Reflexionen über Gewalt
Vorwort
Seit den Ereignissen des 9. April und der wilden Woche, die darauf folgte, hat die Nuit-Debout-Versammlung die Frage der Gewalt ins Zentrum der Debatte gerückt. Während die Bürger in ihrem strengem Pazifismus verharren, mehren sich die Stimmen, die sich für eine „Vielfalt der Praktiken“ aussprechen. Die landesweite Koordination der Studenten hat selbst ausdrücklich die Trennung zwischen Randalierern und Demonstranten zurückgewiesen.
Angesichts dieser Zunahme an Diskussionen hat das Comité d’Action Nuit à Bout einige Positionen zusammengetragen, die im Kontext des Anwachsens sowohl der Bewegung als auch der Repression sinnvoll erscheinen. Je ernster wir unsere Präsenz auf dem Platz der Republik nehmen, desto häufiger wird es zu Situationen kommen, in denen Konfrontationen ausbrechen. Darauf müssen wir uns vorbereiten. Es geht dabei gerade nicht darum, alle Welt davon zu überzeugen, dass Gewalt eine legitime Option oder ein notwendiger Wegsei. Es geht einfach darum, Aktionsformen zu finden, vielleicht furchterregende, die uns von der Angst befreien.
Reflexion I
Was erklärt werden muss ist nicht, dass es rund um die Nuit Debout in Paris Ausschweifungen gäbe, sondern, warum es sie so selten gibt. Im Grunde verstehen alle sehr gut, warum Leute, die sich seit zwei Wochen jede Nacht versammelt haben, um über das Ende des Kapitalismus nachzudenken, dazu kommen, die Fenster der Sociéte Générale-Bank (#PanamaPapers) einzuschmeißen. Das ist offensichtlich gerecht, es liegt auf der Hand. Da liegt das Problem nicht. Deshalb wird die moralische Verteidigung der Gewalt, die theoretische oder ideologische Rechtfertigung des „Glasbruchs“, niemals mehr Leute dazu bringen, mit der Polizei zu kämpfen oder die Schaufenster von Banken zu zerstören.
Man sollte nie vergessen, dass viele Leute auf Demos nicht deshalb vorsichtig sind, weil sie eingefleischte Pazifisten sind, sondern einfach, weil sie Angst haben. Diese Angst zu überwinden ist eine kollektive Aufgabe, die nirgends besser vollbracht werden kann als auf der Straße. Indem man auf alle aufpasst, nicht nur auf seine Freunde, sich einer um den anderen kümmert, auch in den schlimmsten Situationen.
Reflexion II
„Vielfalt der Praktiken“ ist ein Begriff, der uns, wie seine Schwester, die „Gemeinsamkeit der Kämpfe“, nichts darüber sagt, was zu tun ist, wenn Leute zusammenkommen, die nicht dieselbe Art zu Kämpfe haben – oder sogar überhaupt keine Art zu kämpfen. Hinter dem Begriff verbirgt sich eine im Grunde ziemlich liberale Idee: Alle kämpfen Seite an Seite, jeder auf seine Weise, ohne sich zu behindern, ohne sich abzusprechen.
Das ist niemals etwas anderes als eine subtilere Weise, sich voneinander abzusondern. Und die „Vielfalt der Demoblöcke“? Die FIDL (Unabhängige und demokratische Schülerföderation) fordert sie bereits auf jeder Schülerdemonstration.
Reflexion III
Die Frage ist nicht, ob man gewalttätig ist oder nicht. Die Frage ist, ob man offensiv oder ungefährlich ist. Drei Cliquen von je fünf Freunden, die entschlossen sind, Automaten zu zerschlagen, aber unfähig, sich über ihre Affinitätsgruppen hinaus zu organisieren, sind genauso harmlos wie die 10.000 gewerkschaftlichen Bürger, die behäbig dem Lautsprecher-Fritten-Wagen der CGT (Confédération générale du travail – „Allgemeiner Gewerkschaftsbund“) hinterher trotten. Umgekehrt haben 3000 Leute, die im Tränengas standhielten und eine Handvoll Steinewerfer hinter einem Transparent es beinahe geschafft, einen Aperitif mit Valls (1) zu trinken.
Alle kraftvollen Momente, die wir seit dem 9. März auf den Straßen erlebten, erforderten an einem Punkt, dass die zum Kampf Bereiten und diejenigen, die es nicht waren, auf einander Acht gaben und sich entschieden, zusammen zu bleiben und nicht bloß nebeneinander in höflicher und diplomatischer Gleichgültigkeit. Am 9. April auf dem Platz der Nation gab es in der ganzen Hauptstadt nicht genug Tränengas, um die Hunderte von Leuten, die die CRS-Reihen (Compagnies Républicaines de Sécurité – französische Bereitschaftspolizei) bewarfen, von jenen Hunderten zu trennen, die die Polizei ausbuhten und filmten, während sie die Aufrührer anfeuerten und verarzteten.
