Strange View Cinema presents
Viva Portugal
BRD 1974/75. Dokumentarfilm. Regie: Malte Rauch, Samuel Schirmbeck, Christiane Gerhards [Serge July]. Farbe. Ca. 90 Minuten.
Once upon a time . . . a revolution lautet der Titel eines Italo-Westerns, den wir vor einigen Wochen in unserem Programm zeigten. Regisseur Sergio Leone hatte 1970, wie schon viele zuvor, die mexikanische Revolution mit ihrem pittoresken Panorama benutzt, um intellektuellen Metropolenbewohnern eine grüblerische Parabel über Aufstand & Gewalt sowie deren Folgen, über Entscheidung, Heroismus & Verrat sowie deren Folgen zu präsentieren. Once upon a time . . . a revolution provoziert aber zu mehr. Jedenfalls heute, wo Revolution vielleicht noch weitere Etappen digitaler Entmündigung reklamemäßig einzuleiten vermag, wo aber schon das Reden über Revolution als Chiffre gesellschaftlicher Umwälzung mit dem Ziel der Emanzipation der Einzelnen von besinnungslosen Produzenten, Konsumenten und Maskenträgern zu ihrer selbst bewußten Mitgliedern einer tatsächlichen Menschengesellschaft auf den massiven Widerspruch staatsbürgerlicher Indoktrination stößt & sich der Dämonisierung durch Massenmedien, der Beobachtung durch den Inlandsgeheimdienst und der physischen Bedrohung durch zeitgenössische Neonazis der Antifa konfrontiert sieht.
Die Verschiebung der Revolution ins Märchenhafte drückt zugleich das Elend und die nach wie vor vorhandenen Chancen menschlicher Emanzipation vom Totalitarismus kapitalistischer Produktion und Staatlichkeit aus. Das materielle und immaterielle Elend müssen wir an dieser Stelle nicht weiter illustrieren. Es sollte aber erwähnt werden, dass verdrängen in seiner englischen Übersetzung to oust niemals vollständig aufgeht. Nicht zuletzt die Psychoanalyse hat uns über die Beständigkeit des Verdrängten, das in den Wunschkammern der Träume – und auch ihren kollektiven Formen, der Märchen – auf Wiederkehr harrt, belehrt. „Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen“, hatte Theodor Herzl seinen zionistischen Mitstreitern schon 1897, also drei Jahre vor dem Erscheinen von Sigmund Freuds „Traumdeutung“ zugerufen. Und er hatte damit zweifach Recht behalten. Erstens: Das Wollen der Erniedrigten und Beleidigten ihren Status abzuschütteln, kann Realität in die Welt setzen. Zweitens: Das Wollen sollte schon recht bald in Handeln umgesetzt werden, anderenfalls potenziert die Realität sich auf grauenhafte Weise. Keine Mißverständnisse: Wir wollen hier keineswegs Theodor Herzls Vision mit den misanthropischen & autoritären Klimafreaks von heute, die von Staatsgewalten, ihren Massenmedien & wirtschaftlicher Macht befördert, einen planetarischen Ökofachismus anstreben, in Verbindung bringen. Wir wollen aber Herzls Voluntarismus als nachahmenswertes Beispiel präsentieren, dass aus dem seinerzeit notwendigen Partikularismus der erniedrigten Juden heute sich sein universeller Kern, demzufolge „der Mensch dem Menschen ein Helfer“ (Brecht) sein kann, entfalten sollte. Once upon a time . . . a revolution verweist also nicht nur auf eine märchenhafte Vergangenheit, sondern bezieht als Thema gleichermaßen Gegenwart und Zukunft mit ein. Wir beginnen ganz traditionell mit der Vergangenheit, dazu verpflichtet uns schon unser Thema, um dann auch – das gelingt freilich nur mit tätiger Beihilfe des Auditoriums – Exkursionen in Gegenwart & Zukunft zu unternehmen.
