Die Mili setzt sich an die Spitze der Demonstration, um besser mit der Polizei zu kämpfen
Es gibt etwa 50 von ihnen – Schüler aus den höheren Jahrgängen, Studierende, junge Arbeiter und prekär Beschäftigte. In den letzten Jahren traf man sie bei Protesten in Auseinandersetzungen mit der CRS („Compagnies Républicaines de Sécurité“ – französische Bereitschaftspolizei). Sie werden als Anarchisten, Autonome oder Krawallmacher abgestempelt. In diesem Interview mit Mediapart erklären sie sich
Der wilde Schülerstreik, der für elf Uhr am Donnerstag, 5. April, in Paris am Départ de Nation angesetzt war, eskalierte sehr schnell. Bereits auf dem Boulevard Diderot wurde der Demozug von Polizeieinheiten mit gezogenen Schlagstöcken auseinandergetrieben. Den Männern in blau traten junge Menschen in schwarz entgegen, größtenteils vermummt und mit Schwimmbrillen gegen das Tränengas ausgestattet. Tausende Schüler riefen Parolen wie „Die ganze Welt hasst die Polizei“, „Paris debout, erhebe dich“, „Wir werden Rémi (1) nicht vergessen“ und, weniger poetisch, „Bullen, Schweine, Mörder“.
Unter den Teilnehmenden wirkt eine Gruppe organisierter als die anderen – seit dem Beginn des Kampfes gegen das neue Arbeitsgesetz zeigt sich unter den Schülern ein Organisierungsgrad, wie er selten zu beobachten ist. Hinter einem großen Transparent mit der Aufschrift „Der Himmel weiß, wir bluten unter unseren Kapuzen – Gegen das neue Arbeitsgesetz“ drängen sie entschlossen Richtung Polizei, bis der Zusammenstoß unvermeidlich wird. Hinter ihnen wird versucht, die Demonstration zusammenzuhalten, jedoch ohne Erfolg, da etwa 200 Leute von der Polizei auf dem Bürgersteig eingekesselt werden.
Versucht man, diese Ausbrüche zu erklären, stößt man auf folgenden Namen: Le Mili (Mouvement Inter Lutte Independente – etwa: „unabhängige Kämpfe-übergreifende Bewegung“). Das sind etwa 50 Leute, die meisten von ihnen Oberschüler, die bei allen Protesten und Mobilisierungen der letzten Jahre dabei waren. Mediapart hat am 6. April 2016 drei von ihnen in der Nähe des Départ de Nation getroffen. Lucien, Drei-Tage-Bart, ein Soziologiestudent im ersten Semester, der im 20ten Arrondissement lebt. Sarah, blonde lockige Haare, ist Gymnasiastin und kommt aus Seine-Saint-Denis. Christopher, schmales Gesicht und ebenso schmaler Mund, hat die Schule abgeschlossen und studiert nun Science im 20sten Arrondissement. Sie streiten ab, Teil einer größeren Organisation zu sein, lehnen jegliche Form der Repräsentation ab und verteidigen die direkte Aktion, da ihrer Meinung nach „mehr Gerechtigkeit durch diese jungen Leute erreicht werden kann als durch politische Erklärungen, die keine Verbindung zum echten Leben haben, und Politik, die ihre Zeit damit verbringt, das Elend zu verwalten, anstatt zu überlegen, wie man das Elend abschaffen kann“. Kommen wir also zum Interview.
Lass uns über die Proteste am 5ten April reden. Wir hatten den Eindruck, dass in den Zusammenstößen eine neue Qualität erreicht wurde.
Christopher: So schlimm wie an dem Tag ist es normalerweise nicht. Während der ganzen Demonstration setzte die Polizei alles daran, uns auseinanderzutreiben.
Lucien: Man konnte gestern beobachten, dass sich die Polizeipräsenz gewandelt hat. Diese hohe Polizeipräsenz lässt sich ähnlich in ganz Frankreich beobachten. Es scheint so, als hätte es Anweisungen auf nationaler Ebene gegeben, denn wir konnten beobachten, dass alle Polizeibezirke die gleichen Anweisungen erhalten haben. Bereits am frühen morgen stehen vor allen Schulen, wo Schüler zu den Protesten mobilisieren, die BAC (Brigade anti-criminalité, eine oft in Zivil auftretende Spezialeinheit der französischen Polizei), um Blockaden zu verhindern.
