänglich ihre versammelte Harmlosigkeit bewiesen, forderte diese Demo nicht einmal mehr auf dem Papier die »Abschaffung des Kapitals«, sondern vielmehr eine »gemeinwohlorientierte Wirtschaft«. Für die Regierung bringt so ein Protestspektakel immerhin den Nutzen, die gerechtfertigte Empörung über das von ihr forcierte Verelendungsprogramm schnell wieder in geordnete Bahnen zu lenken. - Diskutiert wurde unter Anderem, ob man die Zuckungen jener Politzombies überhaupt noch im selben Sinn als konstituierend betrachten kann wie beispielsweise den alten, sozialdemokratischen Reformismus. »Umverteilen« meint heute eben nur noch auf der Oberfläche ein überhaupt mit herrschenden Macht konkurrierendes Programm. Sich dem jeweils ausgerufenen, katastrophischen Imperativ fügend (Klima! Pandemie! Krieg!, …) wiederholt man dann bloß unpolitisch, was als temporäre Simulation von Sozialpolitik in den Medien propagiert wird (Impfung! Heißer Herbst! 9€-Ticket jetzt!, …)
Und so harmlos ja am Ende irgendwelche Lesekreise auch selbst sind: Neben der persönlichen Verbundenheit, die eventuell aus ihnen erwächst, könnten sie mittels der »uns mitgegebenen, schwachen Kraft« des Denkens immerhin gegen den offensichtlich überall grassierenden Drang immunisieren, sich solcher und jeder anderen Pseudoopposition hinzugeben, wedelt sie nun offen mit dem Grundgesetz oder nicht. Jeder wirkliche Bruch mit dem Bestehenden ist überall dort undenkbar, wo immer wieder nur Gleich auf Gleich trifft und jeder Zweifel vorab zensiert wird. In einem ganz ähnlichen Sinn forderte einer der letzten aufrechten Linken neulich seine mutmaßlichen Bundsgenossen auf: »Hört auf, ständig zu Versammlungen und Demonstrationen aufzurufen zu denen nur ihr selber kommt, aber eben nicht eure Nachbarn und Kollegen.« Gefährlich werden kann heute überhaupt bloß, wer versucht, sich konsequent der »gesellschaftlichen Identitätspolizei« zu entziehen.
Ein Teilnehmer
28.11.22