Voila. Die Reise beginnt in den frühen Morgenstunden des 25. April in Lissabon vor 49 Jahren. Wie immer hört auch in dieser Nacht kaum jemand den erzkonservativen & ultrakatholischen Sender „Radio Renascenca“. Doch diese Nacht ist eine besondere Nacht, denn besondere Leute haben ihre Höhrmuscheln in den Äther ausgestreckt. Es sind Militärs mit speziellem Auftag: Wenn ein bestimmtes Lied, das von der Zensur als „subversiv“ kategorisiert wurde, gespielt wird, drücken sie den Alarmknopf, das ist ihr Befehl. Das Lied wird schon eine halbe Stunde nach Mitternacht gespielt, es handelt sich um „Grandola, Vila Morena“,ein Vision des exilierten Poeten Jose „Zeca“ Afonso über einen Ort der Freien und Gleichen, ein Lied, das, würde es nicht am Ende in einen reinen Männerchor übergehen, als anarchistisch gelten könnte. Die nun den entsprechenden Knopf drückenden Militärs dürften wohl kaum gewußt haben, dass sie mit ihrer Reaktion eine Entwicklung auslösten, die erstmals auch mit einer feministischen Frauenbewegung das traditionelle portugiesische Patriarchat in Frage stellte. Und vieles andere mehr, aber wer weiß schon, was man in jener Nacht alles wissen konnte. Nach dem Verklingen von „Grandola, Vila Morena“ in den Ätherwellen des katholischen Senders jedenfalls wird alles legendär. Das Aufheulen der startenden Panzermotoren und das Vorrücken der urzeitlich anmutenden Vehikel auf die Hauptstadt, in deren Nähe sie sich in den Tagen zuvor „diskret“ positioniert hatten, das nahezu gewaltlosen Durchbrechen der Kontrollsperren des Polizeistaates, das Erreichen der Kapitale bei Sonnenaufgang (a Madrugada), das widerstandslose Vordringen ins Regierungsviertel & das Abfeuern des ersten und einzigen Geschosses auf das Regierungsgebäude gehören zur Legende. Eigentlich konnte zu diesem Zeitpunkt noch niemand recht wissen, wer in der Aufführung die Guten & wer die Bösen darstellte. Doch irgendein kommunistischer Spion hatte wohl durchsickern lassen, dass es um mehr ging als eine eliteninterne Abrechnung oder um die von vielen erwartete Modernisierung des archaischen Fascho-Systems. Da war mehr drin & insofern hatte sich schon am Morgen des 25. April, als die aufständischen Militärs noch um die Kapitulation der Regierung verhandelten, eine größere Menschenmenge zum Sturm auf das Hauptquartier der paramilitärisch organisierten Geheimpolizei PIDE eingefunden. Beim Sturm wurden mindestens vier Menschen von Pide-Schützen getötet, eine unbekannte Zahl von PIDE-Bullen starben eines jakobinischen Todes, doch darüber wurde später nicht mehr viel geredet. Am Abend des 25. April bestieg die portugiesische Regierung fast vollständig nebst Familien ein Flugzeug nach Brasilien, ergänzende Flüge folgten in den nächsten Tagen und am Abend des 26. Aprils nach Abschluss von Verhandlungen mit bis dahin loyalen Militärs erklärte sich die MFA (Movimento das Forcas Armadas; dt: Bewegung der Streitkräfte) zum Souverän des portugiesischen Staates. Ihre programmatischen Schwerpunkte: Demokratisierung, Entkolonialisierung und Sozialisierung des portugiesischen Staates.
Zur Erinnerung: 1974 war Portugal das letzte Kolonialreich Europas. Die eine europäische Entkolonialisrung zur Bedingung für eine Teilnahme am US-Dollar-orientierten Weltmarkt machenden USA hatten dem in ökonomischer Hinsicht sklerotischen Portugal eine Sonderrolle zugebilligt: Im Gegenzug zur Garantie seiner afrikanischen Kolonien stellte Portugal den USA eine geographische Luftbrücke nach Europa via Azoren und Madeira zur Verfügung. Das seit 1926 regierende faschistische Regime hatte sich auf die nahezu kostenfreie Ausbeutung der Kolonien beschränkt & darüber hinaus die interne Kapitalakkumulation wesentlich in die Werftindustrie und die Landwirtschaft gelenkt. Jahrzehntelang waren Tomatenmark und Kork (etwa für Weinflaschen-Korken) die Exportschlager Portugals. Schulische Bildung fand für die meisten der nicht der weitgehend noch feudal auftretenden Elite Angehörigen nur in einer sechsjährigen Primärschule statt. Zum Zeitpunkt des 1974er Aprilumsturzes gab es in Portugal drei Universitäten, deren Absolventen, nahezu ausschließlich Männer, nach dreimonatiger Grundausbildung in der Armee automatisch zu Offizieren gefördert wurden. Die Eliten schickten ihre Kinder zur Ausbildung zumeist nach Frankreich. Bis in die späten 60er Jahre waren Militärdienst oder/und Migration in die Kolonien für gewöhnliche portugiesische Männer der einzige Ausweg aus dem sozialen Elend. Dieses wurde unterhalb der staatlichen faschistischen Institutionen von der Kommunistischen Partei (PCP) verwaltet. Wer auffiel mit seiner Unzufriedenheit, blieb nicht lange allein, mit dem Eintritt in die illegale parteikommunistische Subkultur fand er/sie nicht nur Zuflucht vor Verhaftung und Folter sondern auch Anschluss an eine neue Sozialität, aus der nicht selten Ehen und Familien entsprossen. Die schon 1921 gegründete PCP stellte 1974 mit einem geschätzten Einfluss von etwa 35 % durchaus die leninistische Nation in der Nation und damit die wahre Nation dar. Um so schlimmer hat diese Partei der Umsturz vom April 1974 kalt erwischt. Auf einmal begannen Leute, Gruppen und Klassen Dinge zu tun, die sie gemäß der Agenda des Historischen Materialismus & seines sowjetischen Pontifex nicht tun dürften, zumindest nicht jetzt. Letzlich war es neben dem „gemäßigten“ Militär und der 1972 in Bad Godesberg von der deutschen SPD gegründten Sozialistischen Partei Portugals (SPP) vor allem die PCP, die sich der durch den Militärumsturz vom 25. April augelösten sozialrevolutionären Bewegung entgegen stellte.
Unser Film, ein Dokumentarstreifen zwischen 1974 und 75 entstanden, heute wahrscheinlich, weil offenbar durch viele verarbeitende Hände gegangen, nicht mehr derselbe wie bei seiner Entstehung, zeigt Eindrücke und Interviews aus der Zeit zwischen dem legendären 25. April 1975 und Anfang Mai 1975. Eine bemerkenswerte, weil unabhängige, Produktion, die gleichwohl so manche Frage offen lässt oder gar nicht erst stellt. So etwas bleibt dann unserer Diskussion vorbehalten.
Schankwirtschaft Laidak • Boddinstr. 42/43 • Berlin-Neukölln • 26.4.2023 • 19:00