Tage wie diese
Prolog
Warum zum G20-Gipfel fahren? Diese Frage stellt sich unweigerlich, wenn die Verfasstheit dieser Welt als übel und langweilig empfunden wird, jedoch als Schuldige nicht der Haufen von Charaktermasken beim besinnlichen Schauspiel üblicher Gipfeltreffen empfunden wird. Bekanntlich sind die gegenwärtigen Verhältnisse komplexer und von sozialen Beziehungen geprägt, die niemanden unberührt lassen. Kritik muss daher immerzu skeptisch formuliert werden, im Sinne eines Bewusstsein über das Eingebundensein in die alltägliche Praxis kapitalistischer Produktionsverhältnisse. Das autarke Dasein abseits gesellschaftlicher Zwänge ist Trugschluss, wenngleich es ein Bezugspunkt und Sehnsuchtsort für revolutionäres, experimentelles Handeln ist. Es gilt weiter Fragen zu stellen, altes und derzeitiges zu analysieren, (auch altbewährte) Praxen zu beleben und selbstverständlich stets eigene Erfahrungen zu sammeln. Denn der Sprung ins Unbekannte ist ebenso Teil von Geschichte, wie es Prozesse gibt, die einander ähneln. Doch Erfahrungen von Ausbeutung und Autorität mögen mal mehr, mal weniger bewusst verinnerlicht werden – mitunter münden ganze Jahrhunderte in einem einzigen Tag.
Warum das einleitende abstrakte Geschwafel? Nun, Gipfeltreffen haben in der jüngeren Vergangenheit eine große Faszination auf weite Teile der (radikalen) Linken ausgeübt. Was einst mit der erheblichen Störung des WTO-Treffens in Seattle 1999 begann, fand seine Fortsetzung in militanten Straßenschlachten in den Folgejahren in (mehrheitlich) europäischen Großstädten. Eine ganz Schar von Intellektuellen fabulierte damals über die „Bewegung der Bewegungen“ oder auch „Multitude“. Ein Zusammenkommen unterschiedlicher Gruppen und Einzelpersonen, von autonomen Gruppen bis zu gehorsamen NGO´s, militant und pazifistisch – was einte, war die Ablehnung der jeweiligen Treffen irgendwelcher Repräsentationsfratzen. Der tragische Tod eines jungen Militanten in Genua 2001 stellt dabei sicherlich den oft beschworenen Endpunkt dieser Zusammenkünfte dar. Die Treffen wurden nun in ländlichen Gegenden, gut bewacht abgehalten. Proteste wurden somit erschwert, da der urbane Raum deutlich mehr Spielraum für subversives Handeln lässt. Ein kurzes Aufflammen vergangener Jahre ließ sich 2007 beim G8-Treffen im norddeutschen Heiligendamm wahrnehmen. Doch der mehrstündige Riot zu Beginn der Proteste war letztlich nur ein Hin- und Her am Strand von Rostock. Unkontrolliertes, chaotisch geordnetes Treiben war zu diesem Gipfel nicht zu beobachten. 10 Jahre später sollte ein neuer Versuch gestartet werden. Und erstmals seit 2003 wurde wieder eine europäische Großstadt ins Visier genommen: Hamburg, im Juli 2017.
Alles allen!
Die Debatten sind heute in vielen Punkten andere. Aus heutiger Sicht mag ich daher die Wirkung der damaligen Proteste als marginal einschätzen. In den wirklich lesenswerten Analysen blieb und bleibt auch ewig die gleiche Erkenntnis: Eine neue Generation hat Erfahrungen im Straßenkampf erlernt und so wird zumindest eine gewisse Tradition aufrechterhalten. Mehr nicht. Die viel beschworenen globalen Kämpfe als Folge internationalen Gipfelhoppings finden geradezu nie statt, und ich halte es für fragwürdig, dass Gipfelproteste die Initialzündung hierfür geben. Der enge Radius in alltäglichen Kämpfen ist dann wohl doch zu einnehmend, aller Digitalisierung zum Trotz. Um nicht falsch verstanden zu werden, mich trübt solch Erkenntnis nicht. Vielmehr motiviert es mich, im eigenem Umfeld zu agieren und hoffnungsvoll auf Überraschungen zu blicken, die so manche Geste schon ausgelöst haben. Selbst wenn eine Gegend vollkommen unter autoritärer Kontrolle steht, gibt es immer Orte, in denen gelebt, geliebt und von denen aus Widerstand geleistet werden kann. Wir können diese Orte vergrößern. Die globale Situation scheint über uns hinauszugehen, die lokale Situation allerdings nicht. Als Revolutionäre sind wir weder komplett machtlos, noch potenziell allmächtig (glücklicherweise).
