Eric Ostrich
Schwere Verschwörung
Ursprünglich bei Olaf Arndt erschienener Bericht einer Veranstaltung zum Konspirationistischen Manifest im Jockel.
Außerdem hier zwei der vier Vorträge auf dieser Veranstaltung, ein weiterer Kommentar sowie drei bei dort ausliegende Zettel: Die Übersetzung des Vorworts zur englischen Ausgabe, ein Auszug aus der Selbstbiographie von Norbert „Knofo“ Kröcher und der Stimmzettel zur Umfrage bezüglich des Solizwecks.
Der nunmehr schon über drei Jahre währende Angriff der neuen Gegenwart auf die bisherige Zeit hat tiefe Spuren hinterlassen. Was man gewohnt war, ohne groß darüber nachzudenken, als Gesellschaft hinzunehmen und unausgesprochen vorauszusetzen, hat schwere Verwerfungen, Spaltungen, Zerstörungen, Neuformierungen erfahren, mittels derer die jeweils Einzelnen sich nun monadisch in einer zur Kenntlichkeit gebrachten Welt der Entfremdung, Asozialität und der Antagonismen zurechtzufinden haben, die nun, nach außen gekehrt, ihnen kein kritischer Theoretiker mehr zu erklären hat. Sie finden sie vor.
Dies war nun durchaus auch der Veranstaltung anzumerken, die am Freitag, 2. Juni, im Biergarten Jockel am Rande von Kreuzberg abgehalten wurde. Als Anlaß genommen wurde das Konspirationistische Manifest, das übrigens parallel zur Veranstaltung nunmehr auch in den USA und Großbritannien veröffentlicht wurde, versehen mit einem Vorwort (* siehe unten), das wiederum auch schon auf Deutsch vorliegt. Das Buch wurde von einer aus Frankreich kommenden anonymen Autorengruppe verfaßt, die selbst darum bemüht ist, sich in der in Windeseile umgestürzten Welt (in der sie mit Verwunderung feststellen, daß sie 2020 auf den Straßen plötzlich nicht mehr ‚revolution‘ sondern ‚liberté‘ gerufen haben) zurechtzufinden und die jüngsten Ereignisse in einen geschichtlichen, vor allem auch geistesgeschichtlichen, staatswissenschaftlichen Zusammenhang einzuordnen, in dem über die letzten Dekaden mittels Psychologie, Bio- und Hirnchemie, Informatik, Nanotechnologie und nicht zuletzt Militär, Geheimdiensten, Aufstandsbekämpfung nach und nach eine die Welt umspannende praktische Antwort auf die ‚Widersprüche des Spätkapitalismus‘ durchgesetzt wurde. Im Covid-Gesamtkunstwerk durfte diese ihren ersten wahrhaft großen Auftritt bekommen, dem in Variationen die Da Capos folgen werden. Oder: „Auf die Vorwäsche folgt in aller Regel die Hauptwäsche“, wie an diesem Abend formuliert wurde. Und all dies wurde implementiert inklusive auf willige Bereitschaft stoßender Integration alles Linken. Wie es zu diesem brutalen misanthropischen Aberwitz kam, versucht das Manifest nachzuvollziehen, nachzuzeichnen und damit einen Anfang der Erkenntnis zu setzen, dessen Folgen und Ende noch ganz im Ungewissen bleiben.