Sarah: Selbst wenn sie nicht da sind, um Blockaden zu verhindern, sind sie vor den Schulen positioniert, um einzuschüchtern.
Lucien: Naja, es gibt immer Polizeigewalt auf Protesten. Sobald man ein bestimmtes Ziel hat oder die etablierte Ordnung oder die Legitimität des Staates in Frage stellt, sobald man sich auf Protesten auf eine Art und Weise verhält, die zeigt, dass man nicht damit zufrieden ist, nur Teil irgendeines Protests zu sein, ist man mit den Einheiten, die die Ordnung bewahren sollen, konfrontiert. Wenn man das Ganze so betrachtet, ist es ja klar, dass es dann zu Polizeigewalt kommt. Aber gestern haben wir’s verschissen. Als die Polizei uns auseinandertreiben wollte, um die Entschlossenen unter uns vom Rest zu isolieren, haben die Leute in den hinteren Reihen es nicht geschafft, mit den vorderen Reihen zusammenzubleiben.
Christopher: Diese Strategie hat gestern nicht wirklich funktioniert. Wenn man sich die Festgenommenen anschaut, waren es größtenteils Oberschüler, die nichts gemacht haben.
Lucien: Was Polizeigewalt angeht, so weiß ich, dass am 5. April mindestens sechs Leute ihren Kopf aufgeschlagen gekriegt haben, dass es manche mit gebrochenen Armen, mit gebrochenen Beinen gab, alle waren in einem ziemlich schlimmen Zustand. Das, was passierte, wirkte wie Rache, weil die Schüler im Rahmen der Proteste eine Ebene der Radikalität erreicht hatten, mit der sie durchaus in der Lage waren, die Polizei zurückzuschlagen. Wir sind nicht mehr in der Situation, wie es beispielsweise in Deutschland ist, wo die Polizei die Proteste von Anfang bis Ende von allen Seiten umzingelt.
Christopher: Vorher haben die Polizisten mehr Abstand gehalten. Einmal warfen sie von Weitem eine Blendgranate, und ein junger Mensch hat sein Augenlicht verloren. Jetzt kommen sie aber direkt, um zu kämpfen.
Auf der einen Seite kann man beobachten, dass die Schüler sich im Laufe der Proteste mehr und mehr organisieren. Aber gleichzeitig gibt es Schüler, die sich von der Gewalt distanzieren.
Lucien: Zu Beginn der Proteste gab es sehr wenige von uns. Da waren hauptsächlich wir diejenigen, die maskiert waren und Handschuhe trugen und Spülungen dabei hatten, um denjenigen zu helfen, die Tränengas abbekamen. Aber später waren es wirklich die Schüler, die sich selbst organisierten, indem sie uns imitierten. Später hatten wir dann natürlich Leute aus verschiedenen Schulen in der Mili, die wiederum Kontakte knüpften, sich mit Freunden absprachen und so den Organisierungsgrad steigerten, aber alles sehr spontan.
Christopher: Wir versuchen schon, Leute zu unterstützen, aber sie machen es von sich aus. Wir haben nicht offen dazu aufgerufen.
Sarah: Man kommt halt auch selber drauf. Die sehen natürlich, dass, wenn sie alles kaputt machen wollen, sie sich besser maskieren, weil sie sonst geschnappt werden.
Christopher: Was wir tun, ist Flyer mit Handynummern des „Recht-Teams“ zu verteilen, also mit Nummern von Rechtsanwälten oder mit Hinweisen, wie man sich bei Festnahmen verhalten sollte und was man nicht tun sollte usw.
Lucien: Wir haben auch ein Sani-Team: Ein Mitglied der Mili studiert Medizin und kommt immer zu den Protesten und hilft mit ein oder zwei weiteren Leuten denjenigen, die verletzt werden. Natürlich hatten die bei den letzten Protesten eine Menge zu tun.
Und welche Beziehung hat die Mili zu der Polizei?
Christopher: Einige Leute der Mili sind bereits bekannt und wurden vom RG („Direction Centrale des Renseignements Généraux“ – Geheimdienst der franz. Polizei) namentlich erwähnt.