Die radikale Linke in Deutschland ist zerfasert. Doch analysieren wir vorerst den Alltagsverstand. Ich habe den Eindruck, dass die Erzählung blühender Landschaften im europäischen Vergleich kollektiv verinnerlicht ist. Die allerorten gefeierte „Wirtschaftskraft“ lässt die Hoffnung auf ein besseres Leben für alle verstummen. Die liberalen Kreise klopfen sich auf die Schultern, welch prächtige Rechte hier bezüglich Rede- und Versammlungsfreiheit vorherrschen. Dies geschieht kurioserweise immer dann, wenn die Grenzen dieser Freiheiten nie ausgelotet werden und das libidinöse Verhältnis zum Staat allzu kritisches Nachfragen, und viel wichtiger: Handeln, verstellt. So bleibt es beim bloßen Bekenntnis, denn wenn ernsthaft Sand im staatlichen Getriebe wahrgenommen wird, dann werden viele solcher Rechte über Bord geworfen (wie beim G20-Gipfel beobachtbar, aber dazu später mehr). Getreu dem Motto: Alles darf gesagt werden, nichts darf sich verändern, wird eine heitere Atmosphäre zelebriert, wie es sich vermutlich auch viele organisierende Gruppen im Vorfeld gewünscht hätten. Dazu wird auch vor dem Gipfel eine Liste von Forderungen an die Kanzlerin überreicht und die Audienz im Nachgang als Erfolg gefeiert. Was zählt, ist der bloße Dialog und die Möglichkeit der verbalen Partizipation. Das eint sie mit der Universitätslinken, deren linguistische Verrenkungen ich für besonders zahnlos und integrierbar halte. Die Sprache ist eben nicht das Haus des Seins und ernsthafte Kritik liegt den Finger auf die materielle Wunde.
100.000 € Sachschaden. Mittlerweile wurden allerdings einige Handys verhaftet.
Womit wir auch bei der radikalen Linken hierzulande angekommen sind. Es ist ein offenes Gerücht, dass hierzulande die Theorie zumeist den Vorzug vor der Praxis genießt. Und praxislose Theorie tut nicht weh. Das ließ in der Vergangenheit schon einige verzweifeln. Viel zitiert ist hierbei Lenin, der einst feststellte: „Wenn deutsche Revolutionäre einen Bahnhof stürmen, dann lösen sie vorher noch eine Fahrkarte.“ Doch auch Marx wusste bei allen objektiven Bedingungen nicht so recht weiter, wenn schon im 19. Jahrhundert alle „notwendigen materiellen Voraussetzungen für eine soziale Revolution“ vorhanden waren, doch der nötige Bruch ausblieb. Folgerichtig stürzte er sich ins Reich des Irrationalismus, denn „worum es ihnen mangelt, ist der Geist der Verallgemeinerung und die revolutionäre Leidenschaft“. So auch heute. Praktische Vorschläge werden zumeist in allen erdenklichen theoretischen Szenarien durchexerziert um letztlich vielen eine Absage zu erteilen, da die Gefahr einer „Pseudo-Aktivität“ zur reinen Selbstbespaßung droht. Antideutsche Ideologen sehen sogleich in linksradikalen Handlungen den Vorschein der negativen Aufhebung des Kapitalverhältnisses, während andernorts (besonders im universitären Betrieb) am Safe-Space gearbeitet wird. Während erstere konsequenterweise nur noch der Lektüre und gehässigen Kommentaren aus der Ferne Beachtung schenken, gelten für letztere bloße Lippenbekenntnisse und Privilegienbestimmung. Während erstere vor lauter Sachzwängen keinen subjektiven Faktor mehr erkennen wollen, gelten für letztere nur noch Diskurse und Sprachhygiene. Keine sinnvollen Alternativen also. Es ist höchste Zeit, sich um die Perfektion nicht der Phrasen, sondern der Taten zu bemühen. Die Wahrheit in Form des praktischen Ergebnisses ist es, wonach ich strebe. In Anbetracht dessen halte ich die nebulöse autonome Bewegung als sympathischste Option. Hinter häufig pathetischen, kitschigen Slogans verbergen sich oftmals die pragmatischsten, erfolgreichsten Versuche der Umsetzung radikaler Kritik. Nimmt man avantgardistische Strömungen beiseite, so zielen Mittel und Kommunikation auf eine verständliche einfache Umsetzung der Ideen. Und damit meine ich nicht nur den schwarzen Block als taktisches Mittel (dessen stalinistische Vereinnahmung selbstverständlich ebenso möglich ist). Genau jenes Klientel begab sich bereits Monate vor dem Gipfel in die Auseinandersetzung mit autoritären Strukturen und sorgte damit schon, in gewohnt pragmatischer Art und Weise, für eine Hysterie im Sicherheitsapparat und Sorge vor staatlich nicht gewünschten Bildern. Es sollte anders kommen, als von Sicherheitskreisen gewünscht, zum Glück.
