Philipp Schweizer
»Das Gefühl war großartig.«
Buchrezension von ‚Wir sind ein Bild der Zukunft – Auf der Straße schreiben wir Geschichte‘. Erschienen in einem Magazin der Falken.
Am 6. Dezember 2008 wurde der 15-jährige Anarchist Alexandors Grigoropoulos (Alexis) im alternativ geprägten Athener Stadtteil Exarchia von einem Polizisten erschossen. In Griechenland brach ein Aufstand los, in dem die Beteiligten Rache für Alexis und für sich selbst nahmen.
Wenige Monate später berichtet Katerina, eine Schülerin aus dem 500 km entfernten Thessaloniki: »Der Dezember war erstaunlich. Alle waren auf der Straße. […] Ich dachte, die Revolution kommt! Wirklich, das hab’ ich gedacht! Da war so viel Energie, alles was normales Leben war, war vorbei und das ganze Geschehen spielte sich auf der Straße ab.« Es sei gewesen, »als ob die Zeit angehalten hätte. Das Gefühl war großartig.«, berichten zwei Anarchistinnen.
Aber nicht nur Anarchist*innen und linke Aktivist*innen spürten, dass etwas anders war. Unter den Menschen breitete sich schlagartig die Erkenntnis aus, »dass nichts so bleiben würde, wie es war«. »Kinder, die nicht mal von ihrer Playstation ablassen würden, um runter zum Strand zu laufen, fuhren vierzig Kilometer […] und nahmen an den Protesten teil. So wichtig war diese Sache.«
Um »diese Sache« geht es im Buch »Wir sind ein Bild der Zukunft – auf der Straße schreiben wir Geschichte – Texte aus der griechischen Revolte «. Die Herausgeber*innen legen mit ihm keine Analyse oder »offi zielle Geschichte« der griechischen Revolte vor, sondern versammeln in dem Buch »Fragmente, Gerüchte, Mythen und Erzählungen«: Sie dokumentieren Tagebucheinträge, Interviews, kurze Stellungnahmen, Flugblätter und einige längere Artikel aus und um den Aufstand.
Neben einer allgemeinen Einführung in die Geschichte sozialer Kämpfe in Griechenland im 19. und 20. Jahrhundert versammelt das Buch viele Dokumente zum Aufstand 2008/2009. Im September 2009 schrieb jemand: »Diese alte Stadt [Athen] hat ihren Weg zur Normalität fortgesetzt […] nichts hat sich verändert: Die Uhren dieser Welt klingeln uns um 6.30 Uhr morgens aus dem Schlaf, hier wie überall anders.«
Doch obwohl sich nichts verändert hat, ist doch alles anders, wie es nur eine Seite später heißt. »In der Nacht gesellschaftlicher Apathie sind wir wach«, die Erinnerung an den Moment, in dem die Situation plötzlich offen war und die Menschen begannen, ihre Welt bewusst zu gestalten, wirkt noch nach. Obwohl die Aufständischen vom Dezember 2008 in ihre Wohnungen zurückgekehrt sind, hält das »Gefühl vom Ende einer Ära« an. Die Aufstände, da sind sich alle Beteiligten sicher, werden erneut losbrechen, um die alte Welt zu beseitigen: »Wir warten, wir warten auf den richtigen Moment…«, heißt es im letzten Dokument des Buches und »Die Geschichte wird fortgesetzt…« im Nachwort der Herausgeber*innen.
Dass es sich um eine Sammlung von »Bildern und Erfahrungen dieser zwei Jahre« handelt, macht sowohl die große Stärke, wie auch den großen Mangel des Buches aus. Es ermöglicht einen einmaligen Einblick in einen Aufstand, der begann, die Massen zu ergreifen und sich insofern von der Mobilisierung und dem Aktivismus der immer gleichen linken Protagonist*innen unterscheidet. Neben allerlei Pathos finden sich vor allem in den Berichten über konkrete Aktionen, Organisationsversuche und Erlebnisse eindrucksvolle Beispiele davon, wie Aufständische in ihrer »revolutionären Praxis« zugleich sich selbst und die Welt verändern. Die Berichte zeugen davon, wie die Menschen plötzlich beginnen, sich für die Gesellschaft zu interessieren, in einem Moment, in dem sie diese nicht mehr nur passiv erdulden müssen, sondern beginnen, sie selbst zu gestalten.
Das Buch versammelt so eine Menge Material, anhand dessen nicht nur der Aufstand in Griechenland verstanden werden kann, sondern das eine Relevanz besitzt für die Formulierung einer revolutionären Praxis. Doch das Buch sammelt eben nur. Es liefert selbst keine Analyse der Ereignisse. Und auch wenn in den einzelnen Flugblättern, Texten und Interviews (wohlbemerkt: neben sehr vielen schlechten Analysen der Situation und mangelhafter Kritik an Staat und Kapital) viele Ansätze eines Verständnisses für den Aufstand und die gesellschaftliche Situation zu finden sind, steht eine kritische Ausarbeitung noch aus.
Dies müssen die Leserinnen und Leser leisten. Wenn sie nicht bloß die »Erzählungen und Bilder« konsumieren und als Fakten hinnehmen, die Widersprüche der Aufständischen nicht überlesen oder glätten, sondern durchdenken, kann das Buch einen wichtigen Beitrag zur Formulierung einer Kritik der kapitalistischen Gesellschaft auf der Höhe der Zeit leisten.
Philipp Schweizer, KV Erfurt
Quelle: http://www2.wir-falken.de/uploads/aj_1_2012.pdf
A.G. Schwarz, Tasos Sagris & Void Networg (HG.): Wir sind ein Bild der Zukunft – Auf der Straße schreiben wir Geschichte, Edition Provo Bd.1, LAIKA-Verlag, Hamburg 2010, 366 Seiten, zahlreiche Abbildungen, 24,90 Euro