Lucien: Wir haben ein konkretes Beispiel. Die Eltern eines Freundes von uns wollten umziehen. Die Polizei rief die Immobilienmakler an und riet ihnen, das Haus nicht an die Eltern zu verkaufen, da sie es an einen linksextremen Terroristen verkaufen würden. Es ist ziemlich sicher, dass wir alle unter fiché S (2) fallen. Wenn wir von der Polizei angehalten werden, dauert die polizeiliche Behandlung deutlich länger als bei Freunden, die nicht Teil der Mili sind.
Christopher: Vor nicht allzu langer Zeit wurden wir an einer Mautstation an den Rand gewunken. Die Polizisten waren wirklich nett, sie baten uns, ein bisschen weiter rechts ranzufahren und gaben uns Tipps, wo wir am Besten anhalten konnten. Sie fragten uns nach unseren Persos und nachdem sie die Zentrale wegen unserer Namen angerufen hatten, änderte der Ton sich sofort: „Warum seid ihr hier? Woher kommt ihr? Wohin geht ihr? Zu wem?“
Lucien: Ein weiteres Beispiel ist, was in Nantes während des COP21 (UN-Klimakonferenz in Paris 2015) passiert ist. Wir waren auf dem Weg zu einem Protest und wurden die ganze Zeit von zwei Typen mit Ohrringen verfolgt. Als sie merkten, dass wir sie gesehen hatten, grinsten sie uns beim Vorbeilaufen zu.
Sarah: Es gibt viele solche Geschichten. Aber wir lassen uns nicht von Paranoia verrückt machen.
Und eure Beziehung zur Gewalt?
Lucien: Leute dazu aufzurufen, sich vor dem offiziellen Demozug zu sammeln und einen respektvollen Abstand von der Polizei zu halten, ist nicht besonders gewaltvoll. Auch die Polizei hat eine Beziehung zur Gewalt. Diejenigen, die sich während der Proteste maskieren, sagen, dass sie den Staat ablehnen, dass sie die staatliche Gewalt und das staatliche Gewaltmonopol nicht akzeptieren wollen. Sie verhalten sich sicher nicht so wie typische Demonstranten, aber müssen wir sie deshalb als Gewalttäter oder Kriminelle abstempeln? Erleiden die prekarisierten Arbeiter nicht alltägliche Formen der Gewalt? Ist das El Khomri-Gesetz nicht auch eine Form der Gewalt?
Christopher: Wenn die Polizei junge Leute festnimmt, sie verdrischt, mit auf die Polizeistation nimmt und ohne jeglichen Grund für 48 Stunden festhält, geschieht das, um Druck auszuüben. Wenn ich in den Nachrichten höre, dass die Schüler von Krawallmachern unterwandert worden seien, möchte ich entgegnen: Nein, die Schüler selber sind diese Krawallmacher.
Lucien: Für mich können diese jungen Leute mehr verändern, als irgendwelche politischen Versprechungen, die mit dem echten Leben nichts zu tun haben, oder eine Politik, die die Zeit damit verplempert, Elend zu verwalten, statt zu überlegen, wie man es abschaffen könnte. In Griechenland und Spanien haben wir ja gesehen, dass ja doch die gleichen Sachen passieren, wenn eine linke oder linksradikale Regierung an die Macht kommt. Für uns stellt sich die Herausforderung, lokal zu agieren und Bereiche der Feindseligkeit gegen diejenigen zu schaffen, die uns wieder eingrenzen wollen.
Wie viele Leute sind in der Mili?
Lucien: Etwa fünfzig. Hauptsächlich Schüler aus den oberen Stufen, ein paar aus der Mittelstufe, einige Studierende, junge Arbeiter und prekär Beschäftigte.
Sarah: Aber die sind nicht immer alle gleichzeitig aktiv.
Christopher: Und dann gibt’s noch etwa 100 Leute im näheren Umfeld. Wir sind Teil der Action Antifasciste Paris Banlieue und arbeiten mit einigen informellen Gruppen.
Wie ist die Mili gegründet worden?
Christopher: Es geschah im Zuge der Affaire Leonarda (2015 wurde eine fünfzehnjährige Roma auf einem Schulausflug festgenommen und in den Kosovo abgeschoben. Es folgten Schülerdemos und ein medialer Aufschrei). Auf einer Vollversammlung mehrerer Schulen entschieden etwa 200 Leute, dass sie sich selbst jenseits offizieller Schülervertretungen organisieren wollten. Einige kannten sich bereits untereinander, aber Lucien und ich kannten uns noch nicht, obwohl wir zur gleichen Schule gingen.