Zurück zur Eingangsfrage. Mich ekelt das Szenario an, wenn Freiheiten zum Wohle autoritärer Gestalten eingeschränkt werden. Ihre Repräsentation basiert auf einer Minderheit, und selbst wenn nicht – das demokratische Spektakel ist meilenweit von meinen Vorstellungen einer befreiten Gesellschaft entfernt. Und sind wir doch mal ehrlich, selbst für unsere bürgerlich demokratischen Apologet_innen mögen die Resultate solcher Treffen wenig sinnvoll erscheinen, oder? Denn letztlich handelt es sich um die Produktion schöner Bilder. Bilder, die für bestimmte gesellschaftliche Strukturen stehen und als einzig mögliche Vorstellung existieren sollen. Das dabei die einzig üblen Gestalten für die Geschicke der Welt zusammenkommen, ist natürlich lächerlich und antisemitisch. Doch Macht nur als unsichtbar wahrzunehmen, ist Ideologie. Es ist der ideologische Versuch, einen Schleier über Verhältnisse auszubreiten, die durchaus klar erkennbar sind. Wir sollten uns vor solchen Soziologismen hüten, denn sie verschleiern die Wirklichkeit. Sie geben sich zwar als Erkenntnis aus, aber gerade das ist ihr ideologischer Charakter.
Ich will Risse ins gemütliche Beisammensein der G20 reißen. Ihren Bildern der fröhlichen, abgesicherten Party möchte ich Bilder der gestörten Ordnung und Ruhe entgegen bringen. Nicht im Gleichschritt staatlich legitimierter Proteste, sondern im dezentralen Chaos, welches eben doch gezielt zuschlägt. Ich denke, also zerstöre ich. Den großen Impuls für weitere Kämpfe erhoffe ich mir hierdurch nicht, aber zumindest der gescheiterte Versuch eines inszenierten Gipfels freut mich. Einiges hiervon konnte während der Tage in Hamburg beobachtet werden.
Peripetie
Die Repression präsentierte sich schon eine Woche vor dem 6. Juli, also dem offiziellen Beginn der Proteste. Die Möglichkeit von Protestcamps wurde von einer juristischen Instanz zur nächsten weitergereicht. Im Grunde ein rein juristisches Gezeter, wobei sich die Polizei regelmäßig über juristische Entscheidungen hinwegsetzte. Ein Theater, wie es wohl immer zu beobachten ist, wenn die Polizei eigene Spielregeln verletzt sieht. Als Begründung musste die zu erwartende Militanz der Camps herhalten, und ein ums andere Mal wurden die eben aufgestellten Zelte wieder geräumt. So sollte schon im Vorfeld auf die kommende Repression eingestimmt und unentschlossene Leute von der Fahrt nach Hamburg demotiviert werden. Kurz vor knapp gelang die Etablierung kleiner Camps und ein erster Punktsieg wurde hier ersichtlich: viele Leute ließen sich nicht einschüchtern und fuhren ins Getümmel.
