Warum die Nuits Debouts mich nerven
Dieser Text beruht hauptsächlich auf einigen Erfahrungen mit Nuits Debouts in Marseille. Meiner Meinung nach funktionieren die verschiedenen Städte sehr wahrscheinlich unterschiedlich; angesichts der Rückmeldungen aus anderen Gegenden ist es jedoch noch wahrscheinlicher, dass sie mehr oder weniger von bestimmten, sich gleichenden korrupten Ideologien durchzogen sind, die weiter unten erwähnt werden. Es wäre sicherlich interessanter gewesen, sich die Zeit zu nehmen, einen umfassenderen und ausführlicheren Text zu verfassen, aber angesichts des Umfangs der Unannehmlichkeiten, die von den Nuits Debouts verursacht worden sind, schien es mir wichtig, einen Text mit größerer Dringlichkeit zu veröffentlichen, der auch anderen Leuten in Marseille oder darüber hinaus als Grundlage dienen möge.
Sicherlich existieren aufrichtige Leute, auf die die unten gegebene Beschreibung nicht paßt, aber ich habe eher versucht, die allgemeinen Züge dessen darzustellen, was meiner Ansicht nach die Nuits Debouts oft sind.
Zunächst würde ich die Nuits Debouts definieren als eine Neuauflage der Bewegung der Empörten (1), vielleicht mit ein bißchen mehr an Partizipation. Für mich scheinen sie sogar möglicherweise nicht mehr als die unverdaute Version ihres Vorgängers. Ihre ideologischen und praktischen Bezüge sind Podemos in Spanien und Syriza in Griechenland, zwei Länder, in denen es seit einigen Jahren vor Empörten nur so wimmelt.
Lieber Staatsbürgertümelei als Kampf
Die Idee verbreitend, dass das Kräfteverhältnis im Moment nicht günstig sei und dass konfrontative Handlungen auf den Straßen vergeblich seien, wird die Logik stark gemacht, dass man nicht im Kampf etwas erreiche, sondern das Heil in staatsbürgerlichen Umzügen zu finden sei. Deswegen gibt es den x-ten Aufruf zu Wahlen, um die Gesellschaft zu ändern – die Tatsache ignorierend, dass es mehr Leute gibt, die nicht wählen können oder wollen, als andere – oder auch die verworrene Idee einer neuen Verfassung, um unsere neuen Peiniger auf noch demokratischere Weise einzusetzen. Diese Logiken stehen auch in Spanien und Griechenland hoch im Kurs – und man kann leicht sehen, wohin das führt.
Das Feld für Mélenchon bereiten
Eine neue Verfassung? Eine neue Republik? Die sechste Republik! Na, dann mal los! Und im Hintergrund erkennt man Mélenchon (2), wie er sich an der Startlinie für den großen staatsbürgerlichen Mummenschanz 2017 positioniert. Und es lebe der staatsbürgerliche Aufstand! Der die Bastille gerade mal im Traum einnimmt, weil man sie ja trotzdem nicht wirklich beschädigen darf; das wäre ja nicht öko-staatsbürgerlich-wir-sind-alle-gleich-verantwortlich.
Parasitentum und Vereinnahmung
Es handelt sich also um eine Bewegung, die sich mithilfe der Ideologie der Partei der Linken vereinnahmen läßt. Und gleichzeitig sind die an der Bewegung Beteiligten selbst schon Vereinnahmer der aktuellen gesellschaftlichen Gärung. Sie wissen, wie man es macht, dass nur von ihnen gesprochen wird. All die Demonstrationen der letzten Wochen, die verschiedenen Streiks, die ganze Konfliktgeladenheit, die sich hier und da in den Straßen gezeigt hat, lassen sie dabei in der Versenkung verschwinden. Ihre Liaison mit den Staats- und Kapitalmedien und ihre Anständigkeit führen dazu, dass neben einer Nuit Debout eine Demonstration mit mehr als hunderttausend Menschen praktisch unsichtbar bleibt.
Aber damit nicht genug. Es geht, in der blöden Perspektive einer Pseudoeinheit, auch darum, die Orte der aktuellen Kämpfe parasitär einzunehmen, aus denen sie übrigens manchmal auch selbst hervorgegangen sein können. Hauptsache es kommt zu diesen gekaperten Versammlungen der letzten Zeit, dem Ende der Demos. Und bald sind dann diese schon vor der Gärung der letzten Wochen existierenden Kollektive dran, die ohnehin schon in ihren Reihen mit staatsbürgerlichen Positionen und deren unterwürfigen Verhältnis zum Staat und, damit notwendig verbunden, also auch zum Kapital zu kämpfen hatten. Die Ideologie der Nuit-Deboutler breitet sich überall aus, wo sie kann, bis in den letzten Winkel. Sie gehen uns auf die Nerven mi ihren Versammlungen nach den Demos – und das bis zum Ende der Nacht.
Keine Gnade für die Verräter
In Paris gibt es bestimmte Organisatorinnen, die es, nach einer Demo am 9. April, die schon erfolgreich von der Polizei niedergeschlagen worden war, richtig fanden, die Polypen zu rufen, weil die Kameras auf dem besetzten Platz sabotiert wurden. Genau da zeigt sich das wahre Gesicht, zeigt sich, was die Staatsbürgertümelei in Wirklichkeit ist: eine Kollaboration mit der Ordnung der Dinge, vor allem mit der Bullerei. Sich zu den Nuits Debouts zu bekennen bedeutet zu akzeptieren, dass man mit den Verrätern zusammenarbeitet. Und es ist völlig klar, dass jede Person, die erwischt wird, wie sie Leute der Polizei ausgehändigt, mit gebrochenen Knien enden wird.