Lucien: Nachdem die Affaire Leonarda vorbei war, gab es noch etwa 40 Leute von uns. Wir beschlossen, den Namen Mili beizubehalten, der damals für Mouvement Inter Lycées Independente stand („Unabhängige schulübergreifende Bewegung“). Wir änderten einfach im Namen die Bezeichnung inter lycées („schulübergreifend“) zu inter luttes („Kämpfe-übergreifend“), um uns weiter zu öffnen. Wir organisierten Essensverteilungen an Obdachlose, antifaschistische Proteste und Proteste gegen größere Probleme wie Rassismus. Wir politisierten uns außerdem während dieser Zeit zunehmend.
Ich vermute, dass Politiker auf euch zukamen.
Lucien: Am Anfang gab es Leute in der Mili, die auch in Gewerkschaften und politischen Parteien waren. Aber die merkten schnell, dass die Mili ihnen persönlich nicht viel brachte, und waren schnell wieder weg. Die NPA (Neue antikapitalistische Partei) kam auf uns zu und einige Dutzend Leute verließen die Mili und wurden dort Mitglied. Aber wir merkten schnell, dass unsere Aktionen deutlich radikaler als die der NPA waren. Also beschlossen wir, komplett unabhängig zu werden.
Christopher: Die NPA hatte uns auch nicht viel zu bieten.
Was hat sich zwischen der affaire Leonarda und heute abgespielt?
Lucien: Zuerst war da der Tod von Rémi Fraisse. Wir kannten die Polizeigewalt, die politische Bewegungen trifft, bereits, hatten aber auch einen Blick auf die tägliche Polizeigewalt in Arbeiter-Wohnvierteln. Da man in der Schule mehr Leute aus unterschiedlichen Milieus und Hintergründen trifft als in der Arbeitswelt, organisierten wir uns um den Tod von Rémi Fraisse. Aber wir trugen Sorge, auch zu betonen, dass es alltägliche Polizeigewalt gibt, von der die Jugend besonders betroffen ist.
Christopher: Das war das erste Mal, dass wir als Mili zu etwas mobilisierten.
Lucien: Dann gab es die Mobilisierungen für Geflüchtete und die Besetzung der Chateau-Landon-Barracken und des Eole-Parks. Wir waren bei all den Besetzungen dabei und organisierten Essen und Kleidung für die Geflüchteten.
Christopher: Zu der Zeit reiste ich auch mit anderen Leuten der Mili nach Ventimiglia (Flüchtlingslager an der französisch-italienischen Grenze).
Lucien: In dieser Zeit lernten wir alles mögliche. Zum Beispiel, wie man einen großen Protest organisiert, Zielgruppenarbeit macht, Leute aufzuspüren, etc. Dann kam COP21. Es war ein Reinfall, aber wir lernten neue Leute kennen und kriegten einen guten Eindruck davon, welche Strategien der Staat gegen Proteste einsetzt. Heute mobilisieren wir natürlich gegen das Arbeitsgesetz. Wir haben landesweite Aufmerksamkeit. Unsere Blockadeaufrufe für Schulen gehen sehr weit. Mit den Studentenvertretungen arbeiten wir nicht länger zusammen. Wir schreiben Aktionsaufrufe, aber die Leute entscheiden selbst, was sie daraus machen.
Christopher: Wir sind nicht dazu da, uns an die Spitze der Proteste zu setzen.
Die Mili ist hauptsächlich Bewegung aus Paris und den Orten im Umland. Habt ihr Kontakte zu anderen Städten?
Sarah: Wir haben Freunde in Bordeaux, Lyon und Nantes.
Lucien: In Nantes gibt es einen Typen, der von hier dorthin hingezogen ist, also haben wir zu den Leuten dort gute Kontakte. Wir haben auch einen Kumpel, der nach Lyon gezogen ist, um dort die Mili aufzubauen. Aber die agieren alle autonom, wir teilen einfach den gleichen Blick auf Politik. In Bordeaux gibt’s ein paar ganz coole Schüler, die eine Organisationsstruktur namens „Entschlossene & Autonome Jugend“ geschaffen haben.
Und in den Arbeitervierteln der Pariser Vororte?