Der erste Tag sollte mit einer groß mobilisierten Demo unter dem bissigen Titel „Welcome to hell“ stattfinden. Schon vorab wurde der „größte schwarze Block in Europa“ versprochen. Bewusst wurde ein autonomes Klientel angesprochen, und ein Gefühl vergangener Happenings machte sich breit. Die Demo sollte nah der Elbe starten, quer durch die Stadt führen, um schlussendlich an den Messehallen des G20-Gipfels zu enden. Schon Wochen vorher wurde der kuriose Umstand bekannt, dass die Polizei die komplette Route genehmigte und man so nah wie keine andere angemeldete Veranstaltung an den Wunschort der Zerstörung kommen sollte. Erfahrungen wie die Rote-Flora-Demo 2013 wurden ins Gedächtnis gerufen, wo die Bullen gleich zu Beginn die Demo angriffen und ein Start nicht möglich war. Es wurde laut darüber spekuliert, aber am Startpunkt änderte sich nichts. Als ortsunkundige Person kam ich beim Anblick des Startpunkts ins Zweifeln. Eine enge Straße mit einer hohen Mauer (und dahinter die Elbe) zur rechten Seite und Häuser zur linken Seite bietet perfektes Terrain für Polizeiwillkür. Und so kam es auch. Schon zu Beginn waren überall vermummte Leute zu sehen, der Dresscode klar in schwarz. Die halbherzigen Aufrufe, erst nach Ablegen der Kluft könne die Demo starten, waren nur für die ersten Reihen hörbar. Weiter hinten kamen solche Wünsche nicht an. Während dessen stolzierten die ersten Bulleneinheiten demonstrativ am Rande der Demo entlang. Es dauerte nicht lange und die erste Person fiel auf diese Maskerade rein. Eine Fahnenstange traf den ersten Bullen am Helm, die Einheit hielt und wartete nun auf das Signal zum Knüppeln. Die Leute reagierten daraufhin auffällig gelassen. Trotzdem kam kurz darauf das Signal, und die Bullen knüppelten sich eine erste Schneise in die Demo. Die altbewährte Leberwurst-Taktik (in die Mitte reinstechen, damit aus beiden Enden herausgepresst werden kann) kam zum Einsatz, und erste Panik machte sich breit. Leute kletterten die Mauer hoch bzw. wurden von oben stehenden Leuten hochgezogen. Als auch ich oben ankam, war nur ein schmaler Gehweg verfügbar, bevor es wieder einige Meter herunter ging. Zu diesem Zeitpunkt dachte ich, dass nun die Demo getrennt ist, wir nicht laufen können und die Bullen somit ihr Ziel erreicht haben. Aber denen reichte es noch lange nicht. Wasserwerfer schossen gezielt auf den schmalen Gehweg, während von beiden Seiten mehrere Bullen auf alles einschlugen, was sich eh nicht mehr bewegen konnte. Die Panik war endgültig. Niemand wollte in der ersten Reihe sein und Knüppel abkriegen, so dass ein allgemeines Gedränge um die hinteren Plätze ausbrach. Glücklicherweise standen die ersten Personen unterhalb der Mauer und fingen die Menschen auf. Ich denke, der solidarische Umgang der Leute war letztlich ausschlaggebend, das niemand zerquetscht oder anderweitig zu Tode gekommen ist. Unten angekommen sortierten sich die ersten Gruppen. Die Bullen schienen kein Interesse an Festnahmen zu haben und waren nur auf nackte Gewalt aus. Zunehmend liefen die Leute in Richtung Innenstadt, woraufhin es das erste Mal im größeren Stil brannte. Am Abend folgte dann noch eine größere Demo. Auch hier gab es erste Auseinandersetzungen. Ein Vorgeschmack auf den darauf folgenden Tag.
Um 7 Uhr starteten viele Aktionen, für alle war was dabei. Interventionistische Linke organisierten Treffpunkte zur Blockade bestimmter Routen, communistische Gruppen propagierten eine Hafenblockade, um die Logistik des Kapitals anzugreifen, und autonome Gruppen wollten Krawall. Erstere lieferten sich Auseinandersetzungen mit den Bullen, konnten etwas Unruhe im Sicherheitsapparat stiften und bekamen Bullen-Gadgets in allen Varianten zu spüren. Zweitere gelangten unbeschadet zum Hafen, konnten für einige Stunden blockieren und sogar kurze Gespräche mit Proletarisierten (über so etwas muss man sich heute ja schon freuen) kamen zu Stande. Letztere wählten den klandestinen Weg, zerstörten einige Dinge und waren wohl über die lange stressfreie Zeit verwundert. Autonome Weisheiten erwiesen sich daher auch Jahrzehnte später als richtig: ob friedlich oder militant, wichtig ist der Widerstand und dezentrale Aktionen bringen jede noch so gut sortierte Bullenstrategie zu Fall. So konnten die einen Einheiten ziehen, während die anderen den freien Raum für Zerstörung nutzten. Die einen erfreuten sich über eingehaltenen Aktionskonsens und viele Leute, während die anderen mit weniger Leuten reichlich Sachschaden verursachen konnten. Beide Seiten sind zufrieden, die Bullen sind genervt.