Reflexion IV
Nach und nach erscheint die „Gewaltfrage“ als das, was sie ist: eine Ablenkung. Solange wir fortfahren, über sie sprechen, und noch dazu in moralischen und ideologischen Begriffen, werden wir nicht die durch die Demonstrationen gestellten, wirklichen strategischen Probleme angehen. Eine weitere Rechtfertigung der Gewalt zu schreiben, wird zu nichts führen. Es sind bereits genug Leute bereit, sich gegen die Polizei zu verteidigen. Was ihnen fehlt, ist bloß ein Demozug zum Schutz.
Reflexion V
Eine Demonstration ist kein symbolisches Ritual. Sie ist ein Kräftemessen, in dem der Teil der Bevölkerung, der Grund zum Revoltieren hat, physisch mit den Leuten zusammenstößt, die man dafür bezahlt, die Welt in dem beklagenswerten Zustand zu erhalten, indem wir sie vorfinden. Jede Demo ist eine Neujustierung des Kräfteverhältnisses zwischen jenen, die bereit sind, für die Veränderung der Situation Risiken einzugehen und jenen, die dafür bezahlt werden, sie zu konservieren. Das Problem an den offiziellen und gewerkschaftlichen Demonstrationen ist, dass sie bereits die bloße Existenz eines solchen Kräfteverhältnisses leugnen. Ihr dargebotenes Bild davon, wie das Leben ist, was Kampf ist, ekelt uns an. Gesponserte Luftballons, Bratwurstslogans und Ordnungsdienst; wenn „kämpfen“ heißt, wie die CGT umherzuziehen, dann heißt kämpfen, passiv zu sein, dieselben Gesten stets aufs Neue zu wiederholen und niemals Risiken einzugehen. Dies, zusätzlich zu ihrer Verlogenheit, ist unerträglich. Man beginnt erst wirklich zu kämpfen, wenn man aufhört, harmlos zu sein: dies mag vielleicht tautologisch klingen, aber die Gesamtheit der gewerkschaftlichen Kräfte verbringt ihre Zeit damit, das Gegenteil zu bekräftigen. Ihre Gesten auf der Straße drücken nichts als Unterwerfung aus.
Reflexion VI
Die Polizei hält die Ordnung aufrecht. Weil sie ein Protest gegen die Ordnung der Dinge ist, ist eine Demonstration ihrem Wesen nach eine Auseinandersetzung mit der Polizei, in welcher Form auch immer. Deshalb gibt es, wenn die Nacht kommt, einen Gewinner und einen Verlierer. Entweder gewinnt die Polizei (5. April) oder die Demonstranten gewinnen (31. März). Die Polizei gewinnt, wenn alles so abläuft wie von der Verwaltung geplant. Die Demonstranten gewinnen, wenn alles nicht so abläuft wie von der Verwaltung geplant. Daher gewinnt man an Freiheit, was man sich gemeinsam unter den Augen der Polizei ertrotzen kann. Gewinnen ist wichtig. Sowohl für die Konstruktion des Kräfteverhältnisses, als auch für unsere Verbundenheit, für unseren Mut. Zu viele Leute kommen als Touristen auf Demos und sind sich der Herausforderung nicht bewusst, die darin besteht, den gegebenen Rahmen zu durchbrechen. Diese Leute können nette Clowns sein, die vor der CRS tanzen oder Randalierer, die sich nicht für das Verhalten des restlichen Zuges interessieren. Egal: beide sind ungefährlich.
Reflexion VII
Um sicherzustellen, dass alles so verläuft wie geplant, wendet die Polizei Maßnahmen an: Wanderkessel, abgesperrte Straßen, Horden von Zivis etc. Die Herausforderung im Kampf bei einer Demonstration besteht folglich in der polizeilichen Maßnahme: man muss sie am Funktionieren hindern, man muss sie zunichte machen. Es gibt nicht nur tausend solcher Maßnahmen, es gibt auch tausend verschiedene Möglichkeiten, sie zu unterlaufen.
Ebenso ist über eine Demo nicht viel zu sagen, bei der die Polizeitaktik nicht infrage gestellt wurde. Das ist vielleicht auch der Grund, warum man in der medialen Berichterstattung der Demonstrationen von nichts anderem redet als von den Ausschreitungen. Sie allein bedeuten etwas. Zu sagen, dass es „am Rande der Demonstration zu Auseinandersetzungen kam“, macht so viel Sinn wie zu sagen: „Am Rande des Fußballfeld wurden Tore erzielt“.
Reflexion VIII
Dinge kaputt zu machen ist der einfachste und offensichtlichste Weg, eine Polizeistrategie zu durchbrechen. Es auch einer der am wenigsten interessanten und langweiligsten Wege. Was in den meisten Diskussionen über Randalierer vernachlässigt wird, ist, dass letztere es meist bevorzugen würden, etwas anderes zu machen: die Polizeilinien durchbrechen, um die Demo zu befreien, ein Gebäude besetzen, auf eine unangemeldete Route abbiegen, Barrikaden errichten, anregende Wandaufschriften hinterlassen, etc. Sachschaden ist oft eine Notlösung. Es ist der Nullpunkt der Demonstration. Der klassische Gewerkschaftsumzug, gemütlich und kinderfreundlich, ist überhaupt keine Demonstration: Er ist eine Polizeioperation.