Dies war nun in etwa auch die Atmosphäre, die bei der Jockel-Veranstaltung zu vernehmen war: Die fünf Beiträge, die vom Podium kamen, waren allesamt kurz, zurückhaltend, tastend, könnte man sagen. Keine vehementen Kampfansagen, keine mit schwerer Miene vorgetragenen theoretischen Ausführungen, sondern eher Mitteilungen – zum Beispiel über Denunziationen ehemaliger Genossen gegen ihre angestammte Arztpraxis (samt folgender Praxisdurchsuchungen und Prozesse), da diese sich nicht an den Maskenirrwitz halten wollten; oder schüchterne Erinnerungen an die Maschinenstürmer, deren Zeit nunmehr, angesichts eines feindlichen Projekts zur Konstruktion eines neuen Menschen im Sinne und mittels der kybernetischen Herrschaft, vielleicht wieder gekommen ist, um – wer weiß? – einen ersten Funken zu einer umstürzlerischen Bewegung in einer ungewissen Zukunft zu geben; oder nachdenkliche Überlegungen über das, was denn nun die Seele sei, vielleicht „eine bestimmte Form, lebendig zu sein“, und ein Appell, „den nötigen Abstand von all dem zu gewinnen, was unsere Seelen so zurichtet, daß wir uns dem Gesetz des Kapitals freiwillig unterwerfen, um uns aus dieser Distanz die nötige Luft zum Atmen und Denken zu verschaffen“ (Überlegungen, die, was eben heute gar nicht mehr überrascht, von einem bislang eher der intervenierenden Linken zuzurechnenden Vortragenden angestellt wurden); ergänzt von einer anderen Podiumsteilnehmerin mit der Vermutung, daß wir nunmehr auf ganz anderem Niveau „nicht mehr Herr im eigenen Hause“ seien und die Menschen, frei nach Freud und wörtlich nach John Cleese, „will give up everything except their suffering“.
Dies alles also bewußt bescheiden, sich praktischen Erwägungen weitgehend enthaltend (sieht man vom Verweis des Moderators des Podiums auf die in einigen Straßen „generalsstabsmäßig improvisierten Angriffe“ an Silvester in Berlin auf die Polizei, die als beginnende Rache für die Ausgangssperren intepretiert wurden), wie sich heranpirschend an eine Aufgabe, deren Dringlichkeit man zwar kräftig spürt, deren Inhalt man aber noch kaum erahnen kann.
Und all dem lauschte konzentriert und ruhig ein Publikum von immerhin deutlich mehr als hundertfünfzig Leuten, die dann jedoch, als der Podiumsteil beendet war, sich zunächst im Saale sehr mitteilungs-, beitrags- und gesprächswillig zeigten, was sich dann noch über Stunden hinweg drinnen wie draußen im Biergarten fortsetzte. Hielt man die Ohren ein wenig auf, war nicht zu überhören, daß hier allerlei Menschen zusammengekommen waren, die sich noch vor wenigen Jahren wahrscheinlich nicht mal von hinten angesehen hätten und nun aber sogar bisweilen über die hergebrachten Grüppchenspaltungen hinweg ein paar erste vielleicht Orientierung suchende Wörter tauschten, inklusive einiger altgedienter „Häuptlinge, die sich unsicher auf die Suche nach Indianern begaben“, wie ein zum Anarchischen neigender iberischer Besucher des Abends formulierte.
Alles ein Anfang eben? Vielleicht. Moment eines Bruchs mit der gesellschaftlichen Welt, ähnlich dem im Manifest erinnerten Bruch des vormarxistischen Lukacs’ angesichts des 1. Weltkriegs? Vielleicht. Vielleicht aber auch nur eine Zusammenkunft genesungswilliger (Post-/Prä-)Traumatisierter. „The future is unwritten“ (Laurenz von Arabien beziehungsweise Joe Strummer).
Angemerkt sei noch zur Vollständigkeit und für die Chronik, auch wenn das heute keinen Neuigkeitswert mehr hat, daß von Seiten der Linken – in diesem Fall der Partei dieses Namens, dann der anderen mit dem Kürzel SPD und von diversen Einzelnen, die in ihrer Begriffsverwirrung sich Antifaschisten nennen, ansonsten aber sehr gerade denken – allerlei Anstalten unternommen wurden, die Veranstaltung zu verhindern – allerdings, auch dies bemerkenswert, kaum öffentlich, sondern hinterrücks mittels ökonomischer und moralischer Erpressung. Daß ihnen dies nicht gelungen ist, kann man vielleicht bis auf Weiteres als positives Moment nehmen. Daß in dem Ganzen auch nicht im Entferntesten ein ‚2.-Juni-Spirit‘ hauchte, ist nicht überraschend und wohl auch gut so. (An eine alte Bedeutung wurde im Übrigen angenehm zurückhaltend erinnert mit einem Auszug aus der Autobiographie Norbert ‚Knofo‘ Kröchers, der als Flugzettel auslag.)
8. Juni