So ging der Morgen mit allerlei Unruhe los und die ersten Bullen beklagten sich über fehlendem Schlaf. Über den Mittag hinweg gab es immer wieder kleinere Reibereien, bevor 15 Uhr nochmal zum Generalangriff geblasen wurde. Am Millerntor trafen sich mehrere tausend Menschen in allen möglichen Farben. Das Ziel war nun die Elbphilharmonie, wo sich die G20-Prominenz mittels Hochkultur der Lüge „alle Menschen werden Brüder“ hingab. Die Wütenden und Empörten gingen einige große und kleine Straßen entlang, um schließlich über einen Hang den ersten direkten Angriff auf die Bullen zu starten. Es flog, was in solchen Momenten immer fliegt, doch die notwendige Vehemenz fehlte. Daraufhin kamen brüllende Bullen aus angefahrenen Autos gerannt, und die Masse floh den Hang wieder herunter. Festnahmen konnte ich nicht feststellen, es galt wohl wieder nur, die Masse zu verdrängen und keine langwierigen Festnahmen zu machen. Danach passierte aus dieser Situation heraus nicht mehr viel. Die Scharmützel verlagerten sich wieder einige Straßen zurück an die Elbe, und es gab das übliche Katz-und-Maus-Spiel. Die Nervosität war den Bullen anzusehen. Ständig eskalierte es irgendwo in der Stadt und alle Einheiten abseits der Messehallen waren in permanenter Bewegung. Auch klappten die ersten Bullen nervlich zusammen und mussten medizinisch betreut werden. Niemand muss Bulle sein, sorry.
Unter den Augen der seelenruhig gaffenden Anwohner bewaffnen sich die Autonomen aus der Straße. Einigen Medien und auch Politikern gefallen daher die Gaffer fast so wenig wie die Autonomen selbst. (Lol)
Am Abend nun passierte eben jener Riot, der die Debatten der nächsten Wochen bundesweit bestimmen sollte. Es begann mit langen Auseinandersetzungen kurz vor dem Schanzenviertel (gemeinhin als linkes Viertel verschrien). Wasserwerfereinsatz und trotzdem keine Ruhe. So ging es viele Minuten, wenn nicht sogar eine Stunde lang. Irgendwann der frontale Angriff einzelner Einheiten. Die Masse rennt zwei Straßen ins Viertel hinein. Kurze Verschnaufpause, es fliegt wieder was, weiter rennen. Vor der Roten Flora (linkes Theater) kam es dann erstmals zur Pause. Nur eine kleine Einheit rannte regelmäßig ein kleines Straßenstück vor der Roten Flora entlang. Es sah sinnlos aus und war es auch. Das Publikum war nur mit allen möglichen Milieus vertreten. Auf Vermummung wurde wenig Wert gelegt, und unter dem Jubel vieler Menschen flogen Dinge auf die Bullen. Eigenartig lustig das ganze Szenario. Irgendwann gaben die Bullen auf. Die Straße herunter wurden die ersten Läden geöffnet und geplündert. Eine Drogerie und eine Rewe-Filiale waren die ersten Objekte, ein erster Schritt Richtung Ökonomie der Begierden vermutlich. Die Bank indes wurde nur aufgebrochen und ramponiert. Spraydosen aus der Drogerie landeten auf einem der vielen Feuer und explodierten mit einem lauten Knall. Besonders kreative Militante bauten aus aufgebrochenen Steinen eine Mauer. Die Stimmung war ausgelassen, vom Racket keine Spur (natürlich gilt auch hier nur mein subjektiver Blick). Es ist faszinierend und komisch, irgendwie surreal, eine solche Situation im befriedeten Deutschland zu erleben. Die Plünderung des Bolle-Supermarkts in West-Berlin gilt schließlich als Gründungsmoment der folgenden 1.