Es ist bemerkenswert, dass es während der sozialen Bewegung des letzten Monats nur selten und wenig Glasbruch gegeben hat. Man richtet keinen Sachschaden an, wenn man sich mit der Polizei anlegt. Man hat Besseres zu tun.
Reflexion IX
Die Nuit Debout-Versammlungen mögen abwechselnd unterhaltsam, rührend oder lächerlich sein, sie werden uns niemals helfen, uns in einer revolutionären Perspektive zu organisieren. Diese Behauptung ist eine praktische Feststellung: man kann solche Dinge nicht auf dieselbe Weise diskutieren, wie man eine Wartemarke in der Metzgerei zieht. Die endlose Abfolge abgestoppter und zusammenhangloser Wortbeiträge schafft die Voraussetzungen einer konstruktiven Debatte ab. Kein Mensch kann in zwei Minuten etwas Vernünftiges sagen. Jeder sieht es, aber alle finden sich damit ab. Was immer auch der gute „demokratische“ Wille gewisser Organisatoren oder „Macher“ sein mag, die Entscheidungs- und Abstimmungsverfahren sind fast immer eine Farce. So parodieren sie die „formale Demokratie“, das ist die Ohnmacht, die daraus folgt, dass die getroffenen Entscheidungen im Grunde für nichts und niemanden relevant sind. In den Konfrontationen auszuhalten verlangt aber, an gewissen Entscheidungen festzuhalten – was durch die Vollversammlung de facto unmöglich gemacht wird. Man kann an ihr auf dieselbe Weise teilnehmen, wie man The Voice betrachtet. Eine revolutionäre Perspektive auszuarbeiten erfordert, dass sich andere Arten des Sprechens, des Austauschs und der kollektiven Intelligenz parallel auf dem Platz ausbreiten.
Reflexion X
Unsere Demos werden nicht anfangen, nach etwas auszusehen, wenn wir alle eine prinzipielle Toleranz gegenüber den Aktionen der anderen teilen, sondern eine gemeinsame strategische Wahrnehmung der Situation. Und das ist der Fall, wenn wir jede Demonstration als eine Schlacht wahrnehmen, die wir mit allen Mitteln gewinnen müssen; wenn wir alle nicht auf Gewalt aus sind, sondern auf Offensive, Geschwindigkeit und Überraschung. Durch unsere Aufmerksamkeit auf die Bewegungen und Gefühle, die unsere Demos durchziehen, werden wir ein günstiges Terrain für ein wirkliches Zusammenlaufen der Kämpfe finden – an einem Ort, dem Platz der Republik.
So kommen einem Tausende gewaltfreie Handgriffe in den Sinn, die unsere Effektivität auf der Straße verzehnfachen würden: – In Massen auf den Gehsteigen laufen, um die seitlichen Bewegungen der CRS zu verhindern, mit denen sie die Demo in die Zange nehmen wollen.
– Sich mit möglichen Marschrouten von Spontandemos beschäftigen. Im Eifer des Gefechts und der Improvisation trifft die Demospitze nicht immer die besten Richtungsentscheidungen. Helft ihr.
– Es sich angewöhnen, sich im richtigen Moment zu vermummen: Sowohl, um die massive und systematische Identifikations- und Überwachungsarbeit der Polizei zu sabotieren, als auch, um Demonstranten, die sich an Konfrontationen beteiligen, ununterscheidbar von anderen zu machen.
– Konfrontationen entstehen in der Regel nicht in Situationen des Schweigens oder der Stille. Die Parolen und Gesänge drücken den Geist der Bewegung aus. Sie haben ihren Platz in allen Momenten der Konfrontation. Singt und tanzt, wenn andere kämpfen.
– Mobil sein und nicht zulassen, dass sich Lücken im Demozug bilden, wenn die Ordner oder die Polizei diesen zu spalten versuchen.
– Lernen, sich vor Tränengas zu schützen, um die wenigen Ausgerüsteten nicht allein in den Wolken stehen zu lassen.
– Systematisch Tränengaskartuschen zurückschicken, oder diese zumindest aus dem Demozug entfernen.
– Im Fall von Angriffen ruhig bleiben und den Schlägen ausweichen. Aushalten und nicht zehn mal weiter zurückweichen als die Polizeikette vorrückt, um ihr nicht kostenlos Terrain zu überlassen.
Ihre Moral ist nicht die unsere.
Comité d’Action Nuit A Bout (Aktionskomitee Nacht zum bitteren Ende), 18. April 2016
Anmerkungen:
(1) Anspielung auf eine unangemeldete Demonstration zum Wohnhaus von Premierminister Manuel Valls am 9.4.2016. (Vgl. http://www.welt.de/politik/ausland/article154177936/Demonstranten-wollten-Aperitif-bei-Valls-trinken.html)