Lucien: Wir werden hauptsächlich von Schülern aus den Oberstufen von Seine-Saint-Denis und Val-de-Marne kontaktiert. Wir pflegen diese Kontakte, aber fokussieren uns eher auf das Lokale. Wir wollen unsere Nachricht verbreitern und sagen immer: „Niemand wird die Blockade für euch übernehmen. Versucht, die Dinge selber zu machen“.
Sarah: Etwa ein Dutzend der Mili leben in einem nahegelegten Vorort, das sind nicht alles Pariser. So oder so, auch die Vororte beginnen, zu mobilisieren, wie in Lilas und Saint-Denis.
Wie würdet ihr euch selbst politisch verorten? Gibt es irgendwelche politischen Parteien, denen ihr nahe steht?
Lucien: Die Mili unterscheidet sich darin, dass sie Klassenstrukturen nicht reproduzieren und nicht in den gleichen Gruppierungen stecken bleiben will. Wir treten nicht in Dialog mit politischen Parteien oder Gewerkschaften, wir arbeiten darauf hin, ohne sie auszukommen. Wir organisieren uns selbst auf der praktischen Ebene. Es gibt bei uns welche, die sind Anarchisten, Kommunisten, beschreiben sich selbst als Autonome oder wollen sich gar nicht irgendwie bezeichnen. Wenn du Teil der Mili sein willst, musst du nicht dieses oder jenes Buch gelesen haben, du musst nicht eine bestimmte Weltsicht oder Praxis haben, du kommst so, wie du bist. Für uns bedeutet Autonomie, soviel Kontakt mit staatlichen Institutionen wie möglich zu vermeiden und uns eigenständig zu organisieren.
Und wie ist es mit den Gewerkschaften?
Lucien: Auf der einen Seite stimmt es, dass die Gewerkschaften stark nachgelassen haben. Andererseits sind es diejenigen, die die Massen auf die Straßen bringen. Und es gibt einige coole Leute in den Gewerkschaften, wie etwa die RATP (Gewerkschaft der Beschäftigten des öffentlichen Nahverkehrs in Paris), mit denen wir einige Übereinstimmungen haben. Aber die Zusammenarbeit mit Gewerkschaften ist immer kompliziert. Da kommt immer die CGT-Bürokratie dazwischen.
Was haltet ihr von der Nuit Debout-Bewegung, die sich am Place de la Republique in Paris versammelt hat?
Christopher: Wir finden Platzbesetzungen immer eine gute Sache, die Wiederaneignung von öffentlichem Raum. Aber da gibt’s nur ständig Vollversammlungen und sonst passiert nichts. Die Leute reden nur. Egal, ob es nun kleine Arbeitskreise sind, die bestimmte Aufgaben übernehmen und nichts hinkriegen, oder ob die Vollversammlungen mit tausend Teilnehmenden viel zu groß sind oder man eineinhalb Stunden warten muss, um zu reden, oder ob die immer gleichen Leute reden.
Sarah: Es ist cool, dass sie die Initiative ergriffen haben, um etwas zu machen, aber die trauen sich nicht, bestimmte Linien zu überschreiten, es bleibt beim offiziell Autorisierten. Es gibt ewige Abstimmungsprozesse, aber wie gesagt, ich finde schon gut, dass Leute so zusammenkommen.
Lucien: Das Problem ist, dass sie den Platz nicht nutzen, um andere Dinge anderswo zu schaffen oder darüber hinauszugehen. Die schaffen sich eine eingebildete Gemeinschaft, es ist grade ein bisschen wie Gruppentherapie. Bis jetzt ist Nuit Debout (Aufstehen in der Nacht) eher Nuit assis (durchgesessene Nacht). Unser Modell ist näher an der Pariser Commune oder der ZAD („Zone à Defendre“ – Besetzung gegen den Flughafenbau in Notre-Dame-des-Landes). Orte, wo Leute die Sachen wirklich in ihre eigenen Hände nehmen.
Was ist das Verbindende innerhalb der Mili?
Christopher: Wir haben unsere Differenzen, aber uns verbindet schon eine ganze Menge.
Lucien: Das, was uns verbindet, ist, dass wir nicht eine politische Partei sind, die sich zwei Stunden die Woche trifft. Wir sind Kumpels. Wir haben einen Gemeinschaftssinn, wenn es um Politik geht.