-Mai-Demos. Soviel Tamtam wurde und wird aus dem Tag gemacht. Nun also nicht nur eine Plünderung, sondern gleich mehrere. Ich glaube, viele Leute waren einfach überrascht von den 3 Stunden temporäre autonome Zone. Im Nachgang sind viele Ideen da, was nicht alles hätte passieren müssen, um diese tatsächlich historische Chance zu nutzen. Stadtweit wären Angriffe möglich gewesen. Der sprichwörtliche Funke hätte einen Flächenbrand entfachen können, an Zielen mangelt es nicht. Auch eine Verteilung der erworbenen Waren erscheint realistisch. Das Chaos der Leidenschaften war schließlich schon immer das beste und wirksamste Mittel gegen die Ordnung der Politik. Diese chaotischen Momente eröffnen Möglichkeiten, aus welchen wiederum auch theoretische Debatten entfacht werden können bzw. müssen. Aber es lässt sich eben wieder diskutieren und zwar nicht nur im luftleeren Raum, sondern im Handgemenge. Es können sinnvolle, weil wirklichkeitsnahe Debatten folgen. Sowas motiviert, betrifft unmittelbar das eigene Leben und folglich werden viele Leute angesprochen. Phrasen gelten maximal als zu erreichende Ziele, denn der wirkliche Bezug besteht. Ja, was nicht alles hätte passieren können…
Sicherlich klingt vieles arg interpretiert und herbeigesehnt. Der kurz freigewordene Raum wurde schließlich innerhalb weniger Minuten vom Sondereinsatzkommando geräumt. So schnell war die konkrete Situation wieder Vergangenheit. Aber solche Situationen müssen als Erfahrung weitergegeben und Handlungsoptionen geschaffen werden. Gerade nicht rein destruktive Aktionen sollten in Betracht gezogen werden. Und gerade hier mangelt es vielen Militanten, die die Künste der Nadelstiche verstanden haben, aber langfristige Effekte (und wenn auch nur als Bild) vermissen lassen. Wie gesagt, die Umverteilung der angeeigneten Waren, Gebäude, Produktionsmittel etc. wäre so ein Effekt. Aber klar, gerade auf diesem Gebiet gilt der Kampf dem Alltagsverstand. Die Ideologie des heiligen Eigentums ist ungemein tief verankert. Dies machte sich gerade nach dem Knall vom Freitag bemerkbar. Putzkolonnen von Anwohner_innen machten sich bereits am frühen Morgen eines Wochenendtags daran, die Straßen zu reinigen. Aufgebrochene Steine bildeten Peace-Zeichen und natürlich durften Pflänzchen in allen Varianten nicht fehlen. Tiefe metaphysische Qualen wurden beim Anblick der Zerstörung von Waren oder anderer Beschädigungen von „Privateigentum“ bekundet, wenn doch der Tod lebender Wesen meist nur rationales Achselzucken nach sich zieht. Die Presse war selbstverständlich sofort vor Ort und interviewte fassungslose Menschen. Der kurze Aufschrei über die Räumung der Camps und die Polizeigewalt am Donnerstag verpuffte vollends. Aus prügelnden Bullen wurden kurzerhand Helden. Die Bild-Zeitung organisierte Spenden für jeden verletzten Bullen (die tatsächliche Anzahl setzte sich mehrheitlich aus Krankheitstagen vor dem Gipfel und ins eigene Reizgas rennenden Trotteln zusammen), um einen Urlaubstag zu ermöglichen. Wenn von Politik und Presse die Polizei ohne Differenz zu Heldentum stilisiert wird, dann ist jeglicher sachliche Dialog umsonst. Was ebenso folgen musste, ist die ewig wiederkehrende Debatte um das Gespenst „Linksextremismus“. Bundesweit sollten linke Zentren geschlossen werden. Gerade in Wahlzeiten war es ein gefundenes Thema für all die Law-and-Order Fans.