In Marseille ist es das famose Gerede der Bürokraten von der CGT über die Randalierer, das von den Nuit-Deboutlern übernommen wurde, wonach alle Grenzüberschreitungen durch-Nicht-Staatsbürgertümler in den Aktionen (Besetzungen, Blockaden, gezielte Angriffe, Vorwärtsverteidigung gegen die Polizei) von Polizisten in Zivil begangen worden seien. Ich sage nicht, dass es so etwas gar nicht gibt, ich sage nur, dass dies nicht nötig gewesen ist, damit die oben zitierten Praktiken umgesetzt werden konnten. Nebenbei eine kleine Mitteilung an diejenigen, die solche falschen Gerüchte streuen: „Wir stehen ganz sicher nicht auf derselben Seite der Barrikade, auch nicht des Bildschirms. Nehmt Euch vor den Geschossen in acht.“ (3)
„Freie“ Rede im Milieu der Berauschtheit – zwischen Folklore und Krimskrams
Die entspannte Atmosphäre dieser Zusammenkünfte, die offensichtlich in Orgien der Berauschtheit enden (4), ebenso wie das Fehlen jedes Rahmens für die Diskussionen und der selige Glaube daran, einen echt demokratischen und befreiten Raum zu schaffen, geben den Redebeiträgen an den Mikrofonen den Ton vor. Die Idee einer Diskussion, die das Wort „frei“ in Anschlag bringt, stört mich wenig, aber in diesem Fall ist das Endresultat eine Art folkloristisches Spektakel, in dem alles und egal was gesagt wird. Die einen erzählen uns von einer neuen Verfassung, gefolgt von einem schlechten Künstler, der sich selbst gern reden hört, dann – unter der Losung „Quartier Nord de Marseille“ – teilt uns einer mit, er sei Moslem und dass das Problem die Juden seien. Und alle zueinander in einem Herzensbündnis. Um sich von allen Praktiken des Kampfes zu verabschieden und immer weiter Richtung Staatsbürgertümelei zu bewegen, verabschiedet man sich auch von bestimmten Reflexionen, von der die Kritik dieser beschissenen Welt sich nährt. Nein, nicht alle Ideen sind gleich viel wert. Nein, nicht alle auf dieser Welt sind auf dem gleichen Niveau (gesellschaftliche Stellungen, Schwierigkeiten, das Wort zu ergreifen…). Nein, nicht alle Welt ist nett.
Alternative, Möchtegern-Bohèmes und Künstlerfuzzis in einer Front im selben Viertel
Insgesamt ist die soziale und ideologische Zusammensetzung dieser Nuits Debouts, zu allermindest in Marseille, doch nicht so facettenreich. Es ist dafür nicht unerheblich, dass sich das Ganze in Marseille im Cours Ju abspielt, einem alten, ehemaligen Arbeiterviertel, das nun gentrifiziert ist und in dem sich die Bevölkerung über die Jahre so ausgetauscht hat, dass es nun ein Viertel von Studenten und Möchtegern-Bohèmes ist, mit den entsprechenden Läden, Bio-Bars, genau das Richtige für all die Alternativen und Künstlerfuzzis. Wenn nur all diese Leute in ihrem Viertel bleiben könnten, wäre das schon weniger problematisch und eine echte Annehmlichkeit für alle Welt und gegenüber den laufenden Kämpfen.
Besetzen, blockieren, sabotieren… – und sich gegen diese beschissene Welt organisieren
Historisch die letztlich einzige Handlungsweise, mit der den Inhabern von Macht über andere Rückschläge verpaßt werden konnten, bestand darin, die Konfliktsituation auf den Straßen und anderswo zu verschärfen, um zu versuchen, dem Staat, dem Kapitalismus oder allen anderen unterdrückenden Formationen irgendetwas zu entreißen. Und wenn dies dann noch ein bißchen spontaner möglich ist als bislang, dann, so glaube ich, findet dieses Konfliktpotential seine Kraft in der praktischen Begegnung, darin, dass sich etwas Gemeinsames zwischen entnervten Leuten findet und darin, wenn es denn passiert, dass diese sich schließlich organisieren.
Gegen das Gesetz; gegen die Arbeit!
CSH, einer aus der Versammlung „13 im Kampf“ (5), 15. April 2016
Anmerkungen:
(1) Im Original steht hier ‚les Indigestes‘, ungefähr: ‚die Unverdauten‘ – ein Wortspiel mit dem Ausdruck ‚les Indignés‘ – ‚die Empörten‘. Dies bezieht sich auf die Bewegung der „Indignados“, die sich 2011 auf den Plätzen Spaniens ausbreitete.
(2) Jean-Luc Mélenchon: Vorsitzender der Parti de Gauche (Linkspartei). Möchte 2017 bei der Präsidentschaftswahl als unabhängiger Kandidat antreten.
(3) Der Satz wurde dem Text „Es war einmal die Cogestion“ (Caen, Juni 2015) von Laura Blanchard und Emilie Sievert entnommen und war adressiert an einen weiteren Kollaborateur, Yannick Rousselet, der für die Anti-Atom-Kampagnen von Greenpeace Frankreich verantwortlich ist.
(4) Übrigens, wenn das Ganze dabei bliebe und nicht versuchte, sich ernst zu nehmen und eine politische Dimension zu geben, dann würde es, glaube ich, mir gut gefallen, dort einen Aperitif einzunehmen.
(5) 13 ist auch die Postleitzahl und Verwaltungskennziffer für das Département Marseille.
Quelle: https://mars-infos.org/pourquoi-les-nuits-debouts-m-954