Sarah: Unser Ding ist, zu sagen: „Das machen wir“. Und das tun wir dann auch. Wir halten uns an konkrete Sachen.
Christopher: Wir versuchen, jeden Moment des Tages an Politik zu denken. Für uns sind alle jungen Menschen politisiert, selbst wenn sie ihre Aktionen nicht als politische verstehen. Wenn junge Leute uns erzählen, dass sie die Schule blockieren wollen, einfach, um schwänzen zu können, werden wir sie nicht verurteilen: Natürlich versuchen wir ihnen etwas zu erklären, aber die Tatsache, dass sie blockieren wollen, ist für uns eine gute Basis für den Anfang.
Lucien: Junge Menschen sind nicht so unpolitisch, wie manche behaupten. Da ist etwas Politisches in allem, was sie tun, auch wenn sie es vielleicht nicht ausdrücken können oder es nicht die traditionelle Form von Politik annimmt. Wenn du beginnst, auf die täglichen Ereignisse in der Stadt zu reagieren, agierst du politisch. Die jungen Leute engagieren sich nicht politisch, sie sind politisch.
Das Auftreten der Mili zigt einige Ähnlichkeiten zu Fußballfans wie den Ultras von Virage Auteil des Stadtteils Paris Saint-Germain.
Lucien: Leute sagen uns das immer wieder, aber es gibt da keine Verbindung.
Christopher: Ich bin so ziemlich der Einzige, der Fußball mag in der Mili.
Lucien: Was stimmt ist, dass wir eine ähnliche Herangehensweise wie bei den Ultras haben. Ein Demozug gewinnt an Dynamik, wenn Rauchbomben gezündet werden und eine bestimmte Stimmung erzeugen, und Dinge kommen ins Rollen. Es stimmt also, einige Aspekte des Auftretens von Ultras haben wir übernommen.
Habt ihr gemeinsame kulturelle Referenzen?
Lucien: Nicht wirklich, wir kommen ja nicht alle aus der gleichen Ecke. Einige kennen sich aus und andere nicht. Es gibt natürlich einige Klassiker wie Der kommende Aufstand, Gesellschaft des Spektakels oder der Film Ne Vivons Plus Comme Des Esclaces („Lasst uns nicht länger wie Sklaven leben“). Sachen, die wir alle gelesen oder gesehen haben.
Christopher: Obwohl wir uns nicht darüber einig sind, was uns diese Bücher zu sagen haben. Für mich ist es mehr als nur diese Bücher. Die NPA fragt immer, wie man sich politisiert hat. Ich muss kein Buch gelesen haben, um zu wissen, dass die Welt rund ist.
Sarah: Eher helfen dir die Bücher, Begriffe dafür zu finden, was du eh schon gedacht hast.
Lucien: Filme, Bücher und so sind nicht so wichtig für uns. Aber es gibt gemeinsame Bezugspunkte wie Akira, Matrix oder Taxi Driver.
Sarah: Was Musik angeht, so unterscheiden wir uns ziemlich. Aber viele mögen PNL (französisches Rap-Duo).
Christopher: Ich höre zum Beispiel amerikanischen Rap. Auf den Protesten spielen wir alles Mögliche. Bei uns gibt es nur einen Punk, aber wir spielen viel Punk auf Protesten und die Leute gehen ziemlich drauf ab.
Lucien: Aber was wir am französischen Rap mögen, sind nicht so sehr die Rapper selber, sondern vielmehr ihre Bekanntheit. Wenn wir ihre Beats nutzen, wenn wir ihre Lyrics in Parolen umwandeln, zum Beispiel „Die Welt oder gar nichts“, wissen wir, dass es bei den jungen Leuten auf Widerhall stößt. Auf unserem letzten Transparent stand „Der Himmel weiß, wir bluten unter unseren Kapuzen“ (ein Lied des französischen Rappers Booba) und es war ein Hit. Wir können verstehen, dass das anziehender ist. Der übliche Aktivistensprech ist so veraltet…
Christophe Gueugneau
Anmerkungen:
(1) Rémi Fraisse war ein junger Umweltaktivist, der 2014 bei einer Demonstration durch eine Blendgranate der Polizei getötet wurde.
(2) Fiche S – „Kategorie S“: So kategorisiert die französische Polizei Personen, die sie für eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit hält und daher besonders überwacht.