Epilog
Nun, fast zwei Monate später, ebbt die Stigmatisierung langsam ab. Der Wahlkampf ist noch im Gang, aber andere Themen beherrschen die Debatten. Vor kurzer Zeit raste ein Faschist im US-amerikanischen Charlottesville in eine Menge von Antifas. Es starb eine Person, weitere wurden schwer verletzt. Im Nachgang äußerte der Präsident Donald Trump eine allgemeine Verurteilung jeglicher Gewalt. Die Medien sind hierzulande erzürnt, und auch militante Antifas des Geschehens werden als aufrechte Personen für Freiheit und Emanzipation betrachtet. Warum aber dieser Exkurs? Es widert mich an (aber amüsiert auch), wenn dieser Sprech hierzulande kritiklos ebenso stattfindet. Hiesige Medien und Politik sind sich einig: Militante Auseinandersetzungen seien immer zu verurteilen und den Involvierten wird jegliche Logik für ihr Handeln abgesprochen. Was anderswo zu heldenhaftem Freiheitskampf erklärt wird, ist hierzulande immerzu das Werk von Kriminellen, die unfähig sind, Gespräche zu führen, geschweige denn überhaupt denken zu können. Es ist so ungemein lächerlich, aber leider alltägliche Praxis. Die Gewaltdebatte nach dem G20 ist Schein ohne Sinn und Verstand.
Auch durften die üblichen Distanzierungen aus dem vermeintlich eigenem Lager nicht fehlen. Sozialdemokraten sahen eine „linke Gesinnung“ grundsätzlich besudelt und für andere waren es auch nur unpolitische Kriminelle. Sich besonders schlau fühlende Leute kamen mit den immer gleichen Erklärungsmustern, dass die Gewalt letztlich den Sicherheitsaufwand bestätigt habe und man darüber hinaus mit solchen Aktionen besonders autoritären Repräsentanten (man hat es hier ausschließlich mit maskulinen Gestalten zu tun) der G20 einen Bärendienst erwiesen hätte. Schließlich fühlen die sich nun bestätigt, wenn sie gegen jeden kleinen Protest im eigenen Land mit voller Härte vorgehen. Es ist das schon angesprochene Spiel mit den auf dem Papier festgehaltenen Rechten doch zufrieden sein zu müssen, ohne diese auszuloten. Der gewaltsam eingerichtete Rahmen des Staates solle nicht überschritten werden. Dabei setzen solche Momente des Aufbegehrens vermutlich viel hoffnungsvollere Zeichen an Gefährt_innen in anderen Teilen der Welt als massenhafte Demonstrationen mit viel Samba und kreativer Langeweile, jedoch ohne nennenswerte Nachwirkungen. Zumal es schlichtweg ein würdeloses Auftreten darstellt, wenn jede Bewegung bei Bullen erbettelt wird.
Ich glaube, dass die Tage in Hamburg (in ihrem engen Rahmen) erfolgreich waren. Es wurde sich im großen Stil über das von Sicherheitskreisen gewünschte Szenario solidarisch hinweg gesetzt und der üblichen Spaltung in friedlich und militant zumindest bis Samstag keine Chance gegeben. Für gewöhnlich gefällt sich die (radikale) Linke in der Rolle des Opfers und kennt schon längst keine andere Situation mehr. Dabei ist eine sich wehrende Masse sehr viel inspirierender als das Opfer von Gewalt der Polizei oder der Verhältnisse. Die Proteste gegen Arbeitsgesetze vergangenes Jahr in Frankreich erlebten leider keinen umfassenden Sieg. Was jedoch über Monate hinweg kontinuierlich stieg, war die Anzahl der so genannten Casseurs, also des antagonistischen Blocks. Sich nicht von Bullen und deren Spielregeln einschränken zu lassen, ermöglicht Horizonte. Und wenn es auch nur ein reformistischer Sieg war – ohne die Beteiligung dieses Blocks wäre es womöglich wieder an den langweiligen Gesprächen unterschiedlicher Repräsentant_innen vorab schon gescheitert.
Unterm Pflaster liegt der Strand (der musste sein)
Wir werden nicht wissen, welche Gespräche nun für die Absicherung der kommenden Gipfel stattfinden. Vermutlich wird er wieder in provinziellen Gegenden stattfinden. Ein kleiner Sieg insofern, als das eben nicht das komplette Wunschbild der G20 zustande kommt. Doch natürlich wäre eine Fokussierung auf Gipfel lächerlich und sie können nur als großes Happening verstanden werden. Die Gegenstimmen sind aber kostbar und vielleicht werden die Chancen beim nächsten Mal besser genutzt. Bis dahin sollte aber der alltägliche Kampf um ein würdevolles Leben im Vordergrund stehen. Hamburg, im Juli 2017 hat bei der Wahl und dem Sinn der Mittel Mut gemacht.